Bürokratie Wohnung für Geflüchtete in Dresden steht fast ein Jahr leer
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16. Oktober 2023, 14:43 Uhr
Der Wohnungsmarkt in Sachsen ist angespannt. Insbesondere bei der Unterbringung von jungen, unbegleiteten Geflüchteten warnten erst kürzlich Landkreise davor, sie würden kaum noch Wohnplätze finden. Die Radebeuler Sozialprojekte hätten in Dresden genau dafür eine renovierte Wohngruppe. Doch seit fast einem Jahr steht diese leer, weil die Freigabe durch das Jugendamt und die Bauaufsicht auf sich warten lassen. Der Träger ist frustriert und hält die Prioritäten der Behörden für falsch gesetzt.
Manchmal erzählen leere Räume mehr Geschichten als vollgestellte. Die leeren Wohnungen von Unternehmer Felix Keil erzählen viel davon, wie Behörden in Deutschland funktionieren und warum politische Entscheidungen nicht immer die gelebte Praxis berühren.
Keil ist Geschäftsführer der Radebeuler Sozialprojekte, einem privaten Jugendhilfeträger. Eine ihrer Wohnungen, das "L26", liegt in Dresden auf der Leipziger Straße in der Nähe des Alten Schlachthofs.
133 Quadratmeter ist die zweckmäßig eingerichtete Wohnung groß. Die Zimmer sind mit Einzelbett, Tisch, Stuhl, Kleider- und Bücherregal sowie einem Nachtisch ausgestattet – alles im weißen Ikea-Pressspan-Look.
Große, renovierte Wohnung ohne Bewohner
Hier sollen mal vier minderjährige Geflüchtete unterkommen, die ohne Eltern oder Erziehungsberechtigte nach Deutschland gekommen sind. Sie brauchen mehr Betreuung als erwachsene Geflüchtete. Mehr als vier Personen im Wohnhaus sind nicht genehmigt worden, obwohl theoretisch Platz für mehr wäre.
"Groß, hell, zentral gelegen", sagt Keil über die Wohnungen, die ihm schon seit langer Zeit Kopfzerbrechen bereiten. "Es gibt vielleicht den ein oder anderen, der träumt von so einer Wohnung. Und ich kann sie nicht belegen."
Vergangenes Jahr wurde die Wohnung komplett renoviert, erzählt der Geschäftsführer. Danach habe der Träger beim Landesjugendamt eine Betriebserlaubnis erfragt. Ein übliches Verfahren, bei dem die Hygiene, der Brandschutz, das allgemeine Konzept und das Personal überprüft werden.
Brandschutz wurde viermal geprüft
Seit 2018 betreuen die Radebeuler junge, unbegleitete Geflüchtete aus Ländern wie Syrien, Afghanistan oder Eritrea. Auch in Dresden besitzen sie dafür schon Wohnungen. Bei der Wohnung auf der Leipziger Straße forderte das Jugendamt aber eine sogenannte Nutzungsfreigabe durch die zuständige Bauaufsichtsbehörde, erinnert sich Keil.
"Diese Nutzungsfreigabe hatte für unser Projekt zur Folge, dass wir eine Architektin brauchten, die erstmal einen Bauantrag gestellt hat." Viele weitere Prüfungen und Kontrollen sollten folgen. Das Gebäude wurde vom Bauaufsichtsamt später als Sonderbau mit speziellen Anforderungen eingestuft, die Feuerwehr erstellte einen Prüfungsbericht. Mittlerweile sei viermal der Brandschutz überprüft worden, sagt Keil. Das alles verschlingt Zeit und Geld.
Aber auch rund 12.000 Euro und elf Monate später gibt es noch keine Nutzungsfreigabe. Eigentlich liege jetzt alles vor, aber es müssen noch weitere Entscheidungsfristen abgewartet werden. Dieses Jahr werde es wohl nichts mehr, schätzt Keil ein.
"Es ist sehr frustrierend", sagt er. "Vor allem weil auf der einen Seite darüber gesprochen wird, dass die Kapazitäten am Ende sind. Wir erleben aber in der Praxis, dass die bestehenden Kapazitäten gar nicht erst ausgeschöpft werden."
Landkreise warnen vor einer Überbelastung
Dass in Sachsen der Bedarf an Wohnraum gerade für junge Geflüchtete größer ist, als der Markt aktuell herzugeben scheint, ist unbestritten. Im September wandten sich mehrere Landkreise hilferufend an die sächsische Regierung, weil es an Unterbringungsmöglichkeiten und Personal fehle.
Von Januar bis September 2023 sind im Freistaat dem Sozialministerium zufolge 1.959 unbegleitete, minderjährige Geflüchtete vorläufig in Obhut genommen worden. Davon blieben 1.002 in Sachsen. Im Vergleich zum Vorjahreszeitraum stieg die Zahl der Erstaufnahmen um 81 Prozent.
Es ist sehr frustrierend. Vor allem weil auf der einen Seite darüber gesprochen wird, dass die Kapazitäten am Ende sind.
Das Sozialministerium unter Petra Köpping (SPD) reagierte bereits. Das Ministerium verlängerte und erweiterte im Oktober die seit längerem geltende Absenkung von Fachstandards bis Ende 2025. Damit sollen Fachpersonal und Unterkünfte leichter eine Genehmigung erhalten.
So dürfen nun Unterkünfte um bis zu 20 Prozent überbelegt werden und es besteht die Möglichkeit, dass sie eine vorzeitige Betriebserlaubnis erhalten, bis alle Prüfungen durch sind. Weil die Wohnungsnot so groß ist, können zudem männliche, unbegleitete Geflüchtete ab 16 Jahren auch in Unterkünfte für Erwachsene unterkommen.
Sozialministerium und Bauaufsicht halten sich an geltendes Recht
Warum steht das "L26" der Radebeuler Sozialprojekte dann trotz dieser Situation immer noch leer? Eine Antwort könnte sein, dass Gesetze und Regelungen keinen festgeschriebenen Leitfaden enthalten, sondern interpretiert werden müssen.
Sowohl das Sozialministerium als auch das Dresdner Bauaufsichtsamt erklären auf Anfrage von MDR SACHSEN, dass sie sich im Fall der Radebeuler Sozialprojekte an geltendes Recht gehalten und sich am Prüfungsverfahren auch nichts geändert habe.
Eine vorläufige Betriebserlaubnis sei zudem schwierig umzusetzen, da die Gefahr bestünde, dass bei einem später möglichen Entzug der Erlaubnis die Kinder und Jugendlichen "von einem Moment auf den nächsten obdachlos" wären.
Was ist ein Sonderbau?
Einer der Hauptgründe, warum die Prüfung der Wohnung an der Leipziger Straße viel Zeit in Anspruch nimmt, ist die Einstufung als Sonderbau. Laut Sächsischer Bauverordnung sind Sonderbauten "Anlagen besonderer Art und Nutzung".
Darunter fallen Gebäude, die von mehr als 100 Personen genutzt werden: Schulen oder Pflegeeinrichtungen für Behinderte oder Unterkünfte für Personen, die im Brandfall nicht eigenständig die Flucht ergreifen können oder Anlagen, in denen Stoffe mit Explosionspotenzial gelagert werden.
Aber auch "sonstige Einrichtungen zur Unterbringung von Personen und Wohnheime" fallen unter die Definition. Inwieweit diese breite Begriffserklärung auf ein Gebäude zutrifft, obliegt letztendlich den einzelnen Bauaufsichten und Prüfern.
Beim "L26" befinden sich im Erd- und erstem Obergeschoss Bürogebäude des Jugendhilfeträgers und auf der zweiten Etage eine Wohnung für eine ambulante Betreuung. Dann gibt es noch gewöhnliche Mieter im Haus und im Dachgeschoss schließlich die angedachte Wohnung für vier junge Geflüchtete.
Eine ungewöhnliche Einstufung?
"Wären die Jugendlichen lediglich wie eine Wohngemeinschaft in einer Wohnung untergebracht, wäre es kein Sonderbau. Vorliegend handelt es sich jedoch um ein 'Gesamtpaket' mit Betreuung vor Ort und Räumen für eine ambulante Einrichtung", teilt das Dresdner Bauaufsichtsamt mit, das auch nach einer Überprüfung auf Nachfrage von Keils privater Jugendhilfe bei seinem Entschluss bleibt.
Felix Keil sagt dazu, dass er keine Probleme gehabt hätte, wenn er die Wohnung einfach an eine Familie vermieten würde. "Wenn ich aber vier sportliche 17-Jährige hier unterbringe, dann habe ich Bedingungen wie bei Wachkomapatienten."
MDR SACHSEN sprach mit einer weiteren Person, die als Externe Teil des Prüfverfahrens ist und die Entscheidung des Bauamts nicht nachvollziehen kann. Aus Angst vor beruflichen Konsequenzen wollte sich die Person nicht namentlich äußern. Ihren Aussagen zufolge ist die Einstufung als Sonderbau aber höchst ungewöhnlich.
Nachträgliche Auflagen möglich
Ein Sonderbau bedeutet demnach eine aufwendige Überprüfung des Brandschutzes und der Statik. Das komplette Wohnhaus muss dann vermessen und verbaute Materialien untersucht werden.
In einem Gesetzeskommentar zur sächsischen Bauverordnung, das von erfahrenen Juristen und Architekten verfasst wurde, heißt es, dass Wohnungen, in denen Geflüchtete unterkommen, üblicherweise keine Sonderbauten sind. Nur wenn sehr viele oder vor allem hilfsbedürftige Personen dort leben, komme eine solche Klassifizierung in Frage.
Auch in Bezug auf die Nutzungsfreigabe, die das Jugendamt beim "L26" verlangte, gibt es keine hundertprozentige Regelung. Im entsprechenden Abschnitt des Kinder- und Jugendhilfegesetzes (§ 45 SGB VIII) steht davon nichts, aber eine Erlaubnis "kann mit Nebenbestimmungen" und "nachträglichen Auflagen" versehen werden. Man könnte auch sagen: Auslegungssache.
Jugendamt Meißen: Kritik nachvollziehbar
Felix Keil betont, dass Prüfungen bei Unterkünften für Geflüchtete trotz mancher Behördenstreitigkeiten nötig seien. "Wir sind für Regelungen, aber die müssen auf ein normales, qualitatives Maß zurückgeschraubt werden", sagt er. Der Geschäftsführer vermutet hinter den bürokratischen Hürden falsche Schlüsse aus der Vergangenheit.
Als schon in den Jahren 2015 und 2016 viele Menschen vor Krieg und Vertreibung nach Deutschland flohen, habe es viele schwarze Schafe gegeben, die Baracken angemietet hätten. Jetzt werde überkorrekt gehandelt, meint Keil. Zudem hätten Behörden seiner Meinung nach zu wenige Kenntnisse darüber, welche Folgen sich aus Beurteilungen wie einem Sonderbau für die öffentlichen Träger ergeben.
Stefan Sári, Jugendamtsleiter im an Dresden grenzenden Landkreis Meißen, kann die Kritik von Felix Keil nachvollziehen. Schwierig sei es immer, wenn Jugendämter gesetzliche Maßstäbe unterschiedlich interpretieren, "weil unterschiedliche Personen die ansonsten gleichen Regelungen verschieden auslegen, respektive anwenden", sagt er.
"Das System Jugendhilfe ist an seinen Grenzen"
Insgesamt hat sich seiner Wahrnehmung nach die Situation durch die Absenkung der Fachstandards aber schon verbessert. Im Landkreis Meißen gibt es an vier Standorten 30 Plätze für junge, unbegleitete Geflüchtete.
Die Wohnungen sind damit zu 13 Prozent überbelegt. "Wir haben nach wie vor weiteren Bedarf an Infrastruktur und Betreuung. Leider finden wir aus unterschiedlichsten Gründen kaum noch bis keine neuen Träger mehr, die sich dieser Aufgabe annehmen", sagt Sári.
Weitere gesetzliche Erleichterungen der Fachstandards stellt der Jugendamtsleiter in Frage. Denn das eigentliche Problem bestünde im fehlenden Personal und der Infrastruktur.
"Solange nicht von allen mit voller Kraft lösungsorientiert an die Thematik herangegangen wird, sehe ich tatsächlich wenig Chancen, den dynamisch steigenden Bedarfen durch Infrastruktur und Betreuung gerecht werden zu können", sagt er und konstatiert: "Das System der Jugendhilfe ist an seinen Grenzen."
Auch bei zweiter Wohnung langes Prüfverfahren
Felix Keil wünscht sich, dass er Nutzungsfreigaben auch nachträglich nachreichen kann, wenn Wohnungen die ersten Prüfschleifen erfolgreich bestanden haben. Von der derzeitigen Situation profitiere niemand. "Wir haben 13 Plätze in Planung, davon sind drei belegt. Es ist ein wirtschaftliches Risiko, hier eine Wohngruppe komplett freistehen zu lassen, deswegen ist das für uns ein absolutes Hemmnis", sagt er.
Solange nicht von allen mit voller Kraft lösungsorientiert an die Thematik herangegangen wird, sehe ich tatsächlich wenig Chancen, den dynamisch steigenden Bedarfen durch Infrastruktur und Betreuung gerecht werden zu können.
Die Radebeuler Sozialprojekte warten indes auch seit mehreren Monaten bei einer zweiten Wohnung auf der Meußlitzer Straße in Dresden auf die behördlichen Freigaben. Hier sollen zwei Jugendliche unterkommen. Büroräume gibt es im Haus aber nicht. Zunächst habe die zuständige Bauaufsicht auch hier auf Sonderbau entschieden, erzählt Keil. Nach einer weiteren Überprüfung und Einwänden habe man sich das aber nochmal überlegt.
Dieses Thema im Programm: MDR SACHSEN - Das Sachsenradio | Regionalreport | 18. Oktober 2023 | 13:00 Uhr