Eine Frau liegt im Bett und im Vordergrund ein Wecker.
Warum soll man sich morgens aus dem Bett quälen für den Job, der wenig mehr einbringt als künftiges Bürgergeld, Zuschüsse fürs Wohnen und die Kinder? Das fragten sich bei Fakt ist! aus Dresden gleich mehrere Talk-Gäste. Bildrechte: colourbox

Diskussion bei Fakt ist! Streit ums Bürgergeld: Lizenz zum Nichtsmachen?

22. November 2022, 09:28 Uhr

Über das Bürgergeld regen sich viele Menschen auf. Die einen fürchten, dass sich Arbeit und Leistung bald nicht mehr lohnen, anderen gehen die Hartz-IV-Reform nicht weit genug. Die Opposition in Berlin blockierte den Gesetzentwurf der Ampel-Koalition, jetzt diskutiert der Vermittlungsausschuss weiter. Auch bei Fakt ist! aus Dresden haben Betroffene und Politiker übers Bürgergeld gestritten. Dabei zeigten sich viele Emotionen - und auch Wissenslücken.

Kritik von Angestellten und Firmeninhaberin

MDR-Zuschauerin Marita Scholte brachte den Unmut, der seit Wochen in Debatten zum Bürgergeld zu hören ist, gleich auf den Punkt: "Wenn ich das Wort Bürgergeld höre, schwillt mir der Kamm." Für die Beschäftigte in einem Steuerbüro bei Bautzen ist das "die Lizenz zum Nichtsmachen. Ein Großteil der Bezieher machen nichts. Die wollen nicht", ärgerte sich die Angestellte.

Ich gehe seit 40 Jahren arbeiten. Ich kann meine Rechnungen nicht mehr bezahlen. Wenn ich jetzt 500 Euro Bürgergeld kriegen würde, würde ich ganz einfach zu Hause bleiben.

Marita Scholte Zuschauerin und Angestellte aus der Lausitz

Auch Fleischermeisterin Nora Seitz aus Chemnitz erzählte von ihren Mitarbeiterinnen, dass sie rechnen und abwägen würden, ob ihnen Bürgergeld nicht mehr bringen würde, als arbeiten zu gehen. "Das ist eine traurige Situation, denn Arbeit hat doch auch etwas mit Selbstverwirklichung zu tun", meinte die Lebensmittel-Handwerkerin.

SPD: Arbeit soll sich lohnen

Für den SPD-Politiker Henning Homann zeigten die Beispiele, worum es wirklich gehe: "Im Osten wird auch 30 Jahre nach der Wende immer noch 700 Euro pro Monat weniger verdient als die westdeutschen Kolleginnen und Kollegen. Ganz nebenbei müssen die Menschen im Osten zehn Tage länger im Jahr arbeiten." Im Osten müssten endlich in allen Branchen die gleichen Löhne wie im Westen gezahlt werden, verlangte Homann. Wer arbeitet, solle mehr haben als jemand, der nicht arbeitet. Laut Homann ändere die SPD das auch mit dem neuen Bürgergeld nicht.

Worum geht es eigentlich im Streit ums Bürgergeld?

  • Im ersten Jahr der Arbeitslosigkeit gilt weiterhin ALG 1 wie bisher bekannt. Im zweiten Jahr soll der bisherige Hartz-IV-Satz durchs Bürgergeld ersetzt werden.
  • Im Gesetzentwurf dazu von Arbeitsminister Hubertus Heil (SPD) steht, dass es künftig im ersten halben Jahr keine Leistungen gekürzt werden sollen, wenn ein Arbeitsloser im Jobcenter verabredete Maßnahmeteilnahmen, Bewerbungen oder Vermittlungsvorschläge ignoriert. Die Spanne gilt als "Vertrauenszeit". Unterlässt jemand mehrfach die Teilnahme an Terminen, sollen ihm bis zu zehn Prozent der Leistungen gestrichen werden, auch im ersten halben Jahr, danach bei Pflichtverletzungen 20 Prozent, später 30 Prozent.
  • Im Entwurf sind zwei Jahre "Karenzzeit" vorgesehen, in der angemessene Kosten für Miete, Heizung übernommen werden.
  • Erspartes soll nicht aufgebraucht werden, wenn es nicht um "erhebliches Vermögen" geht. Als erheblich gelten im Entwurf 60.000 Euro pro Arbeitssuchenden und 30.000 Euro für jede weitere Person in der Bedarfsgemeinschaft.
  • Selbst genutzte Grundstücke oder Eigentumswohnungen sollen nicht berücksichtigt werden.
  • Geringverdiener sollen künftig mehr von ihrem Einkommen behalten dürfen (520 bis 1.000 Euro Verdienst). Die Freibeträge sollen um 30 Prozent steigen.
  • Schüler/Studierende/Azubis sollen Freibeträge bis 520 Euro bekommen.
  • Der Vermittlungsausschuss aus Bundestag und Bundestag (je 16 Mitglieder aus beiden Gremien) berät vertraulich über die Eckpunkte.
  • Die Zeit drängt: Wenn das neue Gesetz ab Neujahr gelten soll, muss das Regelwerk bis Ende November beschlossen werden, damit die Gelder pünktlich überwiesen werden.


Quelle: dpa

Symbolbild zum Thema Bürgergeld
Bildrechte: IMAGO / IlluPics

Sicherheit oder gefährlicher Systemwechsel?

Aber: Das Bürgergeld sei gerade für die Menschen gedacht, die arbeiten, argumentierte Homann. Wenn sie mal arbeitslos werden, dass sie nicht gleich ins Bodenlose fielen und alles weggenommen bekämen. "Viele haben aus der Nachwendezeit traumatische Erfahrungen damit gemacht." Laut Homann gebe das Bürgergeld einerseits Sicherheit und bringe die Menschen in Arbeit, indem sie qualifiziert würden. Zwei Drittel der Hartz IV-Beziehenden hätten keine Ausbildung. Sie sollen sich qualifizieren, um ordentliche Jobs zu finden.

Dem wollte die Brandenburger Abgeordnete für die CDU/CSU im Bundestag, Jana Schimke, nicht folgen. Sie sieht die Solidargemeinschaft in Deutschland in Gefahr, die seit Jahrzehnten Sozialschwachen freiwillig hilft. Schließlich müsse für die Sozialpolitik "ja auch alles bezahlt und erwirtschaftet werden".

Jana Schimke
Bildrechte: imago images/Christian Spicker

Immer mehr Menschen in Deutschland haben das Gefühl, dass das, was sie täglich leisten, sich nicht mehr lohnt. Das halte ich für sehr bedenklich, wenn das Prinzip von Fordern und Fördern aufs Spiel gesetzt wird.

Jana Schimke CDU-Bundestagsabgeordnete, hat Bürgergeld abgelehnt

Was ist mit der Sanktionsfreiheit?

Für Schimke gleicht das Bürgergeld anstelle von Hartz-IV einem Systemwechsel, bei dem die Langzeitarbeitslosen "im ersten halben Jahr nicht sanktioniert werden". Dabei wisse doch jeder Arbeitsmarktforscher, dass es umso schwieriger werde eine Arbeit zu finden, je länger man arbeitslos sei.

Auch die Chefin eines Beschäftigungsträgers, der 180 Langzeitarbeitslose und Geflüchtete in Leipzig betreut, ärgert sich über dieses erste halbe Jahr beim Bürgergeld. Solveig Buder sagte: "Das hat für mich den Anschein, dass die Arbeitslosen ein halbes Jahr lang keine zumutbare Arbeit annehmen brauchen. Fördern und Leistung verlangen muss sein."

Sanktionen sind im Entwurf vorgesehen

Solche Aussagen zu einer angeblichen Sanktionsfreiheit wertete die Hartz-IV-Kritikerin Helena Steinhaus als "Fake News", denn im Gesetzentwurf, über den gerade im Vermittlungsausschuss in Berlin debattiert wird, stehen Sanktionen auch im ersten halben Jahr drin (siehe Infokasten oben).

Das bestätigte die Geschäftsführerin des Jobcenters in Leipzig, Sabine Edner. Nach dem ersten Jahr Arbeitslosigkeit mit ALG 1 soll beim Bürgergeld in den ersten sechs Monaten ein Plan mit dem Langzeitsarbeitslosen erstellt werden, wie er sich qualifizieren kann. Werden Gesprächsangebote und Treffen zu diesem Kooperationsplan zwei Mal nicht eingehalten, sind Sanktionen vorgegeben. Edner verwies auf Zahlen: Drei Prozent aller Hartz-IV-Bezieher würden aktuell sanktioniert. Und das Bürgergeld? "Der Weg ist richtig, das Fördern für Qualifizierung näher aufzugreifen."

Entsetzen übers Menschenbild

Sozialaktivitin Steinhaus ärgerte sich über das grundsätzliche Menschenbild, das von Gegnern des Bürgergelds vermittelt werde. "Wir müssen über die Menschen reden, die in Hartz-IV sind, wie wir sie unterstützen und möglichst viele in Arbeit bringen." Die Menschen, die das System ausnutzten, seien eine kleine Minderheit.

Helena Steinhaus
Bildrechte: IMAGO/Jürgen Heinrich

Dass das Bürgergeld so angefeindet und blockiert wird, schockiert mich, weil es zeigt, was für eine große Armenfeindlichkeit vorherrscht und das Unwissen darüber, was mit den Menschen los ist, die Hartz-IV beziehen. Es sind Menschen, die normalerweise einen Schicksalsschlag erlitten haben und die unsere Unterstützung brauchen.

Helena Steinhaus Hartz-IV-Kritikerin und Geschäftsführerin des Vereins Sanktionsfrei

Zur hitzigen Debatte im MDR-Studio, aber auch bundesweit, sagte der Wirtschaftswissenschaftler Prof. Ronnie Schöb: "Im Grunde machen wir aus einer Mücke einen Elefanten." Seiner Meinung nach sei das Bürgergeld nichts anderes als die Fortsetzung von Hartz IV nach ALG 1. Weil die Inflation gestiegen ist, müssten auch für die Langzeitarbeitslosen die Regelsätze hochgesetzt werden. "Vollkommen, richtig", so Schöb.

Altersvorsorge, Erbschaften, Auto gehören ja sowieso nicht zum Schonvermögen. On top 60.000 Euro? Was senden wir denn für ein Signal?

Jana Schimke Für die Union im Bundestag, Kritikerin des Bürgergeldes

Und zum Streit um das Schonvermögen (60.000 Euro Barvermögen sollen in den ersten zwei Jahren unangetastet bleiben) vertrat Schöb die Ansicht, dass es wesentlich wichtigere Diskussionspunkte gebe. Im Vermittlungsausschuss wollen die Union und FDP das Schonvermögen senken, hieß es aus Berlin.

Sozialsystemforscher: Arbeitslose haben Mitwirkungspflicht

Der Experte erinnerte an den Kerngedanken von Hartz IV, bei dem es ums Fördern und die Hilfe zur Selbsthilfe ging. Vom Wegfall der Sanktionen hält der Sozialsystemforscher nichts. Im ersten Jahr der Arbeitslosigkeit hätten Betroffene Zeit, schnell wieder in den Arbeitsmarkt zurück zu finden. "Wir haben derzeit 1,9 Millionen unbesetzte Stellen, davon 1,1 Millionen für Fachkräfte", betonte Schöb. Wer nicht qualifiziert genug sei und im ersten Jahr keine Arbeit finde, von dem verlangt "der Sozialstaat eine Mitwirkungspflicht", ein Betroffener müsse eine zumutbare Arbeit annehmen, "nicht eine, die sich der Arbeitslose wünscht".

Kritik: Viel Klein-Klein statt großer Sozialentwurf

Apropos wünschen: Der Wissenschaftler hätte sich von der Politik gewünscht, dass die einen viel größeren Wurf wagt. Einen, in dem sie "über Kindergrundsicherung, ein einheitliches Wohngeld nachdenkt und über ein Bürgergeld für die, die arbeitsfähig sind". So würden jetzt drei Ministerien "ihr eigenes Süppchen kochen, bisschen Sozialpolitik betreiben und im Klein-Klein verharren", kritisierte Ronnie Schöb zum Abschluss.

MDR (kk)

Dieses Thema im Programm: MDR FERNSEHEN | FAKT IST! AUS DRESDEN | 21. November 2022 | 22:15 Uhr

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