Eine Frau telefoniert an einem PC-Arbeitsplatz.
Tabea Waldmann hört als Leiterin der Telefonseelsorge Vogtland, wie viele Menschen keinen anderen Ausweg als Suizid zu sehen glauben. Bildrechte: MDR/Andreas Roth

Prävention Eine Familie im Vogtland will das Schweigen um Suizide brechen

22. Juni 2024, 16:00 Uhr

Über 10.000 Menschen setzen im Jahr deutschlandweit ihrem Leben selbst ein Ende - in Sachsen sind es besonders viele. Jetzt will die Bundesregierung mit einer Präventionsstrategie etwas dagegen tun. Doch das reicht nicht, zeigt die Situation im Vogtland.

Er spielt wieder Fußball, mit 72 Jahren. Doch blickt Heribert Gürtler auf den Trainingsplatz in Reichenbach, dann sieht er, wer fehlt: sein Sohn Axel, Vater von zwei Kindern, leidenschaftlicher Sportler, oft zu einem Spaß aufgelegt. Er hat sich fast auf den Tag genau vor zehn Jahren das Leben genommen.

"Hätte man noch mehr tun können? Die Frage stellt man sich eigentlich immer", sagt Axels Schwester Anja Gürtler am Rande des Fußballplatzes neben ihrem Vater. "Die Frage der Schuld steht immer im Raum." Die Reichenbacher Zahnärztin hat keine Antwort gefunden. Dafür einen Auftrag: "Es ist so wichtig, Prävention zu betreiben".

Anja Gürtler und ihr Vater Heribert versuchen das seit Jahren. Mit ihrer Selbsthilfegruppe "Angehörige um Suizid" (Agus) wollen sie Lehrer, Schüler, Polizisten und Feuerwehrleute über Risikofaktoren auf dem Weg in die Selbsttötung aufklären. Es sei ein Kampf gegen Windmühlenflügel, sagt der pensionierte Eisenbahner Heribert Gürtler. "Weil auf dem Land zu diesem Thema noch viel, viel weniger gesprochen wird und weil es noch ein größeres Tabu ist als in städtischen Regionen."

Die Frage der Schuld steht immer im Raum.

Anja Gürtler verlor ihren Bruder durch Suizid

Zu wenig Psychotherapeuten

Nun bekommen die beiden Vogtländer Unterstützung von ganz oben: Im Mai hat Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) seine Nationale Strategie zur Suizidprävention vorgestellt. Er will eine bundesweite Notrufnummer einführen sowie Online-Hilfsangebote, Aufklärungskampagnen und mehr Schulungen zu diesem Thema. "Es ist ein Anfang", sagt Anja Gürtler. "Ich freue mich riesig darüber, dass das jetzt beginnt - aber es ist grob gestrickt und da fehlen ganz viele Sachen vor allem hier auf dem Land."

Eine Mann steht auf einer Wiese vor einem Baum mit Gedenkstein.
Heribert Gürtler verlor seinen Sohn Axel durch Suizid - dieser Baum im Zentrum von Reichenbach erinnert auch an ihn. Bildrechte: MDR/Andreas Roth

Wo genau die Leerstellen sind, lässt sich im Vogtland besonders gut beobachten. Denn Sachsen hatte mit 701 Selbsttötungen 2022 wieder die höchste Suizidrate Deutschlands - und sein südwestlicher Zipfel wiederum gehört zu den traurigen Spitzenreitern im Freistaat.

Fast ein Drittel der 6.600 Anrufe bei der Telefonseelsorge Vogtland im letzten Jahr kämen von Menschen in suizidalen Krisen, sagt deren Leiterin Tabea Waldmann. "Und leider ist es so, dass es nicht genug Möglichkeiten für sie hier im Vogtlandkreis gibt. Man muss sehr, sehr lange auf einen Therapieplatz warten und es gibt zu wenig niederschwellige Hilfen."

Man muss sehr, sehr lange auf einen Therapieplatz warten und es gibt zu wenig niederschwellige Hilfen.

Tabea Waldmann Telefonseelsorgerin im Vogtland

Telefonseelsorge kämpft mit Finanzsorgen

Psychotherapeuten haben in ganz Sachsen lange Wartelisten - in ländlichen Regionen sind Therapieplätze besonders rar. Daran ändert auch die neue Präventionsstrategie des Gesundheitsministers nichts. Und genauso wenig an der wackeligen Finanzierung der bereits bestehenden Angebote wie Telefonseelsorge, Kontakt- und Beratungsstellen.

"Die Finanzen, die dafür zur Verfügung gestellt werden, reichen schon jetzt nicht, um diese Angebote langfristig auch zu erhalten - geschweige denn auszubauen", sagt die Leiterin der Telefonseelsorge im Vogtland. "Es gibt keine zuverlässige und stabile Förderung in diesem Bereich."

Diese Leerstelle kritisiert auch die Dresdner Psychiaterin Ute Lewitzka an der Nationalen Präventionsstrategie. Die sieht zwar bundesweit eine Notrufnummer und eine Internet-Plattform vor. "Doch in ihr fehlt der Bereich der niedrigschwelligen Beratung wie Telefonseelsorge und Online-Angebote für suizidale Menschen", sagt die Vorsitzende der Deutschen Gesellschaft für Suizidprävention. "Die sind genauso wichtig, weil sie ansetzen bevor ein Mensch in eine suizidale Krise kommt. Und deshalb müssen auch sie gestärkt werden."

Gesetz zur Suizidprävention verzögert sich

Ute Lewitzka forscht am Universitätsklinikum Dresden seit Jahrzehnten zu Suiziden und ihrer Vorbeugung. Sie ist froh, dass die Bundesregierung dafür endlich eine Strategie vorlegt. "Was aber fehlt, ist der Nachweis einer auskömmlichen Finanzierung für die Dinge, die in der Strategie enthalten sind. Wer soll das bezahlen?" Für die Antwort hat der Bundestag die Regierung um den Entwurf eines Gesetzes zur Suizidprävention bis zum 30. Juni gebeten - doch bisher liegt er nicht vor. Eine Anfrage von MDR SACHSEN zum aktuellen Stand blieb im Bundesgesundheitsministerium unbeantwortet.

Bisher seien auch Verbände wie die Deutsche Gesellschaft für Suizidprävention nicht in die Arbeit an diesem Gesetz eingebunden, ist deren Vorsitzende Ute Lewitzka enttäuscht. "Es ist relativ unwahrscheinlich, dass dieses Gesetz noch in dieser Legislaturperiode verabschiedet werden kann. Deshalb muss dieses Thema auch über die nächste Wahl hinweg verankert bleiben."

Eine Frau steht auf einer Wiese vor einem Baum mit Gedenkstein, an dem ein Foto lehnt.
Anja Gürtlers Bruder nahm sich selbst das Leben - heute leitet sie die Selbsthilfegruppe "Angehörige um Suizid" im vogtländischen Reichenbach. Bildrechte: MDR/Andreas Roth

Das Tabu überwinden

In Reichenbach wird Axel Gürtler nicht vergessen. Sein Vater und seine Schwester haben für ihn und andere Menschen, die ihr Leben selbst beendeten, mitten in der Stadt einen Baum gepflanzt. Um an sie zu erinnern. Und um das Schweigen zu brechen, in dem die in ihrer Seele Leidenden noch einsamer werden.

"Dieses Tabu, nicht darüber reden zu können - vor zehn Jahren haben wir ähnlich gedacht", sagt Axels Vater Heribert Gürtler. "Wir dachten: Das ist nicht mein Problem. Aber niemand ist gefeit davor." Es kann jeden treffen. Die gute Nachricht ist: Es kann auch jeder etwas dafür tun, dieses Schweigen zu beenden.

Hilfe bei Suizidgedanken, persönlichen Krisen und Depressionen Sie haben Selbsttötungsgedanken oder eine persönliche Krise? Die Telefonseelsorge hilft Ihnen: 0800 1110-111 und 0800 1110-222. Der Anruf ist anonym und taucht nicht im Einzelverbindungsnachweis auf. Auf der Webseite www.telefonseelsorge.de finden Sie weitere Hilfsangebote, etwa per E-Mail oder im Chat.

Wenn Sie das Gefühl haben, an einer Depression zu leiden, hilft Ihnen das Info-Telefon Depression unter 0800 3344533 oder die Stiftung Deutsche Depressionshilfe. Weitere kostenfreie Angebote hat die Deutsche Gesellschaft für Suizidprävention aufgelistet - beispielsweise für Jugendliche (116111) und Eltern (0800 111 0 550).

Hinterbliebene nach einem Suizid können Hilfe beim Verein Agus unter 0921 150 03 80 oder auf der Internetseite www.agus-selbsthilfe.de finden.

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MDR (lam)

Dieses Thema im Programm: MDR SACHSEN | MDR SACHSENSPIEGEL | 21. Juni 2024 | 19:00 Uhr

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