Umgang wider Willen Rosenkrieg ums Kind: So urteilen Sachsens Gerichte
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10. Februar 2023, 21:30 Uhr
Wenn Eltern sich trennen, kommt es zu unterschiedlichen Vereinbarungen, wer wann und wie häufig die Kinder hat. In der Regel funktionieren die Besuchs- und Wechselmodelle. Doch wenn die Konflikte des getrennten Paars gravierend waren, weiter schwelen oder Ängste im Raum stehen, können Gerichte über Umgangsmodelle für die Kinder entscheiden. Nach Schätzungen der Jugendämter nimmt das zu. Verpflichtende Erhebungen gibt es dazu nicht. Auch die Auswirkung auf das Kindeswohl bleibt ein Dunkelfeld.
- Gerichtlich angeordnete Umgänge sollen Elternkonflikte lösen.
- Dabei fallen die Urteile der Familienrichter sehr unterschiedlich aus.
- Studie: Erzwungener Umgang gefährdet das Kindeswohl.
Annas* Kindheit besteht aus einer zehn Jahre dicken Akte. "Dauernd ging es vor Gericht hin und her", sagt die heute 21-Jährige. Ihre Eltern hatten sich zeitig getrennt. Anna blieb bei der Mutter und sah alle zwei Wochen den Vater. Doch zu ihm wollte sie nie hin, hatte immer Angst vor ihm. "Ich hatte dort psychische Gewalt erlebt", sagt sie. Trotzdem wurden die Treffen weiter angeordnet. Ihr Kindeswohl sei dabei nicht bedacht worden und die Jahre des auferlegten Kontaktes hätten sie psychisch kaputt gemacht, sagt die junge Frau rückblickend.
Normalerweise funktionieren bei getrennten Paaren die selbst gewählten Besuchs- und Wechselmodelle für ihre Kinder. Doch es gibt Fälle, wo sich die streitenden Eltern nicht einig werden, sich zunächst an Mediatoren, Therapeuten, Erziehungsberater wenden und dann das Jugendamt einschalten. Scheitern alle Vermittlungsversuche, landen die Konflikte vor dem Familiengericht. Kommt es hier zu keiner Einigung zwischen den Eltern, ordnen die Richter und Richterinnen an, wer das Kind wann sieht und betreut.
Eltern haben ein Recht auf ihr Kind
Denn Eltern und Kinder haben das Recht auf Umgang, so steht es im Bürgerlichen Gesetzbuch (BGB). Dabei haben Eltern "alles zu unterlassen, was das Verhältnis des Kindes zum jeweils anderen Elternteil beeinträchtigt", ist im Paragraphen 1684 BGB festgeschrieben. Das Recht sei nicht neu, aber die Modalitäten hätten sich in den vergangenen Jahren geändert, erklärt der Amtsgerichtsdirektor von Pirna, Alexander Klerch.
So können Besuche als "begleiteter Umgang" durchgesetzt werden, indem eine dritte Person die gerichtlich angeordneten Treffen organisatorisch durchführt. Und es gibt die Möglichkeit einer Umgangspflegschaft. Hier geht ein Teil des Sorgerechtes auf den sogenannten Umgangspfleger über. Meistens handelt es sich um Verfahrensbeistände oder Anwälte, die dann entscheiden, zu welchen Zeiten die Kinder bei Mutter oder Vater sind und die das dann auch gegen den Willen der Elternteile durchsetzen.
Kontakte auch wider Willen
Rechtsanwältin Winnie Behnisch wird beispielsweise im Landkreis Meißen häufig als Umgangspflegerin bestellt. Die betroffenen Familien zögen sich durch alle Schichten. "Der Abgebende will nicht loslassen oder der Aufnehmende hat kein Interesse", das seien die beiden Konstellationen, so Behnisch. Weil Kinder mitunter weinten, wenn sie aus ihrem Zuhause abgeholt werden, mache man die Übergabe in der Regel in Kitas oder Schulen. "Da sind die Kinder entspannter", erklärt die Anwältin.
Der Abgebende will nicht loslassen oder der Aufnehmende hat kein Interesse.
Ziel der Umgangspflegschaften sei aber die Verselbstständigung: Mutter und Vater sollten ihre Kontakte mit dem Kind in Zukunft wieder selbst regeln können. Behnischs längste Umgangspflegschaft zog sich über zwei Jahre. "Das ist aber zu lang", sagt sie.
Keine Statistiken zu Umgangsverfahren
Getrennte Eltern, die sich wegen des Umgangs zu ihren Kindern bis zum Familiengericht hochstreiten, produzieren eine Menge Schriftsätze, Gutachten und Protokolle. Dennoch gibt es wenig aussagekräftige Daten zu den Verfahrensergebnissen und den Auswirkungen gerichtlich durchgesetzter Umgänge auf die minderjährigen Kinder. "Es gibt keine Pflichtstatistik", bestätigt die Jugendamtsleiterin im Landkreis Nordsachsen, Mandy Renner. Obwohl das Jugendamt grundsätzlich Entscheidungen im Zwangskontext ablehne, beobachtet Renner dennoch, dass die Zahl der Umgangspflegschaften mit den Jahren zugenommen habe.
Für Kinder können solche Beschlüsse problematisch sein, erklärt Jana Höhne vom Amtsgericht Oschatz. Wenn solche Streitfälle letztlich vor Gericht verhandelt würden, sei meist auch schon der Wille des Kindes gefestigt. Das Kind sei deshalb ab einem gewissen Alter zwingend anzuhören, so Höhne. Viele Gerichte in Sachsen verfügen hier über kindgerecht ausgestaltete Anhörungsräume.
Über 14-Jährige haben Beschwerderecht
Da nach einer Trennung die Kinder häufig bei den Müttern blieben, seien bei Umgangsstreits in der Regel Väter die Antragssteller, heißt es aus dem Referat für Jugendhilfe aus dem Landratsamt des Erzgebirgskreises. Meist gehe es um Kinder bis 13 Jahre. Je nach Alter müssen Gerichte dem Kindeswillen eine höhere Bedeutung beimessen. Über 14-Jährige haben ein eigenes Beschwerderecht.
Dabei ist der Weg vors Gericht die schlechteste Entscheidung im Streitfall, betont der Pirnaer Familienrichter Alexander Klerch. Weil Gerichtsverfahren dazu führten, dass einer in Anführungszeichen gewinnt und einer verliert. "In Kindschaftsverfahren steht aber ein Kind im Mittelpunkt und dazu passt gewinnen und verlieren nicht", so Klerch.
Familiengerichte urteilen unterschiedlich
Bei Umgangsstreitigkeiten arbeiten und urteilen die Familiengerichte in Sachsen sehr unterschiedlich, wie ein Blick ins Jahr 2022 verdeutlicht. Das Amtsgericht in Chemnitz schätzt die im vergangenen Jahr angeordneten Umgangspflegschaften auf sieben. Für Leipzig und Dresden ließen sich diese konflikthaften Fälle wegen der umfangreichen Aktenlage nicht aus dem System herausfiltern, teilten die Gerichtssprecher mit. In beiden Bezirken gab es 2022 weit über tausend Verfahren zu Sorge- und Umgangsrechtsstreitigkeiten (Dresden 2.084; Leipzig: 1.271).
In der Region können Gerichte und Jugendämter ihre hochstreitigen Kindschaftsverfahren teilweise ohne aufwändige Auswertung überblicken. So werden vom Amtsgericht Dippoldiswalde Umgangspfleger nur in sehr seltenen Ausnahmefällen eingesetzt, wie Direktor Rainer Aradai-Odenkirchen betont. "Ich selbst habe mich in meiner fast siebenjährigen familienrichterlichen Praxis noch in keinem einzigen Fall dafür entschieden", so der Richter.
Umgangspflegschaft
*Die Umgangspflegschaft ist eine Kontaktregelung zum Kind mit festgesetzten Zeiten.
*Dabei wird ein Umgangspfleger eingesetzt, auf den ein Teil des elterlichen Sorgerechts übergeht. Das heißt, dieser darf die Herausgabe des Kindes verlangen und dessen Aufenthalt bestimmen.
*Die Umgangspflegschaft wird meist für ein halbes Jahr angelegt.
*Ziel ist unter anderem, dass sich das Kind an einen Elternteil gewöhnt und die Beziehung zu ihm stabilisiert wird.
§1684 BGB
Im Amtsgerichtsbezirk Freiberg und Hoyerswerda sind im Jahr 2022 in keinem Fall Umgänge gegen den Willen eines Elternteils durchgesetzt worden. Vom Amtsgericht Riesa waren im gleichen Zeitraum zweimal Umgangspflegschaften angeordnet worden. Sie betrafen vier Kinder im Alter von fünf, neun und elf Jahren. Das Amtsgericht Grimma hat zwei Umgangspflegschaften für vier Kinder im Alter von vier, sieben und elf Jahren angeordnet. Beim Amtsgericht Marienberg gab es zwei solche Entscheidungen, einmal für ein achtjähriges Kind, einmal für Geschwister im Alter von fünf und zehn Jahren. Das Amtsgericht Zittau hat im Jahr 2022 zwei Umgangspflegschaften angeordnet - für vier Kinder im Alter von sieben, neun und elf Jahren.
Ich habe mich in meiner fast siebenjährigen familienrichterlichen Praxis in keinem Fall für die Umgangspflegschaft entschieden.
Im Landkreis Leipzig, wo sich das Jugendamt in vier Sozialräume aufteilt, wurde in einem Bereich eher zufällig Statistik geführt. Hier gab es vier Umgangspflegschaften für neun Kinder im Alter von vier bis 14 Jahren. Im Vogtlandkreis gab es 2022 vier Umgangspflegschaften. Das Familiengericht in Meißen hatte in acht Streitfällen Umgangspflege angeordnet, wie das Jugendamt in Meißen mitteilte. Im Landkreis Mittelsachsen gibt es eine Umgangspflegschaft, die seit 2017 dauerhaft anhält.
Studie: Erzwungene Kontakte gefährden die Kinder
Doch sind solche erzwungenen Kontakte das richtige Instrument? Ja, sagen viele Verfahrensbeistände und Umgangsbegleiter. Kinder bräuchten beide Elternteile, um gesund aufzuwachsen. Nein, sagt der Soziologe Wolfgang Hammer, denn körperlich und geistig gesunde Kinder würden aus dem funktionierenden Umfeld des hauptbetreuenden Elternteils gerissen. Zu dem Thema hat Hammer 2022 eine Studie veröffentlicht, für die mehr als tausend Kindschaftsverfahren ausgewertet wurden. Ein Fazit der Studie: Erzwungener Umgang gefährdet das Kindeswohl.
Beauftragte in Sachsen für Kinderrechte
Das Kind müsse mehr zum Teil des Prozesses gemacht werden, sagt die Kinder- und Jugendbeauftragte von Sachsen, Susann Rüthrich. Ihre Stelle wurde erst vor einem Jahr von der Regierung neu geschaffen - mit dem Augenmerk auf die Umsetzung von Kinderrechten und die Stärkung des Kinderschutzes.
Grundsätzlich könne eine Umgangspflegschaft durchaus Sinn ergeben und sollte nicht abgeschafft werden, so Rüthrich. Es dürfe aber kein Zwang ins Spiel kommen. Sie hält es für schwierig, Umgang gegen den erklärten Willen des Kindes durchzusetzen.
"Der Dreh- und Angelpunkt ist und bleibt für mich, dass das betroffene Kind in jeder Phase des Verfahrens selbst und direkt beteiligt wird, seine Haltung und Einschätzung ernst genommen wird und es so ein eigener Teil des Verfahrens ist – statt das Objekt, um das sich gestritten wird", so Sachsens Kinder- und Jugendbeauftragte.
Das Kind darf kein Objekt sein, um das sich gestritten wird.
Tränen bei der Übergabe
Tatsächlich entstehen immer wieder hochemotionale Situationen bei organisierten Übergaben von Jungen und Mädchen zwischen den elterlichen Konfliktparteien. Etwa, wenn ein Kind vehement ein Elternteil ablehnt und sich tränenreich mit Händen und Füßen gegen den Kontakt wehrt. "Das kommt ziemlich häufig vor", sagt Boris Kühne, der seit rund 20 Jahren als Fachanwalt für Familienrecht in Dresden tätig ist. Die Schuld liege in der Regel bei den Eltern, die die Kinder gegeneinander manipulierten, so der Anwalt.
Umgang darf nicht auf Biegen und Brechen durchgesetzt werden.
Eigentlich hätten die Ex-Partner im Sinne des Kindeswohls zueinander eine Wohlverhaltenspflicht. Sie müssten also die negative Beziehungsebene überwinden und auf Elternebene im Sinne des Kindes agieren, so Kühne. "Da wir aber alle nur Menschen sind, funktioniert das nicht immer so."
Vorwurf der Manipulation
Gerade den Vorwurf der Kindesmanipulation sieht Soziologe Hammer kritisch. So habe an Gerichten und in Jugendämtern das sogenannte PAS-Syndrom unter verschiedenen pseudowissenschaftlichen Begriffen Schule gemacht, beklagt er. Laut PAS-Syndrom entfremde das hauptbetreuende Elternteil bewusst das Kind vom anderen Elternteil, so der Vorwurf der Gegenpartei.
Wegen dieses "Narrativs", wie Hammer sagt, das in der Regel den Müttern vorgehalten werde, werden mitunter berechtigte Ängste und Sorgen ignoriert, die etwa aus Gewalterfahrungen und Misshandlungen in der Beziehung herrühren. Auch hielten derartige Manipulations- und Entfremdungstheorien aktuellen Studien nicht stand. Dennoch seien sie Teil vieler Gutachten, auf die sich letztlich Familienrichter in ihren Urteilen beziehen.
Das gehe bis dahin, dass Kinder vom "gewinnenden" Elternteil nach Umgangsstreitigkeiten in Heime oder Wohngruppen kämen, obwohl sie beim ursprünglich betreuenden Elternteil hätten normal versorgt werden können. "So etwas dürfte es in Deutschland eigentlich gar nicht geben", sagt Hammer.
Ein Kind wehrt sich
Im Grundschulalter wehrte sich Anna B. mit allen Mitteln gegen die Kontakte zum Vater. Es folgte ein monatelanger Marathon aus Begutachtungen und Befragungen. Schließlich entschied das Familiengericht, dass sie nicht mehr zu ihrem Vater muss.
"Ich finde nicht, dass man beide Eltern braucht, um gesund aufzuwachsen", sagt Anna. Ihrer Meinung nach müsse das System der Durchsetzung von Umgang dringend hinterfragt werden, denn es bediene vor allem die Interessen der Eltern und nicht die des Kindes. Umgang dürfe nicht auf Biegen und Brechen durchgesetzt werden, fordert die junge Frau.
*Der Name wurde zum Schutz der Betroffenen und Angehörigen geändert.
Dieses Thema im Programm: MDR FERNSEHEN | Umschau | 27. September 2022 | 20:15 Uhr