Überlebender des Holocaust Der unermüdliche Zeitzeuge
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26. Januar 2017, 14:37 Uhr
Es ist bewundernswert, wenn jemand im Alter von über 90 Jahren geistig noch so topfit ist wie Justin Sonder. "Mit Jugendlichen zu sprechen, hält mich jung", meint er. Etwa 500 Mal ist er in den letzten 20 Jahren in Schulklassen gegangen. Hat versucht, das Unvorstellbare – die Gräueltaten der Nazis im Konzentrationslager Auschwitz – wenigstens ein wenig vorstellbar zu machen. Seine Botschaft an die Abiturienten: "Erhaltet den Frieden!" Nora Kilényi hatte ihn im Januar besucht.
Jetzt, da über seine Ehrenbürgerwürde gesprochen wird, geben sich die Journalisten in seiner Wohnung gerade die Klinke in die Hand. Justin Sonder ist zwar gewohnt, Interviews zu geben - aber eine Ehrenbürgerschaft? "Als ich das erste Mal gehört hatte, dass ich Ehrenbürger werden soll, dachte ich: Wieso ich? Was habe ich denn gemacht?" Aber dann hätte er sich sehr gefreut. Es sei eine außerordentlich hohe Ehre für ihn. "Ich hänge an meiner Heimatstadt Chemnitz unwahrscheinlich stark. Ich hoffe, dass ich mich dieser Ehre würdig erweisen kann."
Auf einem Sideboard steht ein Blumenstrauß. "Erst gestern war ich in Flöha in einer schönen Schule", sagt Justin Sonder. Die Schüler seien sehr aufmerksam gewesen. Nach seinem Bericht gibt es oft noch eineinhalb Stunden Diskussionen. Die Jugendlichen wollen wissen, ob er daran gedacht hätte, aus dem Konzentrationslager auszubrechen? Oder: "Was hat ihnen die Kraft gegeben, durchzustehen?", "Haben Sie Hitler gesehen?"
Faschismus und Unterwürfigkeit
Er hat tatsächlich Hitler gesehen. Als Kochlehrling hatte er in Berlin einen Botengang in der Potsdamer Straße zu erledigen. Da kam ein Lautsprecherwagen. "Der sagte drei Worte: DER - FÜHRER - KOMMT! Als hätte man einen Schalter umgelegt, stand plötzlich alles still. Alle drehten sich zur Straßenseite hin und hatten den rechten Arm gehoben zum Hitlergruß. Und als er vorbeigerauscht war, war es wieder, als hätte man auf irgendeinen Knopf gedrückt - da bewegte sich die ganze Straße wieder. Das war einmalig. Das ist der Ausdruck des Faschismus, des Nationalsozialismus. Diese Unterwürfigkeit. Dieser Mechanismus - das wird mir ewig in Erinnerung bleiben."
Zahlen sind schwer vorstellbar
Über Zahlen lässt sich in den Geschichtsbüchern schnell hinweglesen. Sechs Millionen Juden, die von den Nazis getötet wurden - vorstellbar ist diese Zahl nicht. Konkreter wird es schon, wenn Justin Sonder den Jugendlichen sagt, dass es insbesondere eine Million Kinder waren, denen das Leben genommen wurde. "Wenn in einer Familie ein Kind, wie auch immer, stirbt, dann ist das für die Familie fürchterlich. Und hier haben wir es mit einer Million Kinder, die noch gar nichts gemacht haben, zu tun."
Wegen eines Stückchens Brot
Doch am meisten wirken Einzelschicksale, wie die eines 16-jährigen Griechen, der während eines Fliegeralarms im Lager ein Stückchen Brot gestohlen hatte. "Wir hatten noch nie erlebt, dass ein Jugendlicher erhängt werden sollte. Wir dachten, es sollte eine Scheinhinrichtung sein. Man hätte eine Stecknadel fallen hören können, so leise war es auf dem Appellplatz." Bevor das Kommando kam, zum Vollstrecken hätte der Junge ein Wort gesagt, das fast in allen Sprachen gleich ist. "Sein letztes Wort war: Mama. Und dann ist er in den Tod gegangen. Wegen eines Stückchens Brot."
Großer Prozess in Detmold
Auch das hat er vergangenes Jahr im großen Prozess gegen den ehemaligen SS-Unterscharführer Reinhold Hanning am Landgericht Detmold erzählt. Er sei einer von drei Zeugen aus Deutschland gewesen. "Mit 90 war ich der Jüngste", sagt Sonder lachend. Es sei aufregend gewesen. Ein Riesenprozess mit 60 Nebenklägern. Die Vorsitzende Richterin habe ihn gefragt, ob er in der Lage sei, darzustellen, was eine Selektion sei. "Ich habe gesagt, ich bin der deutschen Sprache nicht mächtig genug, um das auszudrücken, was sich dabei innerhalb von Bruchteilen von Sekunden abspielt: Bleibst Du weiter Arbeitssklave, oder sind die nächsten zwei Stunden Dein Tod?"
Justin Sonder hatte siebzehn solcher Selektionen erlebt und überlebt. Gleich zu Beginn wurde er von einem Mithäftling unter dessen Fittiche genommen. Der arbeitete als Aufseher und stammte auch aus Chemnitz. Er hätte ihm erklärt, dass er immer besonders stark und gesund wirken und auftreten müsse. Sonst sei das sein Todesurteil. Seiner Mutter erging es so. Sie wurde gleich nach ihrer Ankunft in Auschwitz getötet. Beim Prozess musste er auch darüber sprechen.
Es gibt Grenzen
Vor den Schulklassen möchte er darüber nicht reden - über den Tod seiner Mutter. Und es gibt noch eine Frage, die er nicht beantwortet: Manchmal will jemand wissen, was es außer Erschießen, Erhängen, Vergasen noch für Tötungsarten gab. "Darüber schweige ich. Ich kenne sie, ich habe sie teilweise gesehen - fürchterlich. Zu meinem Schutz und zum Schutz der Jugendlichen spreche ich darüber nicht."
Gehen oder Bleiben?
Viele der Juden, die überlebt haben, sind nach dem Zweiten Weltkrieg aus Deutschland weggegangen, zum Beispiel ins damalige Palästina. Viele, die Gräueltaten erlebt hatten, am eigenen Leibe erfahren hatten, haben nie wieder einen Fuß auf deutschen Boden setzen wollen. Nachdem Justin Sonder zusammen mit anderen Überlebenden in Bayern befreit wurde, sagte einer der ehemaligen Mithäftlinge aus Paris zu ihm: "'Kommt mit uns nach Frankreich. Dort wirst Du es besser haben. Geh nicht in dieses Mörderland, in dieses Verbrecherland! Geh lieber mit zu uns'. Und ich sagte: Nein, das mache ich nicht! Ich will in meine Heimatstadt Chemnitz gehen, vielleicht braucht man mich dort."
Zurück in Chemnitz
Justin Sonder hat bis zur Rente als Kriminalkommissar gearbeitet. Also weiterhin mit Mord und Totschlag zu tun gehabt. Er hat drei Kinder, sechs Enkel und zwölf Urenkel. Zur Weihnachtszeit seien wieder 24 Verwandte hier gewesen, so Sonder. Viele von ihnen hätten studiert, sagt der 91-Jährige stolz. Manche hätten promoviert. "Tolle Leutchen, muss ich schon sagen. Ich bin froh, so eine Familie zu haben." Diese ganzen Menschen hätte es beinahe alle nicht gegeben, wenn Justin Sonder nicht überlebt hätte. "Ja, das hat mir auch schon einmal eine Bekannte gesagt. Sie meinte in einem Gespräch: 'Ich glaube, der liebe Gott wollte bei Dir etwas gut machen.'"
Über dieses Thema berichtete MDR SACHSEN im Radio: MDR 1 RADIO SACHSEN | 21.04.2017 | Regionalnachrichten aus dem Studio Chemnitz 12:30 Uhr