Landrat Mittelsachsen Kritik und Verständnis nach Neubauer-Rücktritt
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24. Juli 2024, 18:55 Uhr
Es waren Worte, die aufrütteln. Wie "Freiwild" würden Politiker teils behandelt, sagte der sächsische Landrat Dirk Neubauer im Video zur Begründung seines Rückzugs. Er sei seit "Monaten konfrontiert mit einer persönlichen diffusen Bedrohungslage aus rechter Ecke". Dazu kämen politische Blockaden. Es sei ein Punkt erreicht, an dem der parteilose Kommunalpolitiker sagen müsse: Es reicht. Neubauer wirft das Handtuch und das politische Umfeld reagiert mit Betroffenheit, aber auch Kritk.
Ein "fatales Signal" sei das, erklärte der Deutsche Städte- und Gemeindebund. Die Demokratie sei in Gefahr. Der Bund verweist auf ein Monitoring des Bundeskriminalamts: 38 Prozent von über 1.700 befragten kommunalen Amtspersonen in Deutschland haben zwischen November 2022 und April 2023 Anfeindungen erlebt. Zwei Prozent seien tätliche Übergriffe. Nur einer von zehn Vorfällen werde angezeigt. Die Zahl der Anfeindungen sei während der Corona-Zeit stark gestiegen, ergänzte ein Sprecher des Deutschen Städtetags.
Die Folgen sieht der Städtetag mit Sorge. "Wenn Menschen sich nicht mehr trauen, für ein Amt zu kandidieren, weil sie Angst um ihre Gesundheit haben müssen, zerbricht unser demokratisches Gemeinwesen", sagte Verbandspräsident Markus Lewe. Bundestagsvizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt (Grüne) warnte: "Unsere Demokratie ist nicht möglich, ohne die, die anpacken, damit der Laden läuft."
Reaktion des Bundeskanzlers
Auch Bundeskanzler Olaf Scholz äußerte sich in seiner Sommerpressekonferenz dazu, nicht direkt zum Fall Neubauer, aber allgemein: Viele sähen sich vor Ort aggressiven Bedrohungen ausgesetzt - "ob durch Worte oder manchmal darüber hinaus", sagte der SPD-Politiker. Der Ton der gesellschaftlichen Debatte dürfe nicht von den "Spaltern" bestimmt werden - Scholz sprach von "Polarisierungsunternehmern".
Der Deutsche Landkreistag warnt allerdings vor Verallgemeinerungen. "Es ist kein durchgängiges Phänomen, dass Landrätinnen und Landräte in Deutschland bedroht werden", sagte Verbandspräsident Reinhard Sager der Deutschen Presse-Agentur (dpa). Grundsätzlich funktioniere die Arbeit in den Landkreisen gut, und man könne auch gestalten. Allerdings räumt auch Sager ein, es würden in der Kommunalpolitik "mehr oder weniger alle auch mit polemischer Kritik konfrontiert, auch mit anonymen Beleidigungen".
Grüne beklagen gesellschaftliches Klima
Bei den sächsischen Grünen stößt die Rückzugs-Ankündigung des mittelsächsischen Landrats auf Verständnis. Die Fraktionsvorsitzende im Landtag, Franziska Schubert, sagte MDR AKTUELL, Enthemmung und Aggressivität gegenüber politisch Aktiven hätten zugenommen, gerade aus der rechten Ecke. Auf Instagram berichtete die Politikerin von schlimmen Anfeindungen, für die man sich kein "dickeres Fell" zulegen könne.
CDU-Landrat: "Mehr Respekt und Höflichkeit!"
Der CDU-Landrat des Erzgebirgskreises, Rico Anton, weist auf ein generelles Problem hin: "Es ist ja nicht so, dass nur Politiker beklagen, dass der Umgang rauer geworden ist. Das erleben viele auch im Privatleben, die mit Politik im engeren Sinn am Hut haben." Der Kommunalpolitiker sagte MDR SACHSEN, alle sollten sich an die Grundsätze von Respekt, von Höflichkeit und einem ordentlichen Miteinander gewöhnen. Er selbst sei ein konservativer Politiker in einem mehrheitlich konservativen Kreistag. Insofern sei es schwierig, seine Situation mit der von Neubauer zu vergleichen.
CDU-Fraktionschef: Zu viel Kommunikation über Medien
Kritik an Neubauer kommt von Jörg Woidniok, CDU-Fraktionschef im Kreistag Mittelsachsen. Er sagte MDR SACHSEN Neubauer sei "an seiner eigenen Kompromiss-Unfähigkeit gescheitert". Amt und Person hätten bei Neubauer einfach nicht zusammengepasst. Neubauer habe seine Pläne und Projekte immer über die Medien bekanntgegeben, nie über den Kreistag und die Fraktionen. "Er hat nie versucht in den vergangenen zwei Jahren, Mehrheiten zu finden, Kompromisse zu schließen, gemeinsame Wege zu finden."
Kaum politischer Gestaltungsraum
Michael Stahl vom "Bündnis Freiberg für alle" zeigte sich enttäuscht. Neubauer sei als ein Hoffnungsträger angetreten und sei offenbar daran gescheitert, dass er nicht die notwendigen politischen Mehrheitsverhältnisse gefunden habe. Die Wahlen zum aktuellen Kreistag habe Neubauer wohl als Misstrauensvotum aufgefasst, denn die Parteien, die ihn unterstützten, hätten Stimmen verloren. Neubauer habe offenbar politische Gestaltungsmöglichkeiten vermisst: "Vieles deutet darauf hin, dass der neu gewählte Kreistag sehr viel Stillstand produzieren wird. Und ich denke, dass er befürchtet hat, dass sich das in den nächsten fünf Jahren weiter fortsetzen könnte."
Nicht alle, die Anfeindungen erleben, stecken das einfach weg, erklärt Alexander Handschuh vom Deutschen Städte- und Gemeindebund. "83 Prozent der Betroffenen leiden an psychischen oder physischen Folgen, insbesondere dort, wo auch die Familie ins Visier gerät." Jeder zehnte gebe auf, berichtet Handschuh unter Berufung auf das BKA-Monitoring.
MDR, dpa (sat)
Dieses Thema im Programm: MDR FERNSEHEN | MDR SACHSENSPIEGEL | 23. Juli 2024 | 19:00 Uhr