
Barrierefreiheit Im Rollstuhl mit der Bahn von Chemnitz nach Mittweida: "Wer ortsfremd ist, strandet"
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22. März 2025, 10:00 Uhr
In Sachsen leben laut Landesinklusionsbeauftragtem fast eine halbe Million Menschen mit einer Schwerbehinderung. Das ist fast jeder Achte in Sachsen. Nicht alle von ihnen haben eine körperliche Einschränkung, aber es zeigt, wie viele Menschen auf Barrierefreiheit im Alltag angewiesen sind. Besonders bei der Mobilität zeigen sich oft die Tücken. MDR SACHSEN hat mit Anja Lippmann, die im Rollstuhl sitzt, einen Testausflug gemacht.
Anja Lippmann fährt fast täglich mit dem Zug in und um Chemnitz. Doch einfach spontan eine Verbindung zu nutzen ist für die Rollstuhlfahrerin nicht möglich. "Man muss wissen, welche Bahnsteige barrierefrei sind", erzählt sie. "Und man muss sich für Hilfe beim Ein- und Aussteigen 24 Stunden im Voraus anmelden."
Von Chemnitz aus komme sie ganz gut nach Dresden, auch wenn sie darauf achten müsse den Regionalexpress und nicht die Regionalbahn zu nehmen. Der Express fahre nämlich von einem barrierefreien Gleis ab, die normale Regionalbahn nicht. "Nach Leipzig wird es schon schwieriger, auch wenn jetzt die neuen Züge fahren, ist trotzdem Hilfe beim Ein- und Aussteigen nötig", erzählt sie.
Ohne Ortskenntnis geht es nicht
Insgesamt kennt sie die Strecken und weiß, an welchen Bahnhöfen sie ohne oder mit Hilfe oder auch gar nicht aussteigen kann. "Aber wer ortsfremd ist, strandet", sagt sie. Für einen Test hat Lippmann für MDR SACHSEN genau diese Unkenntnis eines Ortsfremden simuliert. Dafür ist die mit der RB45 von Chemnitz nach Mittweida gefahren.
Wer ortsfremd ist, strandet.
Von unkompliziert zu kompliziert in 15 Minuten
Der Einstieg am Chemnitzer Hauptbahnhof klappt noch ganz unkompliziert. Bahnsteig und Zug sind barrierefrei erreichbar und im Zug gibt es sogar extra Plätze für Rollstühle. Doch keine Viertelstunde später ist alles kompliziert.
Beim Aussteigen wird Lippmann vom großen Höhenunterschied zwischen Zug und Bahnsteig überrascht. Der ist gefühlt 30 Zentimeter hoch. Sie kann ihn allein auf keinen Fall überwinden. Mit vereinten Kräften anderer Fahrgäste werden Türen aufgehalten und der Lokführer, der aus seinem Fenster schaut, hinzugerufen. Der Lokführer holt die Rampe aus dem Zug und legt sie für Anja Lippmann an. So kann auch sie den Zug verlassen.
Supergau am Bahnsteig Mittweida
Doch nun endet der Test abrupt. Lippmann ist auf Bahnsteig 2 gelandet und kommt nicht weiter. Denn es gibt weder einen Fahrstuhl noch eine Rampe, nur eine steile Treppe zu einer Unterführung. "Das ist heute der Supergau", sagt sie. "Erst nicht aus dem Zug kommen und jetzt hier nicht vom Bahnsteig runterkommen." Das sei ein ganz doofes Gefühl.
Was sagt die Deutsche Bahn zur Barrierefreiheit in Sachsen?
- Von den rund 660 Bahnsteigen in Sachsen sind rund 88 Prozent stufenfrei erreichbar.
- Damit Reisende stufenfrei ein- und aussteigen oder zumindest der Einsatz von Einstiegshilfen für alle Fahrzeugtypen möglich ist, müssen die Bahnsteige mindestens 55 Zentimeter hoch sein.
- Eine Höhe von mindestens 55 Zentimetern (in Ausnahme bei bestimmten Stadtbahnen 38 Zentimetern) steht aktuell an rund 59 Prozent der Bahnsteige zur Verfügung.
- Taktile Leitsysteme auf dem Bahnsteig sind aktuell an rund 60 Prozent der Bahnsteige in Sachsen vorhanden.
Quelle: Deutsche Bahn
Zum Glück fährt auf dem gleichen Bahnsteig die RB45 zurück nach Chemnitz. In Mittweida aussteigen kann die Rollstuhlfahrerin aber nur, wenn sie die Citybahn nimmt, die auf Gleis 1 hält. "Das muss man natürlich wissen", so die Chemnitzerin. Sie müsste nun nach Chemnitz zurückfahren, um von da aus noch einmal neu nach Mittweida zu starten. Das würde durch die Taktung im Fahrplan rund 1,5 Stunden zusätzlich dauern. Extrakosten gebe es zumindest nicht, weil Menschen mit einem Schwerbehindertenausweis kostenlos mit der Bahn fahren dürfen.
Sozialverband VDK sieht noch viele Verbesserungsmöglichkeiten
Michael Thriemert kennt diesen Irrsinn. Er leitet beim Sozialverband VDK Sachsen das Projekt "ÖPNV für alle". Er zieht eine gemischte Bilanz zur Barrierefreiheit in Bus und Bahn. "Es gibt Städte, in denen wir mit einem guten Austausch auch schon sehr weit vorangekommen sind", sagt er. "Aber gerade im ländlichen Raum gibt es noch viele Sachen zu verbessern und nachzuholen."
Besonders wichtig ist ihm, dass mobilitätseingeschränkte Menschen stärker einbezogen werden müssen. "Sie müssen an Entscheidungen beteiligt werden", fordert Thriemert. Egal, ob an der Fahrplangestaltung oder baulichen Veränderungen. Aber es müsse auch genügend Geld für Umbauarbeiten zur Verfügung stehen ebenso wie eine verbindliche Kontrolle solcher Bauarbeiten.
Bahnhof | Projektbezeichnung |
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Barthmühle | Barthmühle, Erneuerung Bahnsteig/Beleuchtung |
Görlitz | Görlitz Bahnhof, Aufzugserrichtung Bahnsteig 9/10 |
Freital-Hainsberg West | Freital-Hainsberg West |
Bischofswerda | Bischofswerda, Neubau Aufzüge |
Hoyerswerda | Hoyerswerda Modernisierung Bahnhof |
Bischheim-Gersdorf | Bischheim-Gersdorf, Erneuerung Bahnsteige |
Markranstädt | Markranstädt, Neubau Aufzug |
Barrierefreiheit bringt Vorteile für alle
Insgesamt ist sich Thriemert sicher, dass Barrierefreiheit Vorteile für alle Menschen bringt. "Barrierefreiheit ist für zehn Prozent der Bevölkerung unentbehrlich, für 40 Prozent ist sie nützlich und für 100 Prozent komfortabel", sagt er. Als Beispiel führt er eine Mutter mit Kinderwagen oder ältere Personen mit Gehhilfe an.
Barrierefreiheit ist für zehn Prozent der Bevölkerung unentbehrlich, für 40 Prozent ist sie nützlich und für 100 Prozent komfortabel.
Fazit: "Es muss noch viel getan werden"
Wieder am Chemnitzer Hauptbahnhof angekommen bewertet auch Anja Lippmann ihren Testausflug nach Mittweida. "Ich war selber erschrocken, dass es so kompliziert ist", sagt sie. Ein großes Lob gehe an die Mitarbeiter der Mitteldeutschen Regiobahn (MRB), die ihr spontan aus und wieder in den Zug geholfen haben und dabei sehr freundlich waren. "Es ist traurig. Wir haben 2025 und es immer noch nicht geschafft, solche grundlegenden Dinge zustande zu bringen", so Lippmann. "Mein Fazit ist, es muss noch ganz viel getan werden."