Selbstbestimmt leben Barrierefrei zum Arzt - Keine Selbstverständlichkeit!
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02. Dezember 2024, 15:00 Uhr
Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden. Vor genau 30 Jahren wurde das Grundgesetz um diesen Satz ergänzt. Zum Aktionstag der Menschen mit Behinderung am 3. Dezember 2024 zeigt ein Blick auf die Gesundheitsversorgung, das noch viel zu tun bleibt. Freie Arztwahl und barrierefreier Zugang sind immer noch nicht selbstverständlich. Ein Missstand, der dazu führen kann, dass Frauen mit Behinderung lieber auf wichtige Vorsorgetermine verzichten und schlimmstenfalls zu spät zum Frauenarzt kommen. Das Bündnis Inklusives Gesundheitswesen mahnt, endlich konkrete Vorgaben auf Bundesebene zu schaffen.
Als sie mit 20 zum ersten Mal zu einer Frauenärztin will, wird sie von ihrer Mutter begleitet. Wegen einer körperlichen Einschränkung braucht Charlotte Zach Hilfe beim Entkleiden und Umsetzen. Doch schon bei der Anmeldung am Tresen wird sie von der Sprechstundenhilfe ignoriert, später streicht ihr die Gynäkologin über die Wange und sagt zu ihrer Mutter: "Sie haben aber wirklich eine ganz niedliche Tochter."
Das ist 10 Jahre her, inzwischen hat Charlotte Zach Psychologie studiert, heute berät sie Menschen mit Behinderung zu ihrem Recht auf Selbstbestimmung. Sie vloggt zu Diversität und Datingformaten, denkt nach über den Sinn ihrer Selbstdarstellung auf Insta und schreibt im Newsletter "Berührungspunkte" an gegen Tabus über Sexualität und Behinderung: "In meiner Jugend hätte ich mir sehr gewünscht, darüber Informationen zu finden und einen Raum für Austausch." Den habe sie auch bei ihrem ersten Frauenarzt-Termin vermisst, erinnert sie sich. Sie habe damals einige Fragen loswerden wollen, "über potentiell gelebte Sexualität oder irgendwas, aber man ist zum Kind degradiert worden und fertig."
Sie haben wirklich eine ganz niedliche Tochter.
Teilhabe bedeutet auch freie Arztwahl und barrierefreier Zugang
Als Charlotte Zach vor 30 Jahren geboren wurde, trat eine Änderung des Grundgesetzes in Kraft: Nach Artikel 3 Absatz 3 Satz 2 darf niemand wegen seiner Behinderung benachteiligt werden. Seit 25 Jahren gilt in Deutschland zudem die UN-Behindertenrechtskonvention, die betont, dass Inklusion ein Menschenrecht ist und dass es auch die Barrieren sind, die behindern oder sogar ausschließen von der Teilhabe. Die fängt in der Gesundheitsversorgung eigentlich bei der freien Arztwahl und dem barrierefreien Zugang zu einer Praxis an.
Ein komplexes Problem für körperbehinderte Frauen, die nach einer Gynäkologin suchen, wie Charlotte Zach aus eigener Erfahrung weiß. Eine Stufe am Eingang, eine Brandschutztür ohne elektrischen Öffner, zu kleine Umkleidekabinen sind nicht selten noch Hürden. Hingegen gibt es in Deutschland bis heute lediglich fünf bekannte Spezialambulanzen mit einem Lifter, der hilft beim Umsetzen in den gynäkologischen Stuhl. Ein Missstand, der dazu führen kann, dass Frauen mit Behinderung lieber auf wichtige Vorsorgetermine verzichten und schlimmstenfalls zu spät zum Frauenarzt kommen.
Bündnis Inklusives Gesundheitswesen mahnt Bund
Einen Aktionsplan für ein "diverses, inklusives und barrierefreies Gesundheitswesen" hatte sich die aktuelle Bundesregierung vorgenommen. Schon 2022 sollte das Papier fertig sein. Jetzt, fast zwei Jahre später, gibt es einen ersten Entwurf. Wie es damit nach den Neuwahlen weitergeht, ist nicht abzusehen. Kritische Anmerkungen hat das Bündnis Inklusives Gesundheitswesen schon jetzt. Sprecher Hans-Günter Heiden moniert, das Papier sei viel zu unverbindlich im Hinblick auf die Maßnahmen, es gebe weder klare Fristen noch Sanktionen. Heiden sieht den "Ableismus, also die Voreingenommenheit von Ärzten und Gesundheitslobby" mit als Grund für die mangelhafte Inklusion in der Gesundheitsversorgung: Die Bedarfe von Menschen mit Behinderung würden nicht ernst genommen. Im allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz müssten aus seiner Sicht auch Gesundheitsleistungen klarer verankert werden genauso wie Sanktionen:
Es darf nicht folgenlos bleiben, wenn ich Menschen mit Behinderung abweise oder im Krankenhaus sage: 'Ne, wir können kein MRT machen. Da haben wir die Geräte oder die Leute nicht.'
Bremen sieht nach Studie "Handlungszwang" und etabliert Runden Tisch
Oft kämpften die Verbände von Menschen mit Behinderung gegen Windmühlen, stellt Heiden fest. Manchmal bringt das Engagement einzelner Dinge in Bewegung. In Bremen haben sich vor elf Jahren Frauen mit Behinderung stark gemacht für eine barrierefreie gynäkologische Spezialsprechstunde, wie die Aktivistin Swantje Köbsell berichtet. Diese Sprechstunde findet aller drei Wochen statt, sechs niedergelassene Gynäkologinnen teilen sich die Termine als zusätzliche Aufgabe.
Es gibt genug Platz, eine behindertengerechte Toilette und einen Lifter zum Umsetzen der Patientin. Die Untersuchung braucht mehr Zeit, ohne dass die Krankenkassen dafür mehr bezahlen. So wundert es nicht, dass in all den Jahren nicht mehr barrierefreie Praxen in Bremen entstanden sind. Köbsell ist froh, dass es die Ambulanz gibt. Die aber sei eben nur alle paar Wochen besetzt, was lange Wartezeiten mit sich bringe und in Akutfällen schwierig sei.
Es ist dramatischer, als wir uns vorstellen konnten.
Für das Land Bremen wurde jetzt erstmals in einer Studie ermittelt, wie die Versorgungslage für Frauen mit Behinderung aussieht. Der Landesbehindertenbeauftrage Arne Frankenstein sagt, die Lage sei "dramatischer, als wir uns vorstellen konnten, weil so auch nochmal deutlich wird, dass aufgrund der fehlenden Versorgung Angebote nicht in Anspruch genommen werden und damit auch gesundheitliche Nachteile für Frauen mit Behinderung drohen." Gemeinsam mit der Bremer Referentin für Frauengesundheit Monika Urban soll es nun einen Runden Tisch geben, um beispielsweise Weiterbildungsangebote zu entwickeln. Das Interesse an den Ergebnissen ist Frankenstein und Urban zufolge weit über Bremen hinaus sehr groß.
Die Daten aus dem Bundesteilhabebericht 2019 ergeben, dass in ganz Deutschland nur knapp ein Viertel aller gynäkologischen Praxen barrierefrei zugänglich ist, davon hatten demnach nur 16 Prozent höhenverstellbare Untersuchungsmöbel und nur elf Prozent eine barrierefreie Toilette.
Viel scheint sich nicht geändert zu haben, wie Charlotte Zach bei einer Online-Suche über das Portal der Kassenärztlichen Bundesvereinigung zeigt. Übrigens würden die Einträge nicht geprüft, merkt sie an. Heißt, dass es beim Besuch der Praxis dann doch unangenehme Überraschungen geben kann. "Ich hatte es schon öfter, dass da 'stufenlos zugänglich' oder 'Fahrstuhl vorhanden' stand. Und dann war da ein Fahrstuhl, aber auf dem Weg dahin vier Stufen." Aktueller und gepflegter sind ihrer Erfahrung nach die Einträge der Arzt-Auskunft der Stiftung Gesundheit.
Stiftung Gesundheit: Umfrage zur Barrierefreiheit in Arztpraxen
Die Stiftung Gesundheit prüft in ihrer Datenbank mehrmals im Jahr, ob Arztpraxen noch existieren oder umgezogen sind. Ihre Auswertung zur Barrierefreiheit zeigt:
*Nur knapp jede zweite Arztpraxis in Deutschland erfüllt mindestens 1 Kriterium der Barrierefreiheit.
*Am besten schneiden Berlin, Sachsen und Brandenburg ab.
*Die meisten Praxen haben sich mit mindestens einem Kriterium auf Menschen mit körperlichen Behinderungen eingestellt, das kann ein Fahrstuhl oder ein stufenloser Eingang sein.
*Wesentlich weniger Praxen haben sich auf Menschen mit Hörbehinderungen eingestellt
*noch weniger auf Menschen mit Sehbehinderung
*nur 1,5 Prozent auf Menschen mit kognitiven Einschränkungen.
Frage der Haltung – und der Ressourcen
Am Ende bleibe nur, dann selbst zu testen, ob man sich als Mensch mit Behinderung in einer Praxis ernst genommen fühle. Charlotte Zach hat inzwischen eine Ärztin gefunden, die auf Augenhöhe mit ihr umgeht: "Ich werde jetzt nicht direkt ermutigt, Fragen zu stellen, die mit meiner Behinderung zu haben, aber Sexualität wird mir nicht abgesprochen.Meine Gynäkologin weiß, dass ich Sex habe und ist auch von vornherein davon ausgegangen, dass das so sein könnte. Das ist ja schon mal schön", sagt sie.
Dass die Erfahrungen im Umgang so unterschiedlich sein können sieht nur zum Teil als Frage der Generationen. "Es ist manchmal einfach Glück, wie offen und zugewandt, respektvoll, die Menschen sind, die einem da begegnen. Und es ist eine Frage der Ressourcen, die sie haben, sich auf ihre einzelnen Patienten einzulassen."
Es ist manchmal einfach Glück – und eine Frage der Ressourcen, die sie haben, um sich auf Patienten einzulassen.
Dieses Thema im Programm: MDR FERNSEHEN | Selbstbestimmt | 05. Dezember 2024 | 22:40 Uhr