Bildungsgerechtigkeit Projekt gegen Lehrermangel: Wie Studierende Kindern in Görlitz beim Lernen helfen
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16. Januar 2025, 17:30 Uhr
Die ländlichen Regionen sind bei angehenden Lehrern als Arbeitsort nicht sehr beliebt. Sie zieht es nach dem Studium meist in die Großstädte. Das spüren auch die Schulen in der Oberlausitz, wo sich auf ausgeschriebene Stellen oftmals keiner bewirbt. Die TU Dresden hat deshalb im vergangenen Jahr ein Pilotprojekt gestartet, das Lehramtsstudenten schon früh an die Schulen der Region bringt. Obwohl sie keinen Unterricht machen dürfen, sind sie den Schulen trotzdem eine große Hilfe. Auch in Görlitz.
- Einmal wöchentlich schnuppern Lehramtsstudenten Praxisluft in der Schule und üben mit den Kindern in kleinen Lerngruppen.
- Wegen des hohen Stundenausfalls sei das Angebot auch eine Frage der Bildungsgerechtigkeit, sagt Erziehungswissenschaftlerin Anke Langner von der TU Dresden.
- Schule und Stadt hoffen, dass die jungen Leute vielleicht nach dem Studium nach Görlitz zurückkehren und damit den Lehrermangel ein wenig verringern.
Im Klassenzimmer an der Oberschule Innenstadt in Görlitz geht es laut zu. Die Jungen und Mädchen der fünften Klasse sitzen in kleinen Lerngruppen zusammen, diskutieren oder üben Mathe, Englisch, Deutsch. Es ist Freitag, ihr Übungstag. An diesem Tag haben sie seit diesem Schuljahr keinen normalen Unterricht, sondern üben all das, was im Unterricht zu kurz kommt. Unterstützt werden sie dabei von jungen Leuten, die an der TU Dresden Lehramt studieren. Einmal wöchentlich kommen sie dafür an die Görlitzer Oberschule und stehen den Kindern als Lernbegleiter zur Seite.
Studierende sollen früh Praxiserfahrung machen
Ausgedacht hat sich diese neue Art des semesterbegleitenden Praktikums Anke Langner, Professorin an der Fakultät Erziehungswissenschaften der TU Dresden. Die Idee: Studierende sollen schon zeitig Praxisluft schnuppern, indem sie regelmäßig die Kinder in kleinen Gruppen beim Lernen unterstützen. Diese Erfahrungen können sie dann im Studium wieder einbringen. Damit könnte auch die hohe Abbrecherquote verringert werden, hofft Anke Langner.
Praktikum bringt Sicherheit
Moritz Hänsch ist einer der 13 Studentinnen und Studenten, die an der Görlitzer Oberschule ihre ersten Praxiserfahrungen machen können. Sie alle sind im dritten Semester, also noch ziemlich am Anfang ihres Studiums. Für ihn ist die Zeit mit den Kindern ein echter Gewinn sagt er. "Es zeigt mir, dass es doch der richtige Beruf für mich ist, mein Traumberuf." In der Uni sei es eher theoretisch, er arbeite aber lieber mit Menschen. "Man sieht, dass man etwas bewirken kann."
Die Arbeit mit den Kindern ist ein echter Gewinn für mich. Es zeigt mir, dass es doch der richtige Beruf für mich ist, mein Traumberuf.
Projekt will Bildungsgerechtigkeit stärken
Neben der Görlitzer Oberschule werden die TU-Studenten an drei weiteren Oberlausitzer Schulen eingesetzt, insgesamt 45 junge Leute nutzen das neue Praktikums-Angebot. Dass es in der Oberlausitz ausprobiert wird, ist kein Zufall. Denn hier ist der Lehrermangel groß und der Stundenausfall besonders an den Oberschulen hoch.
Für die Kinder ist die zusätzliche Lern- und Übungszeit deshalb dringend notwendig, sagt Erziehungswissenschaftlerin Anke Langner. Das sei auch eine Frage der Bildungsgerechtigkeit: "Wenn auf dem Land die Schülerinnen und Schüler zum Beispiel nur noch die Hälfte vom Matheunterricht haben im Vergleich zu denen, die in der Stadt in die Schule gehen, ist das nicht mehr fair und nicht mehr gerecht." In den Lerngruppen von sieben bis acht Schülern sollen die Kinder außerdem das Lernen lernen, damit sie künftig besser eigenständig üben können.
Wenn auf dem Land die Schülerinnen und Schüler zum Beispiel nur noch die Hälfte des Matheunterrichts haben im Vergleich zu denen, die in der Stadt in die Schule gehen, ist das nicht mehr fair und nicht mehr gerecht.
An der Oberschule fehlen zehn Lehrkräfte
Die Lehrer und Schüler der Oberschule Innenstadt in Görlitz können jede Unterstützung gut gebrauchen. Schulleiter Thomas Warkus erzählt, dass insgesamt zehn Lehrkräfte fehlen. Egal ob Mathe, Geschichte, Englisch oder Kunst – der Mangel ziehe sich durch alle Fächer. Für das TU-Projekt hat er den Stundenplan für einige Klassen komplett umgebaut. Regulärer Unterricht findet für die 5. Klassen nur noch von Montag bis Donnerstag statt. Wegen der vielen Ausfallstunden habe sich der Stundenplan auf diese vier Tage zusammenschieben lassen. Am Freitag üben die Kinder in den Lerngruppen mit den Lehramtsstudenten.
Hoffnung auf Rückkehr der Studierenden
Schulleiter Warkus verbindet aber noch eine andere Hoffnung bei dem Pilotprojekt. Er möchte die jungen Leute von Görlitz begeistern: "Wir freuen uns, wenn die Studenten unsere Schule und die Region kennenlernen, um als ausgebildete Lehrer vielleicht hierher zurückzukommen." Denn neue Lehrkräfte zu finden sei sehr schwer. Auf ausgeschriebene Stellen gebe es oftmals keine Bewerbungen oder nur von Quereinsteigern.
Wir freuen uns, wenn die Studenten unsere Schule und die Region kennenlernen, um als ausgebildete Lehrer vielleicht hierher zurückzukommen.
Stadt unterstützt mit kostenfreier Unterkunft
Auch die Stadtverwaltung möchte die angehenden Lehrkräfte nach Görlitz locken und ihnen das Leben hier schmackhaft machen. Sie stellt den Studierenden eine kostenlose Unterkunft mit Frühstück in der Jugendherberge zur Verfügung, damit sie schon Donnerstagabend anreisen können.
Oberbürgermeister Octavian Ursu hat die Lehramtsstudenten im vergangenen Jahr persönlich begrüßt: "Dabei habe ich ihnen gesagt, sie können hier gerne auch zwei, drei Tage bleiben, nicht nur ein paar Stunden in der Schule. Wir möchten ihnen gerne unsere Europastadt vorstellen." Denn Görlitz habe viele gute Angebote, auch im Freizeitbereich, in Kultur und Kunst.
Wie finden die Studenten Görlitz?
Ob sich diese Hoffnungen erfüllen, wird sich erst noch zeigen. Sie findet zwar, dass Görlitz eine schöne Stadt sei und eine gute Größe habe, erzählt zum Beispiel Johanna. Aber die 19-Jährige möchte grundsätzlich lieber in Dresden und Umgebung bleiben: "Hier habe ich mein ganzes Sozialleben, hier kann ich abends noch was machen." Deshalb zieht es sie am Freitag nach der Schule gleich wieder zurück nach Dresden.
Moritz dagegen will demnächst auch einmal das Wochenende in Görlitz verbringen, ihm gefällt die Stadt gut. Bis zum Ende des Schuljahres hat Görlitz noch Zeit, die jungen Leute von sich zu überzeugen. Selbst, wenn nur einer oder eine wieder zurückkehren würde, sagt Schulleiter Thomas Warkus, habe sich das Projekt aber schon gelohnt.
Dieses Thema im Programm: MDR SACHSEN | MDR SACHSENSPIEGEL | 16. Januar 2025 | 19:00 Uhr