Blick auf Herrnhut von oben
In Herrnhut in der Oberlausitz entstanden Traditionen, die heute noch lebendig sind. Bildrechte: IMAGO/Sylvio Dittrich

Neuer Welterbe-Titel Die Brüdergemeine Herrnhut: Mehr als 300 Jahre lebendige Tradition

28. Juli 2024, 15:08 Uhr

Von Herrnhut in Sachsen in die Welt: Sterne und Traditionen der Brüdergemeine haben sich in den letzen 300 Jahren weit verbreitet. Die Herrnhuter kamen als Glaubensflüchtlinge, jetzt hat ihnen die Unesco den Welterbe-Titel verliehen. Nicht nur zu DDR-Zeiten waren sie präsent, auch heute prägen sie das religiöse Leben in Herrnhut. Was die Gemeine so besonders macht und was Menschen in der ganzen Welt an ihr schätzen.

Die Brüdergemeine in Herrnhut hat eine über 300-jährige Tradition. Aus dem 18. Jahrhundert stammt auch ihr Name, der sich daher bis heute ohne d schreibt – so, wie es damals gebräuchlich war. Die Brüdergemeine in der Oberlausitz zählt nur 530 Mitglieder, doch ihre Traditionen haben sich von Sachsen aus weit verbreitet: Ähnliche protestantische Gemeinden gibt es unter anderem in Dänemark, Nordirland, den USA und Tansania – mit weltweit mehr als einer Million Mitglieder. Für den Pfarrer der Evangelischen Brüdergemeine Herrnhut ist das eine Freude. Er selbst feiert im gerade erst restaurierten, völlig weißen Kirchensaal am Zinzendorfplatz regelmäßig gut besuchte Gottesdienste. Und das, obwohl der Ort im äußersten Zipfel Sachsens eher abgelegen ist.

Kleine Gemeinde mit vielen Besuchern

"Herrnhut ist eine sehr lebendige Gemeinde", sagte Pfarrer Peter Vogt MDR KULTUR. Es kämen auch viele Menschen aus der Umgebung, die als Freunde bei den Gottesdiensten dabei seien – außerdem viele Besucher: "Wir haben zweimal pro Woche Gottesdienst – Samstag eine Singstunde, einen Liedgottesdienst am Sonntag. Im Normalfall die Predigtversammlung." Auch einen Familiengottesdienst mit Kindern und Jugendlichen gibt es. "Wir singen gerne, und es gibt darüber hinaus viele Veranstaltungen im Gemeindeleben und viele Gruppen." Die christlich-sinnstiftende Tradition ist immer präsent.

300 Jahre Herrnhuter Brüdergemeinde
Kein Altar, keine Kanzel: Im Kirchensaal wurde 2022 auch das Jubiläum 300 Jahre Herrnhuter Brüdergemeine gefeiert. Bildrechte: MITTELDEUTSCHER RUNDFUNK

Den Kirchensaal nennt der Pfarrer das "Wohnzimmer" der Gemeine. Dort träfen sich Herrnhuter und Gäste nicht nur zu Gottesdiensten, sondern auch zu Konzerten, Vorträgen oder geselligen Runden. In dem Kirchgebäude mit dem markanten Dachreiter-Türmchen befindet sich neben dem Kirchensaal auch ein kleines Museum, das die Herkunft und die Bräuche der Herrnhuter erklärt. Erst 2022 feierte die Gemeine ihr 300. Jubiläum.

Herrnhut in der Oberlausitz 29 min
Bildrechte: mdr
29 min

Der Film zeigt, wie die Herrnhuter stolz oder auch unsicher abwägen, was sie mitbringen, um als Kulturerbestätte von Weltrang gesehen zu werden.

MDR Dok Sa 27.07.2024 18:15Uhr 29:18 min

Rechte: MITTELDEUTSCHER RUNDFUNK

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Zum Aufklappen: Die Geschichte der Brüdergemeine – Glaubensflüchtlinge aus Mähren

Statue von Nikolaus Ludwig Graf von Zinzendorf, dem Förderer der Herrnhuter Brüdergemeinde.
Ohne Zinzendorf hätte es die Herrnhuter Brüdergemeine so nicht gegeben. Sein Denkmal steht in Herrnhut. Bildrechte: imago/imagebroker/Bahnmüller

Gegründet wurde Herrnhut von Nikolaus Ludwig Graf von Zinzendorf. Der in den Franckeschen Stiftungen Halle ausgebildete Theologe übernahm 1722 das Rittergut Bethelsdorf von seiner Großmutter und ließ es barock umbauen. Im gleichen Jahr nahm er Glaubensflüchtlinge aus Mähren auf, Nachfahren der von der römisch-katholischen Kirche verfolgten Böhmischen Brüder. Sie ließen sich schon bald in Herrnhut nieder, eine von ihnen neu gebaute Musterstadt, in deren Zentrum sich der Kirchensaal befindet. Unweit davon entstand ein barockes Herrenhaus, der Vogtshof, bis heute Sitz des Direktoriums der Herrnhuter Brüder-Unität.

Von Sachsen aus zogen die Herrnhuter Missionare in die ganze Welt, so auch nach Pennsylvania in den USA, wo sie das neue Bethlemen schufen. Nach dem Vorbild Herrnhuts bauten Anhänger der neuen Kirche auch Siedlungen wie Gracehill in Nordirland oder Christiansfeld in Dänemark. All diese Orte sind authentische und vor allem lebendige Zeugnisse eines religiös-pietistischen Netzwerkes, dessen Fäden in Herrnhut zusammenlaufen. Heute ist die Herrnhuter Brüdergemeine in mehr als 35 Ländern auf fünf Kontinenten vertreten. Sie ist nach ihrem Gründungsort benannt.

300 Jahre alte Traditionen

Zu den festen Riten der Herrnhuter gehören beispielsweise das sogenannte Liebesmahl und die morgendliche Prozession zum Gottesacker auf dem Hutberg, wo die Gläubigen den Sonnenaufgang erwarten. Traditionell werden die Verstorbenen auf dem Gottesacker beigesetzt, Frauen und Männer getrennt. Die Grabsteine liegen flach auf den Erdgräbern. Nach Vorbild des Herrnhuter Friedhofs sind alle Herrnhuter Gottesäcker weltweit angelegt, auch in Bethlehem in den USA oder in Gracehill in Nordirland.

Gräber auf dem Gottesacker von Herrnhut
Bei den Herrnhutern liegen die Grabsteine auf den Gräbern. Das ist weltweit so. Bildrechte: IMAGO/Sylvio Dittrich

Die Herrnhuter Brüdergemeine gehörte zu DDR-Zeiten zu den wenigen religiösen Inseln im Land. Staatliche Organe wie die Stasi hatten es schwer, dort einzudringen. In der eigenen Druckerei wurden Anfang der 80er-Jahre Lesezeichen mit dem Symbol von "Schwerter zu Pflugscharen" gedruckt. Es gab sogar einen eigenen Laden, der auf das Handelsunternehmen von Abraham Dürniger zurückging, einem Herrnhuter Bruder aus dem 18. Jahrhundert.

Die Finanzierung der Herrnhuter Brüdergemeine Als Freikirche lässt die Brüdergemeine keine Kirchensteuer über die Finanzämter einziehen. Gemeindeglieder zahlen ihren Beitrag direkt und spenden regelmäßig. Auch Staatsleistungen, wie sie beispielsweise an die römisch-katholische Kirche gezahlt werden, gibt es nicht.

Auch die Förderung junger Menschen hat Tradition: Seit mehr als 280 Jahren gibt es bereits Schulen der Herrnhuter. In Herrnhut unterhält die Schulstiftung der Brüder-Unität heute das evangelische Zinzendorf-Gymnasium und eine Oberschule – auch wenn nur wenige Absolventen nach dem Abschluss bleiben. Pfarrer Peter Vogt erklärt: "Viele junge Leute, die bei uns sind, finden keine Arbeit und gehen dann an andere Orte. Oder sie ziehen zur Ausbildung weg." Es zögen aber auch Menschen nach Herrnhut und entdeckten die Gemeine als eine neue geistliche Heimat. "Und das hält uns auch lebendig", so der Pfarrer.

Sterne und Losungen: Exportschlager für die ganze Welt

Weltweit präsent sind heute nicht nur die Weihnachtssterne, die in Herrnhut produziert werden, sondern auch die Herrnhuter Losungen – Gebetsbüchlein mit Sprüchen für jeden Tag. Die Auswahl erfolgt immer im Vogtshof, an einem ovalen weißen Tisch und umgeben von den Porträts der Gründungsväter der Brüder-Gemeine. Der Vogtshof ist Sitz des Direktoriums der Brüder-Unität.

In der Mediathek anschauen

Aus insgesamt 1.824 Versen der hebräischen Bibel, des sogenannten Alten Testaments, werden vom Kollegium der Kirchenleitung für jeden Tag des Jahres Sprüche gezogen. Aus ihnen entsteht dann die aktuelle Ausgabe der Losungen, jeweils ergänzt durch passende Verse aus dem Neuen Testament.

Im April 2024 wurden die Losungen für den Jahrgang 2027 gezogen. Sie erscheinen in rund 60 Sprachen, aber auch online. Sie gelten als erfolgreichste Medienkampagne der jüngeren Kirchengeschichte.

Herrnhuter Losung aus dem Jahr 1773 mit einem Kleisterpapiereinband
Die Herrnhuter Losungen gibt es schon seit Jahrhunderten. Bildrechte: IMAGO / epd

Touristen aus Australien und Papua-Neuguinea

Besucher kommen aus der ganzen Welt nach Herrnhut. Für Pfarrer Peter Vogt ist das Chance und Risiko zugleich: "Wir freuen uns über Besuch von Gästen, aber wir möchten dann auch wirklich Kontakt haben, Zeit mit ihnen verbringen, so dass eine Verbindung entsteht – und nicht einfach nur, dass Leute mal kurz vorbeikommen, irgendwas kaufen und dann wieder weiterfahren."

Wir freuen uns über Besuch von Gästen, aber wir möchten dann auch wirklich Kontakt haben, Zeit mit ihnen verbringen, so dass eine Verbindung entsteht.

Pfarrer Peter Vogt

Viele Besucher kämen aus den ehemaligen Missionsgebieten der Herrnhuter, so aus den USA, Kanada, Australien, Surinam oder Papua-Neuguinea. Zusammen mit ihnen arbeiten die Brüdergemeine und das zu den Staatlichen Kunstsammlungen Dresden gehörende Herrnhuter Völkerkundemuseum die Missionsgeschichte auf. Die wichtigsten Quellen dafür befinden sich im Unitätsarchiv, das die Korrespondenz der Missionare aus 300 Jahren beherbergt. Die Idee der Mission wandelte sich – heute stehen soziale Arbeit und Flüchtlingshilfe im Fokus

Weltstadt ohne Bahnhof

Besucher kommen aber nicht mit der Bahn nach Herrnhut – der bereits 1848 erfolgte Eisenbahnanschluss auf der Strecke Löbau-Zittau wurde nach der Wende stillgelegt. Noch 2022 hieß es, der Freistaat Sachsen wolle die Strecke reaktivieren. Doch davon sei leider keine Rede mehr, sagen Vertreter der Brüdergemeine. Dabei wäre es für die Kleinstadt in der Oberlausitz essenziell, besser an die großen Zentren angebunden zu sein.

300 Jahre Herrnhuter Brüder-Gemeine: Impressionen
Die Kleinstadt ist herausgeputzt: Herrnhut rechnet mit vielen Touristen. Bildrechte: MDR / Jim Günther

Viele Herrnhuter sind sich sicher: Der Welterbetitel wird den Tourismus ankurbeln. Pfarrer Peter Vogt hofft trotzdem auf nachhaltigen Tourismus. "Also auf eine Form des Tourismus, bei dem wirklich Kontakte entstehen, und der der Größe und der Kleinheit unseres Ortes auch angemessen ist."

Quelle: MDR (Wolfram Nagel), redaktionelle Bearbeitung: lk, cb

Dieses Thema im Programm: MDR SACHSEN | SACHSENSPIEGEL | 21. Juli 2024 | 19:00 Uhr

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