Totensonntag ohne Erinnerung Stirbt die Friedhofskultur in Sachsen-Anhalt aus?

von Uli Wittstock, MDR SACHSEN-ANHALT

26. November 2023, 14:27 Uhr

Am Totensonntag wird in in evangelischen Regionen an die Verstorbenen gedacht. Doch dieses Erinnern hat sich offenbar gewandelt. Viele Menschen lassen sich anonym beerdigen, für die Hinterbliebenen gibt es keinen Erinnerungsort auf dem Friedhof. Und obwohl viel gestorben wird in einer alternden Gesellschaft, gibt es auf den Friedhöfen zunehmend Leerstand. So mancher Dorffriedhof wird wohl schließen müssen, befürchten Experten. Uli Wittstock zum drohenden Ende einer Friedhofskultur.

Portrait-Bild von Uli Wittstock
Bildrechte: Uli Wittstock/Matthias Piekacz

Blickt man in die Frühzeit der Menschwerdung, dann ist für Wissenschaftler klar, dass die Erinnerung an die Vorfahren etwas ist, was den Menschen von Tieren unterscheidet. Viele Jahrtausende lang unternahmen unsere Vorfahren große Anstrengungen, um an die Toten zu gedenken. Allein in Sachsen-Anhalt gibt es rund 500 sogenannte Großsteingräber. Die sind älter als Pyramiden und zeigen, welchen Aufwand die Menschen vor 6.000 Jahren betrieben hatten, um ihre Toten zu bestatten.

Friedhöfe in Sachsen-Anhalt: grüner Rasen statt denkwürdiger Grabsteine

Blickt man heute auf Sachsen-Anhalts Friedhöfe, dann ähnelt inzwischen so manche Fläche eher einem Tennisrasen als einem Ort der Erinnerung: Kein Grabstein, kein Kreuz, stattdessen eine grüne Wiese. Als würde sich der moderne Mensch still und heimlich davon schleichen wollen, ohne irgendeine Erinnerungsspur zu hinterlassen. Während historische Grabsteine denkmalgeschützt sind, bleibt heute von vielen Menschen nichts Denkwürdiges mehr.

Wir haben einen Verlust an sichtbarer Erinnerungskultur.

Steffen Möbius, Landschaftsarchitekt

Seit Jahrzehnten berät Steffen Möbius vom Büro für Freiraumplanung Friedhofsverwaltungen in Sachsen-Anhalt, Thüringen und Sachsen. Und er beobachtet dabei eine merkwürdige Entwicklung: "Wir leben auf der einen Seite sehr individuell. Das Individuum steht sehr im Vordergrund", sagt Möbius, "Gleichzeitig erleben wir auf den Friedhöfen genau das Gegenteil. Man ordnet sich der Gemeinschaft unter, geht anonym in Gemeinschaftsanlagen oder unter den grünen Rasen, wo nichts mehr übrigbleibt."

Ist der Friedhof auf dem Dorf bedroht?

In Sachsen-Anhalt werden 743 Friedhöfe von Kirchengemeinden betreut. Die meisten finden sich im ländlichen Raum. Neunzig Prozent von ihnen haben weniger als einhundert Gräber. Bildete so ein Dorffriedhof in früheren Zeiten das soziale Leben ab, vom Grab des Bürgermeisters oder Pfarrers bis zum zu den Familiengräbern über mehrere Generationen hinweg, so steht man nun zunehmend vor leeren Flächen.

Manche Friedhöfe, die ich betreue, haben seit zehn Jahren keine einzige Erdbestattung gehabt.

Steffen Möbius, Landschaftsarchitekt

Das bestätigt auch Steffen Möbius: "Manche Friedhöfe, die ich betreue, haben seit zehn Jahren keine einzige Erdbestattung gehabt." Das verändere viel, es werde weniger Fläche beansprucht. Und: "Wir haben einen Verlust an sichtbarer Erinnerungskultur. Die Leute werden dort weiter bestattet, aber es werden keine Zeichen mehr gesetzt." Aus seiner Sicht ist klar, dass in den nächsten Jahren vor allem die kleinen Dorffriedhöfe nicht mehr weiter geführt werden können. Mit einem Jahresbetrag von 77 Euro für ein Urnengrab ließe sich kein Friedhof kostendeckend betreiben.

Beerdigungskultur wird derzeit von zugewanderten Familien getragen

Das Thema Geld gilt als Hauptargument, wenn es darum geht, dass Menschen sich für eine anonyme Bestattung entscheiden. Doch für Steffen Möbius ist das ein eher vorgeschobenes Argument. Aus seiner Sicht ist es eher die Frage, welchen Wert eine Beerdigung hat. So mancher fahre sein Leben lang teure Autos und lässt sich dann anonym bestatten: "Wenn wir uns überlegen, wofür wir unser Geld ausgeben, dann müssen wir die Frage anders beantworten und fragen, welche Wertigkeit wir unseren Verstorbenen entgegenbringen. Und da sieht man deutliche Unterschiede." – Nicht so sehr zwischen arm und reich, sondern eher zwischen Herkunft und Tradition.

"Bei Familien, die zugewandert sind, gibt es diese Frage nach der preiswertesten Grabart nicht. Da kann es nur eine Erdbestattung geben, und dann spielt auch der Preis de facto keine Rolle", erklärt Möbius. Und auch in deutlich schwierigeren Zeiten von Krieg oder Seuchen wurde die Erinnerungskultur aufrecht erhalten, wie sich noch immer eindrucksvoll am Engagement der Kriegsgräberfürsorge zeigt.

Wenig Aufwand für Grabpflege, trotzdem Individualität – was möglich ist

In vielen Regionen Sachsen-Anhalts sind Familien inzwischen jedoch weit verstreut, auch als Folge der wirtschaftlichen Umbrüche nach der Wende. Da ist es in vielen Fällen nicht mehr so einfach, das Grab der Eltern zu pflegen. Doch der Aufwand ließe sich deutlich reduzieren, so die Erfahrung von Steffen Möbius. In modernen Grabanlagen, wie etwa auf dem Zentralfriedhof Merseburg, sind Gräber ebenerdig angelegt, so dass sie mit einem Rasenmäher oder auch Mähroboter kostengünstig gepflegt werden können. Dennoch seien sie individuell gestaltet.

Zudem seien die Grabsteine im Rund aufgestellt, wie in einem Theater. Das alles führe dazu, dass dieser Bereich des Friedhofs gerne aufgesucht wird, wie der frische Blumenschmuck zeigt. Steffen Möbius fordert, dass Friedhöfe gute Orte sein sollten, zum Erinnern, zum Verweilen und um Kraft zu schöpfen in einer hektischen Gegenwart.

Motto "Geiz ist geil" hat spürbare Folgen für Erinnerungskultur

Insgesamt tun wir uns schwer mit den Thema Tod, der in modernen Gesellschaften ausgelagert wurde, in Krankenhäuser und Pflegeheime. Der Tod passt schlecht in unsere Erzählung vom modernen Menschen, der ständig sein Wissen und seine Grenzen erweitert, aber dennoch die eigene Endlichkeit akzeptieren muss. Es könnte also sein, dass dies auch Folgen für die Erinnerungskultur hat. Der Umgang mit Trauer, früher in jeder Familie nichts Ungewöhnliches, erfordert nun mitunter den Einsatz von Trauerbegleitern.

Dieses schwierige Verhältnis zeige sich auch auf den Friedhöfen, sagt Steffen Möbius: "Wir beobachten sehr wohl, dass in Wäldern, wo die Leute verstreut werden, ein großes Interesse besteht, Dinge abzulegen." Es sei kein Zufall, dass die Friedhofsverwaltungen die Anwesenheit Anderer bei den Beisetzungen in Gemeinschaftsanlagen verbieten – sie würden Pflegeaufwand vermeiden wollen. "Wir wissen genau, dass die Leute diesen Punkt aufsuchen werden, um dort einen Blumenstrauß zu platzieren", sagt Möbius. Das Motto "Geiz ist geil" hat auch für die Erinnerungskultur spürbare Folgen.

Erinnerungen an Menschen in Sachsen-Anhalt verschwinden spurlos

Sachsen-Anhalt ist für Archäologen eine äußerst interessante Region, weil wegen des fruchtbaren Bodens hier schon immer Menschen siedelten. Zugleich konserviert das Erdreich Gegenstände gut.

Sollten allerdings Archäologen in eintausend Jahren nach den Menschen aus dem 21. Jahrhundert graben, werden sie wohl kaum etwas finden, weder Grabbeigaben, noch Knochen und auch keine Grabsteine. Möglicherweise werden die Reste eines verlorenen USB-Sticks entdeckt. Die aber dürfte wohl wenig Aufschluss geben über das Alltagsleben in der ersten Hälfte des 21. Jahrhunderts.

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MDR (Uli Wittstock, Maren Wilczek)

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