Interview Experte zu JVAs: "Es gibt Sicherheitslücken in deutschen Gefängnissen"
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von Sarah-Maria Köpf, MDR SACHSEN-ANHALT
25. Januar 2024, 15:56 Uhr
Nachdem der Halle-Attentäter in der JVA Burg Vollzugsbeamte als Geiseln genommen haben soll, wurden die Sicherheitsvorkehrungen in Sachsen-Anhalts Gefängnissen überprüft. Einzelne Maßnahmen konnten bereits umgesetzt werden, heißt es seitens des Landesjustizministeriums. Die Frage, wie es zu dem Vorfall kommen konnte, wird ab dieser Woche im Prozess aufgearbeitet. Wie sicher die Gefängnisse in Deutschland wirklich sind, erklärt Kriminologe Marcel Schöne im Interview.
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- Gefängnisse in Deutschland sind sicher. Die Zahl der Ausbrüche beläuft sich auf eine einstellige Zahl pro Jahr.
- Ausbruchsversuche belegen, dass es Sicherheitslücken in deutschen Gefängnissen gibt. Diese sind personeller sowie technischer Natur.
- Bei der Unterbringung des Halle-Attentäters hätte größerer Fokus auf sein Spezialwissen im Waffenbau gelegt werden müssen.
In Magdeburg beginnt am Donnerstag der Prozess um die Geiselnahme des Halle-Attentäters in der Justizvollzugsanstalt (JVA) Burg. Der gescheiterte Fluchtversuch im Dezember 2022 hatte Debatten über die Sicherheitsvorkehrungen in Gefängnissen nach sich gezogen. Unmittelbar nach der Tat wurde durch den Justizvollzug eine umfassende Prüfung eingeleitet, die mit Blick auf das noch laufende Strafverfahren nicht abgeschlossen sei, sagte jetzt Danilo Weiser, Sprecher des Justizministeriums in Sachsen-Anhalt.
Hierbei gehe es vor allem um bauliche und organisatorische Maßnahmen, wovon einige bereits umgesetzt wurden.
Marcel Schöne ist Professor für Kriminologie an der Hochschule der Sächsischen Polizei sowie Referent für Sicherheitsforschung. Im Interview erklärt er, dass deutsche Gefängnisse sicher sind, Sicherheitslücken aber vor allem aufgrund von technischem und menschlichem Versagen entstehen.
MDR SACHSEN-ANHALT: Herr Schöne, der Ausbruchsversuch des Halle-Attentäters aus der JVA Burg hat große Bestürzung ausgelöst. Wie sicher sind unsere Gefängnisse eigentlich?
Professor Marcel Schöne: Wir haben zwischen 44.000 und 70.000 Strafgefangene, die jedes Jahr in deutschen Gefängnissen einsitzen. Davon bricht eine einstellige Zahl aus. Im Jahr 2000 hatten wir noch 80 sogenannte Entwichene, mittlerweile sind es zwischen einem und zehn Menschen, die im statistischen Mittel pro Jahr ausbrechen. So gesehen sind Gefängnisse sehr sicher. So sicher eben, wie Anstalten sein können, in denen man Menschen sehr unterschiedlicher kultureller, religiöser, ethischer Prägung und eben auch sehr unterschiedlicher begangenen Delikte einsperrt und von der Gesellschaft abkoppelt. Man produziert damit immer eine Subkultur, die wiederum sozialen Druck und Konfliktlagen auslöst.
Wie steht es denn dann um die Sicherheit von Insassen und Justizvollzugsbeamten im Dienst?
In der Herstellung von Sicherheit und Ordnung innerhalb des Gefängnisses unterscheidet man zwischen verschiedenen Sicherheitsbegriffen. Die instrumentelle Sicherheit, also die Frage, wie sicher sind Haftanstalten, wie sind die Sicherungssysteme, wie ist die Videoüberwachung? Wie sicher sind die Rückhaltevorrichtungen – also Türen, Fenster? Da geht es sehr viel um die Betriebssicherheit, aber auch die Angriffssicherheit. Zum einen müssen die Insassen und die Mitarbeitenden geschützt werden und zum anderen das Gefängnis – Stichwort: Gefangenenbefreiung. Dann geht es um eine kooperative Sicherheit. Diese meint die Kooperation aller sich im Gefängnis befindenden Akteurinnen und Akteure. Wie arbeiten die miteinander? Es gibt beispielsweise eine Mitwirkungspflicht für Häftlinge. Und dann gibt es eine administrative Sicherheit und die meint wiederum, dass die Regeln im Gefängnis klar sein müssen. Von der Erstaufnahme bis zum Einschluss.
In Haftanstalten haben wir das Zentrum des strafenden Staates. Theoretisch müssten wir dort das Zentrum der Rechtskonformität haben. Aber wir finden dort verschiedene Straftaten durch Strafgefangene. Das sind Demütigungsrituale, das ist eine Hierarchie der Männlichkeit, Unterdrückungen, das können Sexualdelikte, Körperverletzungsdelikte bis hin zum Mord sein. Alles Dinge, die die Sicherheit der Insassen berührt. Und zum anderen haben wir jetzt auch bei Stephan B. und dem Ausbruchsversuch gesehen: Das sind hochtraumatisierte Menschen, die dort zurückbleiben – die zwei Geiseln, die Stephan B. genommen hat. Die haben posttraumatische Belastungsstörungen. Die können teilweise ihren Dienst nicht mehr versehen.
Zeugen solche Vorfälle von Sicherheitslücken?
Ausbruchsversuche und andere Straftaten belegen, dass es Sicherheitslücken in deutschen Gefängnissen gibt. Diese Sicherheitslücken sind zum einen personeller und zum anderen technischer Natur. Wenn wir uns die Technik ansehen, dann ist das beispielsweise eine fehlende oder ausfallende Videoüberwachung. Es geht um die Schließanlagen und deren Zuverlässigkeit.
Wenn wir bei der rein menschlichen Komponente sind, ist die Frage, wie sehr oder wie dicht ist eigentlich die Kontrolle der Insassen durch die Mitarbeitenden. Sie haben nicht die Gelegenheit, alle zu jeder Zeit flächendeckend zu kontrollieren. Sie können nicht vollständig verhindern, dass Dinge hinein- und herausgeschmuggelt werden. Stichwort Schwarzmarkt – der illegale Handel, auch mit Betäubungsmitteln. Oder Handys zur Kommunikation nach außen – das hat man sehr häufig. Das können Sie nicht 100-prozentig verhindern, weil Sie dann verhindern müssten, dass Strafvollzugsbedienstete beispielsweise korruptionsanfällig sind. Oder dass sie zu nahe Beziehungen zu jahrelang in Haftanstalten befindlichen Häftlingen eingehen, die dann wiederum zu Unachtsamkeit oder in Ausnahmefällen sogar zu emotionalen Abhängigkeitsverhältnissen führen können. Sie haben viele menschliche Komponenten, die Sicherheitsrisiken nach sich ziehen.
Über Marcel Schöne Marcel Schöne ist Professor für Kriminologie an der Hochschule der Sächsischen Polizei und Direktor des Säschischen Instituts für Polizei- und Sicherheitsforschung. Ausbildung und Studium zum mittleren und gehobenen Polizeivollzugsdienst absolvierte er in Sachsen-Anhalt.
Der Halle-Attentäter hat es in der JVA Burg seinerzeit geschafft, mit einem waffenähnlichen Gegenstand Geiseln zu nehmen. Wie ist es überhaupt möglich, dass eine Person in Hochsicherheitsverwahrung eine Waffe bauen kann?
Hochsicherheitsbereiche sind Bereiche, in denen sowohl die Hafträume als auch die Flure permanent verschlossen sind. Die Strafgefangenen können sich dort nicht frei bewegen, sondern sind teilweise bis zu 23 Stunden in ihren jeweiligen Zellen. Es gibt spezielle Bereiche für Freigang beispielsweise, die auch getrennt sind von den übrigen Gefängnisinsassen. In sehr modernen Gefängnissen sind sie mit Stahlnetzen überspannt, um zu verhindern, dass es zu Gefangenenbefreiungen mit Hubschraubern kommt. Aber wenn Sie sich den Tagesablauf ansehen, die Routinen, dann essen die Häftlinge eben auch mit Besteck, haben Möbel in den Zellen und andere Alltagsgegenstände. Ob etwas eine Waffe ist oder nicht, kommt auf die Art und Weise der Benutzung an. Wenn Sie wollen, können Sie aus allen möglichen Dingen eine Waffe bauen. Auch im Hochsicherheitsbereich. Und deshalb braucht es gerade dort eine lückenlose Kontrolldichte, wo Staatsanwaltschaften, Polizei und Gerichte bei Häftlingen besondere Risiken- und Gefahrenprognosen sehen.
Ob etwas eine Waffe ist oder nicht, kommt auf die Art und Weise der Benutzung an. Wenn Sie wollen, können Sie aus allen möglichen Dingen eine Waffe bauen.
Bei Stephan B. hatten Sie jemanden, der sich sehr viele Jahre damit befasst hat, wie man Waffen bauen kann, der ein Spezialwissen mitgebracht hat. Da hätte ein gewisser Fokus drauf gelegt werden müssen. Das ist offenbar ein Fehlversagen. Wenn ich so etwas weiß, stellt sich die Frage: Wie war das Kontrollverhalten? So etwas baut man ja nicht in fünf Minuten, auch nicht an einem Tag. Fraglich ist zum Beispiel, ob die Zelle jeden Tag untersucht wurde.
Der Personallage im Strafvollzug ist angespannt. Die Rückfallquoten von Häftlingen sind hoch. Was sagt das über das aktuelle Gefängnissystem in Deutschland aus?
Der Strafvollzug in Deutschland ist ein relativ destruktives System mit hohen Rückfallraten. Im Jugendstrafvollzug haben wir im Moment Rückfallquoten über 50 Prozent. Damit können wir im Grunde den Anspruch des strafenden Staates auf Resozialisierung und auf Prävention, das heißt die Verhinderung von weiteren Straftaten, nicht erfüllen. Und da darf man schon die Frage stellen, ob diese Systeme effizient und sinnvoll sind oder ob man sie vielleicht anders denken sollte.
Wenn Sie den Attentäter von Halle sehen, dann ist es sofort klar, warum der im Strafvollzug ist. Weil er eine Gefahr für andere Menschen darstellt, weil er ideologisch auf eine Weise geprägt ist, die eine lang anhaltende Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung vermuten lässt. Das Wegsperren selbst ist aber eine mittelalterliche Praxis. Wir haben jemand, mit dem wir nicht umgehen können und deswegen bauen wir Häuser mit Stacheldraht und Gittern. Bei dem Attentäter aus Halle ist das nachvollziehbar und auch wenn wir über Kapitaldelikte wie Mord, Totschlag, Terrorismus und Sexualstraftaten reden, dürfte das unstrittig sein.
Mit Blick auf die Strafgefangenen in Deutschland fällt jedoch auf, dass 40 Prozent der Menschen dort sitzen, weil sie Rechnung nicht zahlen konnten, wegen Beförderungerschleichung, dem sogenannten Schwarzfahren, wegen Inkassoverfahren oder nicht gezahlten Unterhaltsleistungen. Der Staat unterstützt letztendlich mit seinen Strafen privatwirtschaftliche Ansprüche. Man kann auch in Frage stellen, ob die 40 Prozent im Strafvollzug fähiger werden, ihre Rechnungen zu bezahlen, indem sie ihre Wohnung und Arbeit verlieren, das Label "Strafgefangener" haben und aus einer sozialen Gemeinschaft rausgenommen werden, sodass sich dann ein höheres Resozialisationsbedürfnis ergibt.
Wenn wir dann noch gegenüber rechnen, dass ein Haftplatz in Deutschland im Schnitt zwischen 3.500 und 6.000 Euro im Monat kostet und wir das auf 60.000 Strafgefangene im Jahr aufrechnen, dann haben wir Zahlen, wo wir uns mal überlegen können, ob wir die Mittel nicht besser einsetzen, als Menschen deliktsübergreifend und geschlechtshomogen unterzubringen. Da gibt es sehr viel Raum für Alternativen.
MDR (Sarah-Maria Köpf) | Erstmals veröffentlicht am 24.01.2024
Dieses Thema im Programm: MDR SACHSEN-ANHALT - Das Radio wie wir | 24. Januar 2024 | 06:00 Uhr
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