Mädchen aus Schönebeck Inga seit 2015 vermisst: Polizei in Halle rollt Fall neu auf
Hauptinhalt
16. April 2023, 12:48 Uhr
Seit Mai 2015 lebt die Mutter der kleinen Inga Gehricke mit der Frage: Wo ist meine Tochter? Seitdem hofft Victoria Gehricke, dass Polizei und Staatsanwaltschaft alles in Bewegung setzen, um ihre Tochter zu finden. Ein Berliner Rechtsanwalt findet in tausenden Seiten Akten neue Ermittlungs-Ansätze, die bisher nicht weiter verfolgt oder vielleicht sogar ignoriert wurden. Der Fall wird nun von Polizisten aus Halle neu untersucht. Für den Rechtsanwalt ein kleiner Erfolg.
- Ein Anwalt aus Berlin zweifelt an der Prüfgruppe im Fall der vermissten Inga.
- Wurden Hinweise von Kriminalwissenschaftlern aus Niedersachsen ignoriert?
- Das Innenministerium hat den Fall Inga aus Stendal abgezogen und nach Halle übergeben.
Als im Mai 2015 die damals fünfjährige Inga in Wilhelmshof bei Stendal verschwindet, beginnt für die Eltern ein jahrelanges Martyrium. Suchhunde, Tornado-Flüge, Wünschelruten: Scheinbar nichts wurde unversucht gelassen, um Inga zu finden. Scheinbar. Für Rechtsanwalt Steffen Tzschoppe gibt es offene Enden und sogar mögliche heiße Spuren, die von den Ermittlern nicht verfolgt wurden. In einem Schreiben an die Mitglieder des Innenausschusses stellt er Fragen, als er die Akten gelesen hat.
Fall Inga bekam eigene Prüfgruppe bei der Polizei
Eigens für den Fall Inga wurde eine Prüfgruppe der Polizei eingerichtet. Der Leiter des Zentralen Kriminaldienstes rechnete damit, das Personal für drei Monate abzustellen, so Rechtsanwalt Tzschoppe. Am Ende kam es anders: Innerhalb von elf Tagen sollten sich die Beamten in Aktenberge einarbeiten, die über Jahre angewachsen sind.
Tzschoppe sagt: "Ich bin nach fast 30 Jahren Strafverteidigung sehr erfahren, was das Lesen von Umfangs-Akten betrifft. Eine Akte wie diese schaffe auch ich nicht in so kurzer Zeit, voll zu erfassen, selbst bei hoher Lesegeschwindigkeit von mehr als 600 Wörtern pro Minute."
Polizist sah sich dem Fall Inga offenbar nicht gewachsen
Nach Informationen des Berliner Rechtsanwalts soll der Leiter der Prüf-Gruppe keine Lust auf diese Aufgabe gehabt haben. Das soll dieser dem Direktor der Polizeiinspektion Stendal und den anderen Prüfgruppenmitgliedern in der Auftaktveranstaltung deutlich gemacht haben. Außerdem hat Tzschoppe herausgefunden, dass der besagte Prüfgruppenleiter Zweifel an seiner eigenen Expertise für diesen Job schriftlich festgehalten hat.
Darüber informierte Tzschoppe die Mitglieder des Innenausschusses. Das Innenministerium relativierte im Innenausschuss die Aussage: Es wären berechtigte Selbstzweifel des Polizisten gewesen, einer solchen Aufgabe vielleicht nicht gewachsen zu sein. Später hätte sich der Beamte sehr für den Fall engagiert.
Innenministerium muss Vorgänge im Landtag erklären
Trotzdem bleiben beim Anwalt Zweifel: Offenbar war der Auslöser für die Gründung der Prüfgruppe im Fall Inga ein Hinweis aus dem Landeskriminalamt. Das LKA hatte laut Tzschoppe Zweifel an der Arbeit der Polizeiinspektion in Stendal und deren Ermittlungsarbeit. Um Akteneinsicht zu bekommen, ohne die Kolleginnen und Kollegen in Stendal zu verstimmen, haben Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des LKA den Ermittlern in Stendal mitgeteilt, es gebe eine neu gegründete Cold-Case-Abteilung, die sich landesweit mit Vermissten-Fällen befasst.
In dem Zusammenhang würden sich die LKA-Mitarbeiter auch noch einmal mit dem Fall Inga beschäftigen. Zu dieser Vorgehensweise wurden am Donnerstag Vertreter des Innenministeriums befragt. Diese konnten jedoch den Abgeordneten des Landtags nicht überzeugend darlegen, warum das gewählte Verfahren nötig war und wie es genau zustande kam.
Hinweise aus der Polizeiakademie in Nienburg/Weser ignoriert?
Im Jahr 2020 meldet sich der Studienleiter für Kriminalwissenschaften aus der niedersächsischen Polizeiakademie Nienburg/Weser bei den Ermittlern in Stendal. Eine Kopie der E-Mail befindet sich im Schreiben an die Landtagsmitglieder. Mit seinen Studierenden hätte er den Fall Inga durchleutet und Verbindungen zum Fall Maddie McCann in Portugal entdeckt. In Chat-Protokollen eines Verdächtigen sollen Sätze wie "etwas Kleines einzufangen und tagelang zu benutzen" verbunden mit der Aufforderung "nicht nur reden, sondern auch machen" zu finden sein.
Zusammen mit konkreten Fragen an die Beamten in Stendal hoffte der Dozent auf einen schnellen Ermittlungsansatz. Trotz der Dringlichkeit, die aus dem Schreiben erkennbar ist, wurden die Wissenschaftlerinnnen und Wissenschaftler aus Nienburg/Weser nicht zu den Ermittlungen hinzugezogen, wie aus Ausschuss-Unterlagen hervorgeht.
Berliner Spur nie verfolgt?
Für Steffen Tzschoppe besonders interessant: eine Spur zu einem verurteilten Sexualstraftäter, der durch eine Ex-Freundin aus der Nähe des Tatortes die Örtlichkeiten gekannt haben soll. Auf dem Grundstück des Straftäters hat der Anwalt massive bauliche Veränderungen festgestellt. Unmengen an Baustoffen seien noch auf dem Gelände vorhanden, außerdem sei dort ein Bagger wenige Tage nach Ingas verschwinden für 35 Betriebs-Stunden bedient worden.
Anregungen der Staatsanwaltschaft Berlin, Freunde dieser Person ebenfalls zu Ermittlungszwecken in die Akte aufzunehmen, seien abgelehnt worden. "Daher fehlen zu dieser Person wichtige Daten wie Telefondaten, Fahrzeuge, Verbindungen nach Wilhelmshof," so Tzschoppe. All das, obwohl der Straftäter während der Flucht vor der Polizei in Berlin wegen eines anderen Delikts zu einer Zeugin gesagt haben soll, dass er wohl wegen Inga gesucht werden würde.
Rechtsanwalt sieht Ungereimtheiten bei der Fallanalyse zu Inga
Ungereimtheiten sieht der Rechtsanwalt auch bei der Beauftragung einer Psychologin zur Erstellung einer "operativen Fallanalyse". Die Polizeidirektion Stendal hätte diese auf eigene Faust ins Leben gerufen, obwohl Landeskriminalämter und Bundeskriminalamt eine eigene Organisationseinheit "operative Fallanalyse" vorhalten. Das LKA in Sachsen-Anhalt hätte auch bereits Kontakt mit der "Ermittlungsgruppe Wald", die den Fall Inga untersucht hatte, aufgenommen.
Gutachterin ohne Qualifikationen?
Für die Erstellung einer Fallanalyse gibt es laut Tzschoppe auch bundesweite Standards: Polizeibeamte im gehobenen Dienst müssten zunächst zur Schutzpolizei, dann zur Kriminalpolizei. Nach jahrelanger Erfahrung in der Ermittlungsarbeit folge ein Auswahlverfahren, im Anschluss dreieinhalb Jahre Lehrgänge zum polizeilichen Fallanalytiker.
Der Anwalt aus Berlin vertritt jedoch die Meinung, dass die angeforderte Gutachterin diese Voraussetzungen nicht erfüllt und bezieht sich dabei auf den Lebenslauf der Psychologin, der auf ihrer Website nachzulesen ist. Aktenkundig seien hingegen ein Vorschlag und Antrag des späteren Ehemanns der Gutachterin – dem Kriminalrat, der mit der Ermittlung im Fall Inga betraut war.
"Ich zweifele mittlerweile auch an, dass Zwischenberichte zur Akten-Analyse einzelner Spuren, für die Dr. P. ebenfalls die nötige Expertise und der Auftrag fehlten, überhaupt von ihr (allein) verfasst wurden." Und: "Befand sich die Kostenrechnung zum 'Gutachten' im Jahre 2017 wohl noch im Aktenordner 'Kosten/Rechnungen', so ist sie nunmehr aus den Ermittlungsakten von Unbekannt entfernt worden," so Steffen Tzschoppe.
Innenausschuss im Landtag wird zum kleinen Untersuchungsausschuss
Auch Henriette Quade (Die Linke) und Rüdiger Erben (SPD) hatten am Donnerstag umfangreiche Fragen an das Innenministerium, die sich aus den Schreiben des Rechtsanwaltes an den Ausschuss ergaben. Mehrere Stunden befragten sie die Vertreter des Innenausschusses zu Prüfgruppe und Details der Ermittlung.
Am Ende verfing sich der Ausschuss in Detailfragen zum Ablauf der Befragung, statt sich an den offenen Fragen abzuarbeiten. "Ich finde es schlichtweg unwürdig. Ich verstehe, wenn Leute genervt sind und fragen, wo kommen all die Fragen her und stimmt das überhaupt. Der einfachste Weg das herauszufinden wäre, die offenen Fragen zu beantworten. Hätte es nicht bereits in der letzten Sitzung zahlreiche Widersprüche gegeben, wären daraus nicht neue Fragen entstanden. Das Problem sind nicht die Fragen, sondern die fehlenden Antworten," sagte Quade.
Für die Mutter der vermissten Inga, Victoria Gehricke, war es ein enttäuschender Tag: "Bei einem Teil der Abgeordneten scheint es offenbar ein nicht so großes Interesse zu geben, was mit meinem Kind geschehen ist und was eventuell bei den Ermittlungen schief gelaufen sein könnte," sagte sie nach dem Ausschuss. "Die Enttäuschung darüber nehme ich nun mit nach Hause."
Innenministerium zieht Fall aus Stendal ab
Bereits im März hatte es laut Innenministerin Tamara Zieschang (CDU) eine umfangreiche Dienstberatung zum Cold-Case Management in ihrem Ministerium gegeben. Daraus resultiert, dass die Ermittlungen im Fall Inga künftig von der Polizeidirektion in Halle übernommen werden. Die halleschen Ermittler sollen mit unvoreingenommenen Blick auf den Fall schauen. "Es geht jedoch weiterhin Sorgfalt vor Schnelligkeit," kündigte die Ministerin im Ausschuss an. Bereits in der kommenden Woche würden die Akten übergeben. Auch die Anwälte sollen in die Ermittlung eingebunden werden.
Ich habe für alles Belege in den Akten. Ich habe keinen Grund, mir etwas aus den Fingern zu ziehen.
Für Steffen Tzschoppe ein kleiner Erfolg: "Man hat gesehen, in Stendal tut sich nichts mehr. Da muss etwas getan werden. Ich denke, es ist gut, das nach Halle zu schicken. Das wird natürlich eine Weile dauern. Es war auch für mich nicht einfach die Akte zu durchschauen." Aber auch bei ihm bleibt Ärger zurück. Immer wieder wurde für ihn durch das Ministerium Zweifel an der Glaubwürdigkeit seiner Fragen gestreut. "Ich habe für alles Belege in den Akten. Ich habe keinen Grund, mir etwas aus den Fingern zu ziehen."
MDR (Lars Frohmüller, Cornelia Winkler) | Erstmals veröffentlicht am 13.04.2023
Dieses Thema im Programm: MDR SACHSEN-ANHALT – Das Radio wie wir | 14. April 2023 | 06:00 Uhr
Not Found
The requested URL /api/v1/talk/includes/html/481ff443-7f84-4d12-982c-679683cdf2ab was not found on this server.