Brennpunktschulen bevorzugt Schulsozialarbeiterin: "Es ist unfair, wenn man gute Arbeit macht und nicht bleiben darf"
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19. März 2024, 11:01 Uhr
Braucht eine Schule einen Schulsozialarbeiter oder soll dieser bleiben, muss dafür regelmäßig neues Fördergeld beantragt werden. Das Problem: Das Geld reicht nicht für alle Schulen, die Bedarf anmelden. Ein neues Antragsverfahren soll nun Brennpunktschulen bevorzugen. Eine Schulsozialarbeiterin aus der Börde bangt deshalb nun um ihren Job. Ob sie bleiben darf, erfährt sie erst im April.
- Durch ein neues Antragsverfahren für Schulsozialarbeit werden vorwiegend Brennpunktschulen bevorzugt.
- Eine Schulsozialarbeiterin aus Ausleben befürchtet nun, dass ihre Schule keine Gelder für ihren Job erhält, weil sie und die Schule zu gute Arbeit leisten.
- Ein Schulleiter wünscht sich, dass Schulsozialarbeit an jeder Schule fest integriert wird. Doch das ist laut Gesetzgebung aktuell nicht möglich.
Der letzte Klettverschluss ist zu, dann sind die roten Boxhandschuhe fest an den Händen. "Hältst du?", fragt Jakov. Dann geht auch schon der erste Schlag gegen den Boxsack. Pau – dann noch einer. Pau, pau – und schon die nächsten. Nach zwei Minuten wechselt er sich mit seinem Kumpel ab.
Was hier nach einem Boxclub klingt, ist in Wirklichkeit das Büro von Schulsozialarbeiterin Doreen Schmitz. Für die Schüler der Thomas-Müntzer-Sekundarschule in Ausleben hat sie extra einen Boxsack besorgt – und der kommt gut an.
"Wenn wir den ganzen Tag in der Schule sitzen, dann ist das eher psychisch, aber man muss sich auch körperlich auspowern, wenn man zum Beispiel mal keinen Sportunterricht hat", sagt Jakov.
Sein Mitschüler Jason sieht das genauso. Er reagiert sich so in Freistunden an dem Boxsack ab – vor allem, wenn es besonders stressig im Unterricht war, erklärt der Zehntklässler.
Volles Büro: Schüler sind dankbar für Schulsozialarbeit
Laut Doreen Schmitz ist ihr Büro in den Hofpausen immer voll. "Meine Hauptaufgabe ist, dass ich Kinder und Jugendliche auf ihrem Schulweg in die Zukunft begleite", erklärt sie. Dazu gehören beispielsweise Gespräche über Prüfungsängste und das Lösen von Konflikten zwischen Schülern. Doch auch das Führen von Gesprächen mit Schülern und deren Eltern sowie das Herstellen von Kontakten zum Jugendamt oder Beratungsstellen sind Teil ihrer Arbeit. Sie sieht sich selbst als "Bindeglied" zwischen all dem. Am wichtigsten ist Schmitz aber das Vertrauen zu den Schülern – und das kann nur aufgebaut werden, wenn sie immer für die Kinder und Jugendlichen ihrer Schule da ist, sagt sie MDR SACHSEN-ANHALT.
Dass die Schüler dankbar für Schmitzs Arbeit sind, zeigen vor allem Plakate, Briefe und Bilder an ihren Wänden im Büro. Auf denen ist immer wieder "Für die beste Frau Schmitz" oder "Frau Schmitz, Sie sind unser Glück" und "Danke" zu lesen. Dabei ist die Schulsozialarbeiterin erst seit fünf Jahren an der Schule in der Börde.
Dass sie unbedingt bleiben soll, zeigt das größte Bild in ihrem Büro: Eine Leinwand mit sehr vielen Unterschriften der Schüler. In der Mitte prangt der Satz: "Schulsozialarbeit soll bleiben". Und genau dieses Problem wiederholt sich alle paar Jahre erneut: Denn ob Schmitz ihren Beruf an der Schule auch im kommenden Schuljahr ausüben kann, weiß die Schulsozialarbeiterin erst ab April.
Brennpunktschulen werden durch neues Antragsverfahren bevorzugt
Die Schule, an der Schmitz arbeitet, ist nur eine von 39 Schulen in der Börde, die Schulsozialarbeit für die neue Förderperiode ab dem Schuljahr 2024/25 beantragt hat. Allerdings bekommen laut Netzwerkstelle für Schulsozialarbeit nur 30 Schulen Geld aus dem Europäischen Sozial-Fonds (ESF), um die Schulsozialarbeit finanzieren zu können. Die restlichen neun Schulen müssen dann bis zum Schuljahr 2027/28 ohne auskommen. Insgesamt gibt es rund 80 Schulen im Landkreis Börde.
Ich habe immer den Vergleich: Das Haus brennt, ich lösche allerdings immer nur oben das Feuer, aber die Heizung unten erneuere ich nicht.
Dass Schulsozialarbeit alle paar Jahre neu beantragt werden muss, ist nicht neu. Neu ist allerdings die sogenannte "Situationsanalyse", die zusätzlich zum Antrag hinzugekommen ist, erklärt Birka Hübener MDR SACHSEN-ANHALT. Die Leiterin der Netzwerkstelle für Schulsozialarbeit im Landkreis Börde erklärt, dass in dieser hauptsächlich "Jugendhilfekriterien" abgefragt werden.
Sprich: Wie viele Straftaten oder Ordnungswidrigkeiten haben beispielsweise Schüler begangen? Erfasst werden diese Daten anschließend nicht schulbezogen, sondern regional. So wird das Geld nach einem Schlüssel verteilt. Wer am Ende tatsächlich einen Schulsozialarbeiter bekommt, entscheidet eine Jury. Die besteht unter anderem aus Vertretern des Bildungsministeriums, Sozialministeriums und Landesschulamts.
"Wir sagen: Das bildet nicht die eigentliche Arbeit der Schulsozialarbeit ab und auch nicht den Bedarf, den die Schulen tatsächlich haben", erklärt Hübener. Sie und viele Schulsozialarbeiter haben nun Sorge, dass vor allem Brennpunktschulen bevorzugt gefördert werden – denn das Geld aus dem ESF, das Sachsen-Anhalt bekommt, ist begrenzt. Laut der Leiterin wird somit lediglich geschaut, wo der Bedarf an Schulsozialarbeit am größten ist. "Ich habe immer den Vergleich: Das Haus brennt, ich lösche allerdings immer nur oben das Feuer, aber die Heizung unten erneuere ich nicht", sagt sie.
Und tatsächlich: Dass vor allem Brennpunktschulen von den Fördergeldern profitieren sollen, bestätigt auch das Bildungsministerium Sachsen-Anhalt. Auf Nachfrage von MDR SACHSEN-ANHALT heißt es: "Es wird angestrebt, einen Zugang zu hochwertiger allgemeiner und beruflicher Bildung für Schüler zu gewährleisten. Mittelbar kann die Förderung dazu beitragen, den Schulerfolg zu erhöhen und vorzeitige Schulabbrüche zu vermeiden. Insofern wird versucht, die Schulen mit dem größten Bedarf zu unterstützen."
Schulsozialarbeiterin: Wer zu gute Arbeit macht, muss gehen
Zurück im Büro von Doreen Schmitz: Einige Schüler brauchen den Rat der Schulsozialarbeiterin. Für die Klassenfahrt fehlen noch Fahrkarten und die Klassenlehrerin ist krank. "Sophia und ich sind die einzigen die noch keine Fahrkarten haben, was machen wir jetzt?", fragt eine der Schülerinnen. Denn während die meisten Schüler der Schule ein Deutschlandticket gesponsert bekommen haben, gingen einige wegen ihres zu kurzen Schulwegs leer aus.
Schmitz beruhigt die Schüler: "Ihr braucht euch keine Sorgen machen, ihr werdet genauso kostenlos fahren, wie die anderen auch. Das ist auch etwas, das ich von meinem Budget wegnehmen kann, weil ich es ungerecht finde, wenn alle anderen kostenlos fahren dürfen. Das bekommen wir gelöst."
Das kann nicht sein, wenn man gute Arbeit macht – nicht nur ich, sondern die ganze Schule mit Lehrkräften und Eltern – wenn wir einen guten Job machen, dass ich dann nicht bleiben darf. Das ist nicht fair.
Egal, wie klein oder groß das Problem der Schüler zu sein scheint, Schmitz versucht, zu helfen. Doch mit der neuen Analyse ist ihre Sorge nun, dass sie die Förderung für das neue Schuljahr nicht erhält, weil sie – einfach formuliert – zu gute Arbeit leistet. "Das kann nicht sein, wenn man gute Arbeit macht – nicht nur ich, sondern die ganze Schule mit Lehrkräften und Eltern – wenn wir einen guten Job machen, dass ich dann nicht bleiben darf. Das ist nicht fair", sagt sie.
Schulsozialarbeiter müssen ihren Beruf monatlich rechtfertigen
Was Schmitz stört, ist, dass sie ihren Beruf immer wieder rechtfertigen müsse – nicht nur alle paar Jahre, wenn wieder eine Finanzierung beantragt werden muss, sondern monatlich, wie sie sagt. "Ich muss jeden Monat einen Sachbericht schreiben, der 77 Punkte umfasst, die klar definiert sind. Ich kenne keinen anderen Beruf, in dem das so ist. Bei uns ist das Normalität." Das koste jeden Monat viel Zeit. Die würde Schmitz viel lieber mit den Schülern verbringen und nicht am Schreibtisch, sagt die Schulsozialarbeiterin.
Ich muss jeden Monat einen Sachbericht schreiben, der 77 Punkte umfasst, die klar definiert sind. Das kostet jeden Monat ganz viel Zeit, die ich lieber mit den Schülern verbringen will und nicht am Schreibtisch.
Wenn Schmitz in der Schule nicht so gut angekommen wäre, hätte sie ihren Job schon längst an den Nagel gehängt, wie sie erklärt. Was sie an der Schule hält, ist der gute Kontakt zu den Kindern, Eltern und Lehrkräften. "Ich war beim letzten Mal kurz davor. Ich habe gesagt, ich will das einfach nicht mehr. Man will auch für sich privat planen können".
Schulleiter: Schulsozialarbeit muss an jede Schule
Planen ist hier ein gutes Stichwort. Für Erhard Schmidt, dem Schulleiter der Sekundarschule, gehört Schulsozialarbeit an eine Schule, genauso wie Strom und Wasser in ein Haus. Denn Probleme wird es an Schulen immer geben: "Wir haben einen breiten Bogen an Problemen, die durch Schüler in die Schule getragen werden und hier gelöst werden sollten. Die Probleme werden sich nicht auflösen, sondern ändern sich nur." Schmidt zufolge sind Lehrer immer mit Zensuren verbunden. Schulsozialarbeiter seien auf einer anderen Ebene. "Daher muss das hier etabliert bleiben", erklärt er.
Wir haben einen breiten Bogen an Problemen, die durch Schüler in die Schule getragen werden und hier gelöst werden sollten. Die Probleme werden sich nicht auflösen, sondern ändern sich nur.
Die Schulglocke ertönt. Wer jetzt nicht nach dem Unterricht nach Hause fährt, geht in eine der Arbeitsgemeinschaften – heute: Taiji quan und die AG "Junge Künstler". Wie viele der AGs sind auch diese beiden von Doreen Schmitz ins Leben gerufen worden. Und auch hier ist das mit der Planungssicherheit so eine Sache: "Wenn wir den Bescheid bekommen, dass es keine Schulsozialarbeiterstelle ab dem neuen Schuljahr gibt, dann werden alle AGs, die wir auf Initiative von Frau Schmitz betreiben, wahrscheinlich wegfallen", so der Schulleiter.
Doch vor allem würde für die Schüler eine wichtige Vertrauens- und Kontaktperson wegbrechen, wie Schmidt sagt. "Es ist schwierig, wenn so etwas erstmal wegbricht, das wieder anzufangen. Für uns heißt es, dass wir einen Teil unserer Identität verlieren", so der Schulleiter weiter.
Schulsozialarbeiterin wünscht sich festen Platz im Schulgesetz
Der Wunsch, Schulsozialarbeit fest an Schulen zu integrieren ist also groß. Das ist für Schmitz glasklar: "Die Politik sollte so entscheiden. Ich finde es einfach viel zu wichtig." Doch laut Bildungsministerium stehen da einige Gesetze im Weg. So heißt es auf Nachfrage beim Bildungsministerium Sachsen-Anhalt: "Eine Aufnahme der Schulsozialarbeit als gesetzliche Aufgabe des Landes im Schulgesetz würde mit der Gesetzgebung des Bundes konkurrieren. Der Bund ist verfassungsrechtlich ausschließlicher Gesetzgeber für Soziales und die Schulsozialarbeit als Teil der Kinder- und Jugendhilfe ist im SGB VIII fest verankert."
Sprich: Doreen Schmitz und ihre Kollegen müssen ihre Arbeit Monat für Monat, Jahr für Jahr weiterhin rechtfertigen. So wünscht sich Schmitz auch, dass "soziale Berufe nicht mehr so asoziale Rahmenbedingungen haben", wie sie nach ihrem Empfinden bisher vorherrschen. Doch Schmitz macht ihren Beruf mit Herz und mit Hingabe – die Schüler treiben sie an, wie sie sagt. "Sie geben mir so viel aus ihrem Privatleben, dass das auch was mit mir macht. Ich bin dankbar, dass ich für die Schüler da sein darf", sagt sie. Und sie will bleiben – für ihre Schüler.
MDR (Maximilian Fürstenberg) | Erstmals veröffentlicht am 17.03.2024
Dieses Thema im Programm: MDR SACHSEN-ANHALT HEUTE | 17. März 2024 | 19:00 Uhr
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