Radeln im Herbst Räder, Räuber und Ruinen: Mit dem Fahrrad durch Marienborn, Harbke und die Börde

23. Oktober 2023, 05:05 Uhr

Mit dem Fahrrad durch Sachsen-Anhalt – klingt im Herbst nicht verlockend. Warum durch Sturm und Kälte radeln, wenn man auch drinnen sein kann? MDR-Reporter Leonard Schubert nimmt Sie mit auf eine kleine Abenteuerreise durch die Börde. Zwischen Herbstwald, Räuberhöhlen, Deutsch-Deutscher Geschichte und Turmruinen wird klar, warum es sich lohnen könnte, aufs Rad zu steigen.

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Mit leisem Rumpeln verschwindet der Zug im leichten Nebel, der über den Bahngleisen liegt. Und mit ihm auch das warme Abteil, in dem ich eben noch einen Schluck Kaffee getrunken habe. Stattdessen stehe ich nun auf dem zugigen Bahnsteig von Marienborn und sammle Motivation, um mich auf mein Fahrrad zu schwingen. Kollege André Plaul fällt das leichter. Er radelt 16.000 Kilometer im Jahr. Ich bin wieder mal ein bisschen skeptisch, was wir hier machen – mitten im Herbst auf dem Rad.

Unser Plan heute: Eine Rundtour durch die Börde fahren. Von Marienborn über Sommerschenburg und Harbke zurück nach Marienborn. Die Region gilt als ausgesprochen vielfältig – nur, dass davon im Nebel gerade noch wenig zu sehen ist. "Darum fahren wir ja hin", sagt André. Und wir radeln los, die ersten Kilometer rein in den Ort Marienborn.

Räuberhöhle Marienborn

Unser erstes Ziel: Eine waschechte Räuberhöhle. Jedenfalls der Legende nach. Ein kleines Stück über der Kapelle von Marienborn, gleich hinter dem Waldrand, schält sich der Eingang zwischen den Bäumen hervor. Davor wartet mit langem Bart und orangfarbener Jacke Reinhard Duckstein auf uns.

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Er sorgt mit der AGtour ehrenamtlich dafür, dass die kulturellen Schätze rund um Marienborn und Sommerschenburg aufbereitet und von möglichst vielen Menschen gefunden werden. Dazu gehört auch die Räuberhöhle. Ursprünglich als Eiskeller genutzt, soll der berühmt-berüchtigte Räuberhauptmann Rose die Höhle zwischendurch als Versteck genutzt haben, um seine Geliebte zu treffen.

Eigentlich ist die Höhle kaum mehr als ein kinderzimmergroßer, in den Sandstein gehauener Raum. Eine Geliebte ist nicht da. Trotzdem überkommt uns eine abenteuerliche Stimmung, als wir dort im Stockdusteren stehen. Im Schein unserer Funzel sieht man einen Pilz aus der Wand wachsen. Eine Motte flattert durchs Dunkel. "RÄUBER PUNK" ist in eine Wand geritzt. Es ist kühl hier drinnen, ruhig, und ein bisschen unheimlich. Findet jedenfalls André, der Angst hat, dass irgendwo Spinnen auf uns lauern könnten. Also gehen wir wieder nach draußen, wo Duckstein zwischen Eichen und Buchen auf uns wartet.

Geschichtsträchtige Region

Die Geschichten sprudeln nur so aus Duckstein heraus. Von Räuberhauptmann Rose, über Flüchtlinge und die Grenzregion, die Kohleflöze, das Dorfleben und archäologische Ausgrabungen bishin zu Dorf- und Familiengeschichten ist alles dabei. Duckstein kennt die Region schon sein Leben lang und das merkt man. Seine Worte lassen Bilder in unseren Köpfen entstehen und die einzelnen Orte lebendig werden. Selbst André, der sonst am liebsten die Kilometer frisst, fällt es schwer, sich loszureißen. Also lassen wir uns auf Ducksteins Angebot ein, uns an ein paar Sehenswürdigkeiten zu treffen, die ohnehin auf der Route liegen.

Der Weg dorthin ist ganz schön anspruchsvoll. Über Waldwege, Landstraßen mit Betonplatten und Kopfsteinpflaster rumpeln wir dahin, dass unsere Packtaschen klappern. Inzwischen ist die Sonne rausgekommen und weil es hier für sachsen-anhaltische Verhältnisse ganz schön hügelig ist, schwitze ich nach ein paar Minuten und muss meine Jacke öffnen. Wach bin ich nun auf jeden Fall.

Und immerhin belohnt jeder Hügel mit einer tollen Aussicht über Wälder und Felder – denn der Nebel hat sich inzwischen gelichtet. Begleitet von Ducksteins Erzählungen besuchen wir das Quellheiligtum "Bullerspring" und das "Naturbad Sommerschenburg" mit türkisfarbenem Wasser und Sandstrand. Er erzählt von Ausgrabungen, die von 7.000 Jahre alter Geschichte erzählen, und empfiehlt uns versteckt gelegene Waldseen und Denkmäler an der Grenzregion, wie zum Beispiel den "Fluchtpunkt Wirpke", der an eine Flüchtlingsroute durch den eisernen Vorhang erinnert.

Hügelige Börde, ruckelige Wege

Dann verabschieden wir uns und strampeln weiter. Mal rumpelnd und ratternd die holperigen Straßen hinunter, mal ächzend und keuchend die langgezogenen Anstiege wieder hinauf. "Wie gefällts dir?", frage ich André. "Ich höre dich nicht, es klappert zu laut", ruft der. Ich will gerade sagen, dass er übertreibt, da beginnt meine Bremse ein bisschen zu schleifen. Eine Schraube hat sich losgerüttelt. Zum Glück habe ich ein Multitool dabei und kann sie schnell wieder festziehen. André isst sein gekochtes Ei. Danach klappern wird beide weniger und können uns wieder unterhalten.

Der Weg ist anspruchsvoll, dafür aber auch unheimlich abwechslungsreich. Ob in den bunt schillernden Laubwäldern oder den weiten Feldern: Überall sind Geschichten zu entdecken. Vor etwas mehr als 30 Jahren war die ganze Gegend Grenzregion und Braunkohlegebiet. Ob alte Kohlegruben und Flöze, bis zum Horizont reichende Felder oder die bunten Laubwälder mit den Räubergeschichten und wilden Tieren: eintönig ist es hier keinesfalls. Man könnte Tage in einzelnen Dörfern verbringen, aber wir haben noch was vor. Eine Verabredung in Harbke. Also treten wir in die Pedale.

Turmruine und Ruheforst Harbke

Vorbei an Feldern und durch einen Wald schwitzen wir uns voran. Wir kommen an durch alte Kohlegruben entstandenen Seen voller Fische und Wildvögel vorbei, passieren eingetrockneten Mais und kämpfen uns entlang von Sonnenblumenfeldern eine Landstraße hoch, die leider keinen Fahrradweg hat.

Mit ordentlich Schwung rollen wir einige Zeit später in Harbke ein. Am Ruheforst treffen wir Andreas Binroth, um die wiederaufbereitete Turmruine zu erkunden. Die Turmruine wurde schon als künstliche Ruine gebaut und ermöglicht einen tollen Ausblick in die Kronen des Harbker Waldes. (Infos zur Turmruine gibt es hier.)

Der Harbker Wald ist wurde bereits im 18. Jahrhundert als Forschungswald genutzt. Viele aufwändig importierte Baumarten aus dem Ausland wurden hier angepflanzt, kultiviert, erforscht und später auch in andere Regionen exportiert. Die Baumvielfalt macht den Wald heute noch aus und in Zeiten des Klimawandels resistenter als viele andere Wälder.

Ein Mann steht in einem alten Gebäude
Andreas Binroth liebt die Ruhe des Waldes. Bildrechte: MDR/André Plaul

Die Farben des Laubwaldes sind gerade in diesem späten Herbst unglaublich. Heute ist ein Teil des Waldes Ruheforst. Auch für Binroth strahlt der Wald eine große Ruhe aus. Wir wissen sofort, was er meint und merken auf dem Turm kaum, wie die Zeit verfliegt. Doch irgendwann müssen wir weiter.

Grenzdenkmal Marienborn

Im Licht der Abendsonne fahren wir die letzten Steigungen des Tages hinauf, wieder zurück Richtung Marienborn. Hier wartet für uns die letzte Station des Tages auf uns: Die Gedenkstätte Deutsche Teilung, direkt an der Autobahn Zwei.

Die Gedenkstätte Deutsche Teilung Marienborn in der Abendsonne
Die Gedenkstätte Deutsche Teilung Marienborn. Bildrechte: MDR/André Plaul

Noch vor etwas mehr als dreißig Jahren war Europas Teilung hier deutlich zu spüren. Die ewigen Kontrollen und Schikanen an der Grenze, das Bangen der Menschen, das Leid der Flüchtlinge. Heute ist der Originalschauplatz von damals ein begehbares Museum und Mahnmal. Auch wenn wir die Grenzanlage nur noch aus Erzählungen kennen, berührt uns die Geschichte bei jedem Besuch.

Rückfahrt und Fazit

Eine gewisse Demut begleitet uns, als wir – ganz selbstverständlich ohne Kontrollen – die letzten Kilometer zum Bahnhof rollen. Durch schönes, dämmeriges Licht bis zum Bahnhof Marienborn, wo unsere Tour endet und wir zurück in die Bahn nach Magdeburg steigen.

Wieder einmal war es eine Tour, auf der ich tollen Menschen begegnet bin und meine Heimat ein Stück besser kennengelernt habe. Denn unsere Strecke erzählt Geschichten von über 7.000 Jahren Menscheitsgeschichte. Von Herrschern, Kriegen, Teilung, Wiedervereinigung und Klima – und von den Menschen, die hier lebten und leben und all das geprägt haben. Begleitet von einer leisen melancholischen Herbstatmosphäre.

MDR (Leonard Schubert)

Dieses Thema im Programm: MDR SACHSEN-ANHALT – Das Radio wie wir | 24. Oktober 2023 | 06:32 Uhr

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