Depressionen und Ängste Wenn der Lockdown die Seele belastet
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15. Januar 2021, 15:11 Uhr
Die Corona-Maßnahmen empfinden die meisten als bedrückend. Doch was macht das Leben auf Distanz mit denen, die psychisch vorerkrankt sind? Drei Betroffene erzählen – von Panikattacken, Tränen und Hoffnung.
Manchmal hilft die Kälte des Winters. Wenn die Gedanken im Kopf zu wirr werden, muss Martin* raus. Spazieren gehen zum Beispiel. "Meinen Körper spüren", sagt er. "Sonst", beginnt er den nächsten Satz, ehe kurz Stille herrscht. "Sonst wäre mir das alles zu viel."
Martin heißt nicht Martin. Sein richtiger Name soll hier aber lieber nicht stehen. Denn es geht um ein "Tabu-Thema, das für viele leider immer noch ein Zeichen von Schwäche ist", wie er sagt. Weshalb er befürchtet, "dass ich abgeschrieben werde als Psycho."
Es geht um mentale Gesundheit in der Corona-Pandemie. Um Angst, Panikattacken und Depressionen – und darum, wie ein Lockdown solche psychischen Probleme verstärken kann. Martin ist einer von drei Betroffenen, die MDR SACHSEN-ANHALT ihre Geschichte erzählen.
Martin: Im Lockdown häufig Panikattacken
Er ist 25 Jahre alt und studiert an der Burg Giebichenstein, der Kunsthochschule in Halle. Nebenbei verdient er sein Geld mit Grafikdesign. Martin ist Single, aber er lebt nicht allein. "Ich habe mehrere Mitbewohner in meiner WG", sagt er. Und: "Darüber bin ich auch unfassbar glücklich." Denn: "Ohne sie wären die vergangenen Monate noch härter gewesen – und ich sehr einsam."
Ängstlich sei er schon immer gewesen, erzählt Martin. Panikattacken hatte er bereits vor der Pandemie, allerdings in vergleichsweise weiten und unregelmäßigen Abständen. "Mittlerweile", sagt er mitten im neuerlichen Lockdown im Januar 2021, "kann ich aber fast die Uhr danach stellen. Alle zwei bis drei Tage kommt eine."
Die mentale Gesundheit der Menschen ist mindestens genau so wichtig wie der Infektionsschutz.
Dann schießen "ganz viele unterschiedliche Gedanken in den Kopf, die mich überfordern und orientierungslos machen. Ich atme dann schwieriger, meine Bewegungen werden ganz starr und ruckartig und ich nehme jeden äußeren Reiz als bedrohlich/verängstigend wahr", sagt er. Überhaupt "bin ich gerade in den Phasen des Lockdowns viel angespannter und negativer."
Wann entspannt sich die Situation endlich? Wann wird es wieder normal? Oder bleibt das jetzt etwa die neue Normalität? Martin sagt: "Du beschäftigst dich täglich mit solchen Fragen und deshalb ist die Anspannung immer da. Die Angst staut sich in mir auf, aber es gibt keinen Ort mehr, wo ich sie entleeren kann."
Schwimmen war immer so ein Mittel gewesen. Doch aktuell ist das nicht möglich. "Ich habe beim Schwimmhallenbetreiber angefragt, ob sie eine Ausnahme machen können, wenn ich ein Attest vorlege", erzählt Martin. Drei Jahre lang war er in therapeutischer Behandlung, erarbeitete sich Werkzeuge, um mit seinen Problemen umzugehen. "Aber das ging leider nicht. Die Hallen sind halt wirklich für jeden geschlossen."
Corona verstärkt Leiden depressiver Menschen
Menschen mit Depressionen sind in Deutschland stärker von Folgen der Corona-Maßnahmen betroffen als die Allgemeinbevölkerung. Das zeigt eine Studie der Stiftung Deutsche Depressionshilfe, dem Deutschland-Barometer Depression. So hätten Depressive beispielsweise den Lockdown im Frühjahr als deutlich belastender erlebt, heißt es.
Mehr als fünf Millionen Menschen sind nach Angaben der Stiftung in Deutschland depressiv erkrankt. Im Frühjahr habe fast jeder zweite dieser Patienten Einschränkungen bei der Behandlung erlebt, zum Beispiel durch ausgefallene Arzttermine oder Klinikaufenthalte. Auch jetzt stellten Kliniken Ressourcen für die Behandlung von Corona-Infektionen um.
Der Studie zufolge empfanden rund drei Viertel der Menschen mit Depressionen (74 Prozent) den Lockdown im Frühjahr als bedrückend. In der Allgemeinbevölkerung waren es 59 Prozent. Depressive Menschen hätten insbesondere unter einer fehlenden Tagesstruktur gelitten: Dies gaben 75 Prozent an (gegenüber 39 Prozent der Allgemeinbevölkerung). Deutlich mehr als ein Drittel (43 Prozent) von ihnen gab an, dass es zu Konflikten und Streit kam. In der Allgemeinbevölkerung sagte das weniger als ein Fünftel (18 Prozent) der Befragten. Auch blieben 48 Prozent tagsüber eher im Bett (Allgemeinbevölkerung: 21 Prozent).
Psychiater Ulrich Hegerl, der Vorsitzende der Stiftung, erklärte, eine fehlende Tagesstruktur erhöhe das Risiko, sich zurückzuziehen – und lange Bettzeiten könnten Depressionen verstärken. "Depression ist eine schwere, oft lebensbedrohliche und dringend behandlungsbedürftige Erkrankung", so Hegerl.
Angst vor dem "Online-Zeugs"
Studieren kann Martin zwar. Mittlerweile allerdings wieder ausschließlich online. "Diese Lehrsituation ersetzt den Präsenzunterricht auf keinen Fall", sagt er. Einmal habe er auch schon aussteigen müssen aus einer virtuellen Vorlesung. "Ich konnte nicht mehr", erinnert er sich und sagt: "Wenn du dich fast nur noch im digitalen Raum bewegst, wirft dich das aus der real existierenden Welt."
Martin hat Angst. Davor, "dass dieses ganze Online-Zeugs alles für immer verändert. Dass die Entwicklung immer höher, schneller, weiter wird, weil du immer überall dabei sein kannst – und dann auch musst. Und dass dadurch der Leistungsdruck in unserer Gesellschaft noch mehr wächst."
Und dann erzählt Martin von diesem einen Moment dieser Corona-Zeit, der ihn zum Weinen brachte: "Mein Neffe musste in Quarantäne, weil eine Erzieherin im Kindergarten positiv getestet wurde. Er ist ein sehr aktiver Junge, konnte sich aber nicht austoben. Er hat dann irgendwann am Ende dieser Zeit angefangen zu stottern. Als ich das gehört habe, musste ich schlucken."
Was er sich wünscht: "Die mentale Gesundheit der Menschen, und zwar aller Menschen, ist mindestens genau so wichtig wie der Infektionsschutz. Und wenn jemand mit psychischen Problemen das Bedürfnis nach körperlicher Nähe hat, muss das möglich sein – egal, welche Regeln gelten."
Kristin: Weinen mit den Kindern
Einmal war einfach alles zu viel. Einer dieser schlechten Tage, wie ihn jeder hat. Die Kinder – ein Junge und ein Mädchen, drei und vier Jahre alt – weinten. Und: "Ich habe mich einfach zu ihnen gesetzt und mitgeweint."
Das sagt Kristin. Auch sie will ihren vollen Namen hier nicht lesen, nur den Vornamen. Da hat sie dieselben Sorgen wie Martin. Sie lebt in Halle, arbeitet in der Verwaltung. Ihr Ehemann ist selbstständig und auch in der Corona-Krise stark eingespannt. "Unsere Existenz hängt von seinem Einkommen ab", sagt Kristin. Also ist sie gerade in der Lockdown-Zeit oft mit den Kindern allein.
Die Kleinen "dürfen ihre Emotionen frei ausleben", erzählt die Mutter. "Das heißt, sie dürfen auch mal schreien und weinen, wenn ihnen danach ist." Ist die Kita geschlossen, geschieht all das den ganzen Tag lang zuhause. "Das zu begleiten, kostet Energie", sagt die 34-Jährige.
Ihren Job erledigt Kristin weiterhin. Immer abends im Homeoffice, wenn die Kinder im Bett sind, sitzt sie am Schreibtisch noch bis Mitternacht. Zum Glück gehe das, sagt sie, ihr Arbeitgeber zeige viel Verständnis. Eine unheimliche Belastung bleibt es dennoch. "Das ging im ersten Lockdown nicht lange gut", sagt sie. Der letzte Strohhalm: Notbetreuung. Sie hat den Antrag darauf gestellt. "Ich will es nicht wieder soweit kommen lassen, dass ich psychisch vollkommen fertig bin."
Eigentlich sei ihr Beruf nicht systemrelevant, sagt Kristin. Deshalb ist der Antrag notwendig. Doch schon allein die Frage nach der Bedeutung ihrer Arbeit belastet sie. "Du fragst dich, wie wichtig dein Job ist. Du zögerst, Notbetreuung zu beantragen, um nicht vielleicht jemand anderem den Platz wegzunehmen", erzählt sie.
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Wenig Platz, keine Freiräume
Wie Martin war auch Kristin bereits vor der Corona-Pandemie in psychotherapeutischer Behandlung. "Ich brauche meine Freiräume", sagt sie. "Zeit für mich." Doch die gibt es im Lockdown kaum. Irgendetwas gibt es immer zu tun: Kochen, Waschen, Putzen, Kinder – "dafür ist die Mutter zuständig, das ist doch das veraltete Geschlechterbild, das sich eigentlich schon erledigt haben sollte", sagt Kristin. Im Lockdown aber erlebt es vielerorts eine Renaissance.
Die vierköpfige Familie aus Halle wohnt in einer kleinen Wohnung ohne Balkon. Einfach mal raus in den eigenen Garten, das ist unmöglich. "Ich denke, dass die Wohnsituation auch entscheidend dazu beiträgt, wie du so einen Lockdown wahrnimmst und dann auch mental verarbeiten kannst", sagt Kristin. "Wir hätten gerne mehr Platz."
Belastend sei auch das ständige Hin und Her, sagt Kristin. Sie verstehe das, niemand habe Erfahrungen mit solch einer Pandemie, auch die politischen Entscheider nicht. Aber: "Wenn wir irgendwann gewusst hätten, okay, die Kita ist jetzt für vier Wochen geschlossen, dann hätten wir uns darauf einstellen können. Mental wäre das einfacher gewesen, als oft nicht so richtig zu wissen, wie die Regelung in der nächsten Woche eigentlich aussieht."
Bis Ende Januar bleiben Sachsen-Anhalts Kitas mindestens noch geschlossen. Was Kristin bleibt, ist die Hoffnung auf die Notbetreuung. Und darauf, "dass wir irgendwann wieder in unseren Alltag gehen können, ohne an Corona zu denken", sagt sie. "Bis dahin beißen wir uns durch und sagen uns: 'Wir schaffen das!'" Auch, wenn manchmal die Tränen fließen.
Franziska: "Es muss mehr darüber gesprochen werden"
Manchmal verpasst das Schicksal einem Schlag um Schlag. So war es Ende 2019 für Franziska Raith. Erst wurde eine chronische Krankheit bei ihr diagnostiziert. Dann starb plötzlich ihre Mutter. Schließlich verlor sie ihren Job. Nervenzusammenbruch. Angst vor dem, was kommt – und es kam Corona, eine weltweite Pandemie. "Seitdem", sagt die 37-Jährige, "versuche ich mich psychisch über Wasser zu halten."
Franziska Raith hat sich bewusst dazu entschieden, ihren vollen Namen veröffentlichen zu lassen. Ein Schritt, der Mut erfordert – Martin und Kristin haben die Gründe genannt. Aber: "Nur, wenn du offen damit umgehst, kannst du auf Verständnis hoffen, das aktuell noch vielen bei dem Thema fehlt", sagt sie. Und: "Es muss mehr über mentale Gesundheit generell und besonders in der Corona-Krise gesprochen werden."
Deshalb spricht sie mit MDR SACHSEN-ANHALT. Sie erzählt von ihrer Sozialphobie, der Angst vor dem Kontakt mit Menschen, gegen die sie seit ihrer Jugend kämpft. Social Distancing käme ihr da doch ganz gelegen, könnte man meinen. Doch so wird das Problem verdrängt, ohne Lösungen zu finden.
Und es gibt diese Lösungen ja. "Menschen mit Panikattacken oder Depressionen wissen meistens, was sie dagegen tun können", sagt Franziska Raith. Sie fasste im August dieses Jahres beispielsweise den Entschluss, sich im Fitnessstudio anzumelden. Sie wurde ausgeglichener, selbstbewusster. Doch dann stiegen die Infektionszahlen wieder – und Fitnessstudios wurden geschlossen.
Homeschooling als Rettung
Die Mutter zweier Kinder, elf und zwölf Jahre alt, lebt mit ihrer Familie in einem kleinen Dorf in der Nähe von Teutschenthal. Dort gibt es viel Feld und wenige Menschen. Ihr Mann arbeitet von früh bis spät. Oft ist Franziska Raith mit den Kindern allein – und übt sich nun erneut im Homeschooling.
"Zum Glück gibt es das", sagt sie. "Das Homeschooling hat mich schon im ersten Lockdown vor einer depressiven Phase gerettet. Du hast etwas zu tun, sitzt nicht nur rum." Du hast einen Grund, um aufzustehen. "Du musst jeden Morgen versuchen, etwas Positives zu sehen und den Kopf dazu zwingen, nicht zu viel nachzudenken oder zu grübeln. Gerade in der dunklen Jahreszeit fällt einem das oft schwer."
Nur, wenn du offen damit umgehst, kannst du auf Verständnis hoffen, das aktuell noch vielen bei dem Thema fehlt.
Denn Corona macht ihr Angst. Ihre Cousine war kürzlich infiziert, erzählt Franziska Raith. "Ihr ging es wirklich nicht gut. Das macht es greifbar und verstärkt meine Angst." Deshalb wollte sie eine vom Arbeitsamt verordnete Maßnahme verschieben. Dazu hätte sie eine Krankschreibung benötigt. Ihr Hausarzt sei allerdings im Urlaub gewesen. Und "sich dem Vertretungsarzt anzuvertrauen, ist schwierig, wenn du eine Sozialphobie hast", erzählt sie. Keine Krankschreibung, kein Arbeitslosengeld – so hätte es das Amt entschieden.
"Wenn du dann deine psychischen Probleme als Grund anführst, warum du eine Frist verpasst oder einen Termin, dann erntest du meistens Unverständnis", sagt Franziska Raith. "Weil du unsicher wirkst, denken viele, das sind nur Ausreden." Doch Panikattacken, Depressionen oder andere mentale Probleme sind real. Franziska Raith war ebenfalls in therapeutischer Behandlung. In den vergangenen Monaten sei es jedoch schwer gewesen, "einen neuen Therapieplatz zu bekommen, was vor Corona mit langen Wartelisten ja schon nicht leicht war".
Nun hofft sie vor allem auf den Frühling. Darauf, dass es draußen wieder schöner wird, heller, freundlich – und dass das Schicksal es nun bald einmal wieder gut mit ihr meint. "Irgendwann", sagt Franziska Raith zum Abschied, "kommen wieder bessere Zeiten – hoffentlich."
*Name von der Redaktion geändert. Der echte Name ist der Redaktion bekannt.
Kontakt zur Telefonseelsorge
Sie haben Selbsttötungsgedanken oder eine persönliche Krise? Die Telefonseelsorge hilft Ihnen rund um die Uhr unter: 0800/1110111 und 0800/1110222. Der Anruf ist anonym und taucht nicht im Einzelverbindungsnachweis auf. Auf der Webseite finden Sie weitere Hilfsangebote. Das Info-Telefon Depression erreichen Sie unter 0800 / 33 44 533, an folgenden Tagen: Montag, Dienstag und Donnerstag von 13:00 bis 17:00 Uhr sowie Miittwoch und Freitag von 08:30 bis 12:30 Uhr.
Über den Autor
Daniel George wurde 1992 in Magdeburg geboren. Nach dem Studium Journalistik und Medienmanagement zog es ihn erst nach Dessau und später nach Halle. Dort arbeitete er für die Mitteldeutsche Zeitung.
Vom Internet und den neuen Möglichkeiten darin ist er fasziniert. Deshalb zog es ihn im April 2017 zurück in seine Heimatstadt. Bei MDR SACHSEN-ANHALT arbeitet er seitdem als Sport-, Social-Media- und Politik-Redakteur arbeitet, immer auf der Suche nach guten Geschichten, immer im Austausch mit unseren Nutzern.
Quelle: MDR/dg
Dieses Thema im Programm: MDR SACHSEN-ANHALT HEUTE | 14. Januar 2021 | 19:00 Uhr
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