Ein kleines Mädchen hüpft auf einem Trampolin in einem umzäunten Garten vor einem weiten Feld
Pauline genießt den Platz in ihrem Zuhause in Schlanstedt. Bildrechte: MDR Sachsen-Anhalt/Alisa Sonntag

Pflegefamilien in Sachsen-Anhalt Jonas darf nicht mit auf den Wandertag

18. Juli 2020, 16:32 Uhr

Immer mehr Kinder müssen in Sachsen-Anhalt in Heimen leben, weil es an Pflegefamilien fehlt. Wie das Leben mit einem Pflegekind aussieht, ist für viele schwer vorstellbar. MDR SACHSEN-ANHALT eine Pflegefamilie in ihrem Alltag besucht – mit allen Höhen und Tiefen.

Alisa Sonntag
Bildrechte: MDR/Martin Paul

Vormittags herrscht im Hause Kube noch Ruhe. Das Trampolin steht einsam und starr im Garten, das Holzpferd wartet unter dem Carport, bis es wieder gebraucht wird. Die Sonne flimmert in der Ferne. Nur die Mähdrescher auf dem Feld nebenan stören kurz den vormittaglichen Frieden auf der Terrasse. Familie Kube wohnt in Schlanstedt, am Rand des Dorfes. An zwei Seiten grenzt das große Haus mit dem Garten voller Spielsachen an Felder. Ein Paradies für Kinder und ein riesiges Haus mit einer Menge Platz. Kathrin Kube und ihr Mann haben in dem Haus nicht nur ihre drei leiblichen Kinder aufgezogen.

Insgesamt haben hier in den letzten zehn Jahren sieben verschiedene Pflegekinder gelebt. Momentan sind es zwei Dauerpflegekinder: Pauline, 9, und Jonas, 12. Jonas wohnt seit zehn Jahren bei Familie Kube, Pauline seit sechs. Dass die beiden zurück zu ihren leiblichen Eltern gehen werden, ist unwahrscheinlich, sagt ihre Pflegemama.

Seit zehn Jahren engagiert sich Kathrin Kube im Pflege- und Adoptivelternverein Halberstadt, seit 5 Jahren im Landesverband. Mittlerweile ist sie dort Vorsitzende. Genauso lange gibt sie auch Pflegekindern ein neues Zuhause. "Meine eigenen Kinder waren schon immer sehr sozial, jeder hat immer Freunde mit nach Hause gebracht", erzählt sie. Manchmal hätten sie beim Essen zu zehnt um den Tisch gesessen. "Wir haben damals festgestellt: Das ist eigentlich schön. So sind wir auf die Idee gekommen, Pflegekinder aufzunehmen." Auch die eigenen Kinder hätten die Idee gut gefunden. Also hätten sie es, erst einmal zum Ausprobieren, mit einer Kurzzeitpflege versucht. Ein Vierteljahr später sei Jonas gekommen.

Pflegekinder brauchen oft intensive Betreuung

Die Kinder zu betreuen, sei für sie damals kein Problem gewesen. Weil eine ihrer leiblichen Töchter eine Behinderung hat, musste sie ohnehin zu Hause sein und sie betreuen. Deswegen war sie auch auf den höheren Betreuungsaufwand für ihre Pflegekinder vorbereitet. Viele Pflegekinder würden in jungen Jahren in ihren Herkunftsfamilien nicht genügend gefördert und seien deswegen in ihrer Entwicklung verzögert. Sie müssen regelmäßig zu Therapie-Terminen, beispielsweise in der Psycho-, oder Physiotherapie.

Das bestätigt auch Wolfgang Heine. Im Landesverband der Pflegeeltern ist er Kathrin Kubes Vertreter. Auch er hat eine Pflegetochter, die bei Apfelsaft und Kuchen mit am Terrassentisch von Familie Kube sitzt. Jasmin ist 12 Jahre alt und schwerst hörgeschädigt. "Meine leiblichen Kinder sind quasi von allein groß geworden, aber bei Jasmin ist das anders."Sie sei schon im sechsten Schwangerschaftsmonat zur Welt gekommen. "Wenn ich bei ihr wirklich eine Entwicklung sehen will, muss ich mit Ärzten und Therapeuten arbeiten", sagt er. Dass Pflegekinder oft sehr viel mehr Aufwand bedeuteten als eigene Kinder, müsse Pflegeeltern bewusst sein. Und trotzdem: "Es ist eine wunderschöne Aufgabe. Sie hält jung und schweißt mich und meine Frau zusammen."

Das sieht auch Kathrin Kube so. Dass die Kinder nicht nur sie, sondern noch eine andere Mutter hätten, sei für sie kein Problem: "Auch, wenn sie zu ihrer leiblichen Mama ‚Ich hab dich lieb‘ sagen oder so – damit habe ich meinen inneren Frieden geschlossen." Ihr Verbandskollege Heine erzählt: "Bei uns gibt es Mama 1 und Mama 2, so hat Jasmin die beiden auch im Handy abgespeichert. Als meine Frau einmal danach gefragt hat, hat sie gesagt: ‚Du machst alles für mich, also bist du Mama 1. Aber die andere Mama hat mich auch lieb.‘"

Jasmin hat zu Hause eine Pinnwand, da hängen Fotos von allen Menschen drauf, die ihr wichtig sind. Wir hängen da, aber auch ihre leibliche Mama. Aber wenn es ihr mit der zu viel wird, dann hängt sie deren Foto auch mal eine Zeit lang wieder ab.

Wolfgang Heine, Pflegevater

Treffen mit den leiblichen Eltern: Ein Streitthema

Es gibt für die Kinder nichts Schlimmeres, als ihnen ihre Herkunft zu verheimlichen, sagt Heine: "Das ist ein Vertrauensbruch, den man später nicht mehr kitten kann." Kube nickt gedankenverloren und starrt auf den Tisch. "Es ist unheimlich wichtig, dass sie wissen, woher sie kommen." Ihr Pflegesohn Jonas habe anfänglich keinen Kontakt zu seinem biologischen Vater gehabt – aber offenbar viel über ihn nachgedacht: "Ich habe dann nur aus dem Kindergarten erfahren, dass er die tollsten Geschichten erzählt hat. Zum Beispiel, dass sein Vater Forscher im Urwald wäre."

Der Kontakt mit den leiblichen Eltern sei ein Streitthema unter Pflegeeltern. Nicht immer laufen die Treffen problemlos ab. "Als sie klein war, habe ich Jasmin manchmal noch zu den Treffen mit ihrer Mutter begleitet", erzählt Wolfgang Heine. Später habe allerdings seine Frau die Aufgabe übernommen: "Ich habe da so viel Wut und Frust der leiblichen Mutter gegenüber empfunden – keine Chance, da konnte ich nicht noch einmal mit hingehen." Einmal habe Jasmin sich mit ihren beiden älteren Geschwistern, die auch in Pflegefamilien leben, mit der leiblichen Mutter treffen wollen. "Die zwei Großen haben ihr Taschengeld investiert und gebastelt und sich sehr gefreut. Und dann standen wir am Bahnhof und die Mutter kam einfach nicht." Er schüttelt den Kopf.

Kathrin Kube hat weniger negative Erfahrungen mit den Besuchen gemacht. Jonas sieht seine Mutter, aber auch seinen Vater und seine Großeltern regelmäßig. Die Treffen finden zum Beispiel in der Eisdiele oder auch im Park statt – niemals aber bei den Kubes zu Hause. Das soll für Jonas ein geschützter Raum bleiben. "Einer von uns ist auch immer bei den Treffen dabei, da legt Jonas großen Wert drauf", erzählt Kube lächelnd. Seine kleine Schwester Pauline muss um die Treffen mit ihrer Mutter mehr kämpfen. Meist melde die Mutter sich nicht von alleine, zweimal sei sie auch schon bei Treffen nicht erschienen. Alles in allem klappe das trotzdem gut: "Klar, manchmal sind die Kinder danach ein bisschen aufgewühlt. Oder sie sagen so Dinge wie ‚Du bist gar nicht meine Mama‘. Aber dafür entschuldigen sie sich dann auch immer wieder."

Jonas darf nicht mit auf den Wandertag

Auf einmal wird es im Haus lauter. Pauline kommt von der Schule nach Hause, schmeißt ihren Ranzen in die Ecke und kommt auf die Terrasse. Gute Laune sieht anders aus. "War‘s wieder blöd in der Schule?", fragt Kathrin Kube und gleich sprudelt es aus dem Mädchen hervor: "Jonas durfte heute nicht mit auf den Wandertag!" Warum, das weiß sie nicht. Sie holt sich eine Umarmung ab und geht dann wieder rein. Hausaufgaben machen, sagt sie. Sie wirkt, als müsste sie die erste Hälfte ihres Tages erst einmal verdauen. Als ihr großer Bruder nach Hause kommt, hat er denselben Gesichtsausdruck wie sie. Warum er und ein anderer Junge, ebenfalls ein Pflegekind, nicht mit auf den Wandertag durften, kann er nicht so recht erklären. Auch er zieht sich in sein Zimmer zurück.

Kathrin Kube bleibt auf der Terrasse zurück. Wütend nimmt sie das Telefon in die Hand, drückt auf den Tasten herum, legt es wieder weg. "Wir haben jetzt wieder die Aufgabe, die Kinder zu stabilisieren", sagt sie, "am liebsten würde ich in der Schule anrufen und fragen, was da schon wieder passiert ist." Vorerst ruft sie nicht an. Die Pflegekinder hätten es in der Schule schwer, sagt sie. "Als Pflegekind hat man direkt den Stempel ‚unerzogen‘." Natürlich seien manche der Pflegekinder verhaltensauffällig, aber eben nicht alle. Mit Jonas gebe es nie Probleme. Er habe nur manchmal Panikattacken und könne in solchen Momenten auf die Fragen der Lehrer nicht antworten: "Wenn er dann nichts sagt, denken die immer, er sei schlecht erzogen." Kube seufzt.

Auch sie habe als Pflegemama mit Vorurteilen zu kämpfen: "Oft kommt der Vorwurf, dass wir das nur des Geldes wegen machen würden", sagt sie. Für jedes Kind bekommt sie monatlich eine Aufwandsentschädigung von 250 Euro, außerdem einen sogenannten Erziehungsbetrag von 600 bis 800 Euro. Lebt ein Kind dauerhaft in einer Pflegefamilie, bekommt diese außerdem auch das Kindergeld für die Kinder.

Was das Jugendamt kontrolliert, bevor Familien Pflegekinder aufnehmen dürfen:

  1. Das Führungszeugnis: Wer vorbestraft ist, kann keine Pflegefamilie werden.
  2. Schufa-Auskunft: Um eine Pflegefamilie zu werden, muss man finanzielle auf eigenen Beinen stehen können. So will das Jugendamt sichergehen, dass Familien nicht aus finanziellen Gründen ein Kind aufnehmen wollen.
  3. Persönliche Situation: In Einzelgesprächen wollen Mitarbeiter des Jugendamts sicherstellen, dass potentielle Pflegeeltern die nötige emotionale Reife und Stabilität haben, um für ein Pflegekind zu sorgen.
  4. Gesundheitliche Situation: Mithilfe von ärztlichen Attesten will das Jugendamt sichergehen, dass Pflegeeltern nicht schwer psychisch oder physisch krank sind.
  5. Seminar: In Seminaren, die über mehrere Abende gehen, werden künftige Pflegeeltern auf ihre neue Aufgabe vorbereitet. Dort lernen sie unter anderem, wie Pflegeeltern und Jugendamt zusammenarbeiten und was sie über die rechtliche Situation der Kinder wissen müssen.

Ein finanzielles Risiko

Trotzdem, sagt Kube: Nur des Geldes wegen würden die wenigsten diese Aufgabe übernehmen. Für Kube bedeutet Pflegemama zu sein sogar eher finanzielle Sorgen. Denn von dem Geld, was sie vom Staat für die Pflegekinder bekommt, ist in all den Jahren nichts auf ihr Rentenkonto gegangen. Sie ist finanziell von ihrem Mann abhängig – bei einer Trennung droht ihr die Altersarmut.

Finanzielle Einbußen wie diese schrecken potentielle Pflegeeltern ab, sagt Wolfgang Heine. Deswegen kämpft der Landesverband der Pflege- und Adoptiveltern schon lange dafür, dass sich die Situation von Pflegeeltern verbessert. Nicht nur im Bezug auf die Rente. Es geht unter anderem auch darum, wer zahlt, wenn die Pflegekinder im Haus ihrer Pflegeeltern etwas kaputt machen. "Haftpflichtversicherungen für die Kinder gelten nur, wenn sie außerhalb ihres Zuhauses etwas kaputtmachen. Aber verhaltensauffällige Kinder nehmen eben auch mal ein Zimmer auseinander." Im Fall des Falles blieben Pflegeeltern allerdings auf den Kosten sitzen. 

Was Heine außerdem stört: Die Regelungen sind von Landkreis zu Landkreis unterschiedlich. In dem einen Landkreis bekommen Pflegeeltern in der Elternzeit auch Elterngeld, im nächsten nicht. Einige bekommen jährlich ein Budget, das sie für Weiterbildungen nutzen können, andere müssen selbst zahlen. Er wünscht sich einheitliche Regelungen für alle Landkreise.

Die Jugendämter "spielen Feuerwehr"

Ab August könnten die Forderungen der Pflegeeltern mehr Wirkung haben. Ab dann will das Land Sachsen-Anhalt den Verband der Pflege- und Adoptiveltern mit einer Geschäftsstelle und einem Geschäftsführer unterstützen. Als Bindeglied zwischen den Pflegeeltern und den Jugendämtern haben der Verband und die darin organisierten Vereinen eine wichtige Rolle, sagt Heine. Denn auch die Zusammenarbeit mit den Jugendämtern laufe nicht immer optimal.

Eigentlich müssten aller sechs Monate Gespräche zwischen dem Jugendamt, den leiblichen Eltern und den Pflegeeltern stattfinden. Doch oft gibt es diese nicht. Wann sie ihr letztes "Hilfeplangespräch" mit dem Jugendamt hatte, weiß Kathrin Kube nicht mehr genau. "Fünf Jahre ist es bestimmt her", schätzt sie. Manche Jugendämter wissen vor lauter Arbeit nicht mehr, wohin. "Mir kommt es vor, als würden manche Betreuer im Jugendamt nur noch Feuerwehr spielen und von Brand zu Brand rennen", sagt Heine frustriert. Teilweise ist ein Betreuer für 60 oder 80 Kinder zuständig. Das Deutsche Jugendinstitut empfiehlt ein Verhältnis von 1:35 oder 1:40.

Aber nicht nur an Sozialarbeitern fehlt es, sondern auch an Pflegefamilien. "Etwa 2.500 Kinder leben in Sachsen-Anhalt bei Pflegeeltern", sagt Wolfgang Heine, "doppelt so viele in Kinderheimen. Viele davon sind Säuglinge und Kleinkinder." Gerade die Kleinsten, findet er, wären in Familien deutlich besser aufgehoben. Zumal ein Heimplatz das Land vier Mal so viel koste wie die Unterbringung in einer Pflegefamilie.

Nicht immer ein Happy End

Allerdings gibt er auch zu: Ab einem gewissen Alter kann man Kinder nicht mehr so einfach in einer Pflegefamilie unterbringen: "Machen wir uns nichts vor: Ab acht oder neun klappt das meist nicht mehr. Dann sind die Kinder zu kaputt." Kathrin Kube hat das schon selbst erlebt. Zweimal hat sie 10-jährige Jungen bei sich aufgenommen. Beide Male ist es schief gegangen. Einer der Jungen hat sogar fünf Jahre in der Familie gelebt. Zum Schluss, sagt sie, habe sie den Stress zu Hause selbst gesundheitlich nicht mehr ausgehalten. "Sein Vater war tot, seine Mutter hatte kein Interesse an ihm – und er hat es einfach nicht ertragen, eine glückliche Familie um sich herum zu haben", sagt sie. "Von Lügen, Wutanfällen, Sachen kaputtschlagen bis hin zu Klauen war da alles dabei." Gespräche und Therapien hätten nicht geholfen.

Für Pflegekindern gibt es nicht nur Geschichten mit Happy End. Bei Jasmin, Pauline und Jonas sieht es aber nach einem aus. Pauline braust wie ein Wirbelwind durch das Haus der Kubes, hält allen ein neues Buch unter die Nase, singt Disneylieder und hüpft auf dem Trampolin. Als das Interview vorbei ist, begleitet sie uns zum Zaun. Zum Abschied ruft sie fröhlich: "Aber nicht mein Holzpferd mitnehmen! Damit will ich noch spielen!"

Alisa Sonntag
Bildrechte: MDR/Martin Paul

Über die Autorin Neugierig ist Alisa Sonntag schon immer gewesen – mit Leidenschaft auch beruflich. Aktuell beendet sie ihre Master in Multimedia und Autorschaft in Halle. Dabei schreibt sie außer für den MDR SACHSEN-ANHALT unter anderem auch für die Journalismus-Startups Buzzard, Veto-Mag und Krautreporter.

Quelle: MDR/aso

Dieses Thema im Programm: MDR SACHSEN-ANHALT HEUTE | 13. Juli 2020 | 19:00 Uhr

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