Kindeswohl Projekt in Köthen: Wenn Kinder nicht mehr bei ihren Eltern leben

13. September 2021, 16:09 Uhr

Die Familie ist der Ort, an dem Kinder die für ihr Leben prägenden Erfahrungen machen. Doch was tun, wenn die Familie für Kinder kein Umfeld bietet? Die Entscheidung, Kinder aus ihrem Umfeld herauszunehmen, gehört zu jenen staatlichen Maßnahmen, die tief in das persönliche Leben der betroffenen Familien eingreifen. Teil 2 des MDR-Schwerpunktes über Kleinkinder in schwierigem Umfeld.

Portrait-Bild von Uli Wittstock
Bildrechte: Uli Wittstock/Matthias Piekacz

Es gibt Orte, an denen man nicht ungefragt fotografieren kann, weil es um Menschen geht, die in ihrem Persönlichkeitsrecht besonders schützenswert sind. Dies trifft zum Beispiel für Kinder zu, die, aus unterschiedlichen Gründen, nicht zu Hause leben. Die Kleinstwohngruppe "Ziehte-Knirpse" in Köthen ist so ein Ort, wo Kinder wohnen, weil ihre Eltern nicht das Umfeld bieten können, das für eine unbeschwerte Kindheit nötig ist.

Die Zeiten des Wegsperrens in Kinderheimen mit Massenschlafsälen und militärischem Drill sind inzwischen glücklicherweise vorbei. Der Eingang zur Wohngruppe wirkt hell und einladend, Glasflächen statt hoher Mauern, und das nicht am Rande der Stadt, sondern ziemlich zentral gelegen. Das sei einer der großen Vorteile sagt Bettina Nauss, die Chefin der Knirpsen-Gruppe. Man sei trotz aller Probleme Teil dieser Gesellschaft und nicht ausgeschlossen.

Keine Kinderaufbewahrung

Betritt man den Flur, wird schnell deutlich, dass der Name "Ziether-Knirpse" kein Zufall ist. Kinderwagen stehen im Eingangsbereich, an der Wand hängen Jacken, darunter stehen kleine Schuhe, sorgsam aufgereiht. Derzeit werden sieben Kinder in der Gruppe betreut, von fünf Erzieherinnen und zwei weiteren Mitarbeitern. Der Personalaufwand ist groß, aber notwendig, denn auch die Herausforderungen sind groß, sagt Bettina Nauss: "Kommt ein neues Kind zu uns, ob angemeldet oder als in Obhutnahme, dann sind wir als Fachleute gefragt: Was braucht das Kind? Wie reagiert es darauf, dass jetzt keine Mutti da ist, kein Vati. Der eine ist still, der andere schreit. Jedes Kind reagiert anders auf diese Situation."

Besonders wichtig ist die Eingewöhnung in die neue Umgebung. Die Person, die als erste mit dem Kind in Kontakt kommt, sollte auch an den folgenden Tagen der wichtige Ansprechpartner sein. Die Dienstplanung kann das schon mal durcheinander bringen. Schwierig ist es vor allem dann, wenn Kinder auf Grund einer akuten Notsituation untergebracht werden müssen. "Manche Kinder kommen ohne Sachen. Andere haben nicht mal ein Kuscheltier dabei. Da müssen wir dann schnell etwas anbieten, um die Situation zu entspannen."

Geregelter Tagesablauf

Doch eine tiefe Beziehung, wie zu eigenen Eltern, lässt sich auch bei allem Engagement nicht künstlich erzeugen. Erzieherinnen sind keine Ersatzmütter, sondern ausgebildete Fachkräfte, die erfahren sind im Umgang mit Menschen in schwierigen Lebenssituationen. Man müsse also auch die Grenzen dieser Art der Kinderbetreuung klar benennen, so Bettina Nauss: "Wir können keine Familie ersetzen. Aber wir machen Beziehungsangebote. Und wir sorgen für geordnete Strukturen und diese Strukturen sind jeden Tag gleich. Da gibt es keine Verunsicherung. So können die Kinder Vertrauen aufbauen und letztendlich ein Gefühl von Sicherheit entwickeln, das in ihrem bisherigen Leben häufig gefehlt hat. Was Kinder brauchen, ist Beständigkeit und das können wir bieten durch einen geregelten Tagesablauf."

Genau diese Beständigkeit fehlte häufig im Leben der Kinder aus der Knirpsengruppe, weil die Eltern oft überfordert waren. Dabei seien sie häufig selbst unzufrieden mit der Situation, aber unfähig, die Probleme allein zu lösen.

Eltern werden einbezogen

In den vergangenen Jahren habe sich vor allem die Zahl der Eltern mit Drogenproblemen erhöht, so die Erfahrung von Bettina Nauss. Insbesondere spielt Crystal Meth dabei eine Rolle. Wenn die Beschaffung und das Konsumieren von Drogen den Familienalltag bestimmen, bleibt wenig Raum für die Bedürfnisse von Kindern.

Das aber heißt nicht, dass diese Eltern sich nicht für Kinder engagieren würden: "Wir hatten sehr viele Eltern, die zu Tode betrübt waren, dass ihre Kinder nun nicht bei ihnen waren. Und da haben wir uns gesagt, wir müssen auch Elternarbeit anbieten. Also schaffen wir, immer in Absprache mit den Ämtern, die Möglichkeit, dass auch Eltern den Kontakt zu ihren Kindern halten können, dass sie bei Arztbesuchen dabei sind oder auch, wenn wir Fahrten unternehmen." Letztendlich geht es immer auch um die Frage, unter welchen Bedingungen die Kinder in ihre Familie zurückkehren können. Dies passiert immer wieder, ist aber kein Regelfall.

Kindheit ist auch Spiegel der aktuellen Verhältnisse

Bettina Nauss hat schon zu DDR-Zeiten als Erzieherin in einem Kindergarten gearbeitet. Dass früher alles besser war, würde sie aus ihrer Erfahrung keinesfalls bestätigen. Was aber für sie feststeht, ist der Umstand, dass früher alles anders war. "Seit der Wende wird das Augenmerk verstärkt auf die Kindeswohlgefährdung gelegt, auch in Kindergärten. Es gibt ja inzwischen diese Fachkraft, die das Kindeswohl im Auge hat. Da wird, glaube ich, verstärkt auf Kinder und Familien geschaut. Mögliche Indizien werden im Team besprochen. Das Thema wird ernster genommen."

Hinzu kommt, dass eine Kindheit in den siebziger oder achtziger Jahren kaum mit einer heutigen Kindheit zu vergleichen ist. Und das nicht nur, weil es seinerzeit noch kein Privatfernsehen und kein Internet gab. "Ich habe auf der Straße gespielt, mit Kindern, die in meinem Alter waren. Und da haben wir unsere Nachmittage und unsere Ferien verbracht, im gemeinsamen Spiel. So erkundeten wir unser Revier und haben auch noch voneinander gelernt. Ich hatte oft aufgeschrammte Knie vom Spielen, weil ich hingefallen bin. Das sieht man heute nicht mehr, ein Kind mit Schorf an den Knien."

Was nämlich seinerzeit kaum jemanden interessierte, sorgt inzwischen für kritische Nachfragen bei den Erziehungsberechtigten, ob sie etwa ihrer Aufsichtspflicht nicht nachgekommen seien. Die Folge ist eine Verunsicherung der Eltern, die Bettina Nauss auch an sich selbst beobachtet hat: "Ich bin mit dem Fahrrad Einkaufen gefahren, mit sieben oder acht Jahren, weil der Konsum um die Ecke war. Und dann bin ich mit meinem Fahrrad wieder nach Hause geradelt. Das habe ich meinem Kind so nicht mehr zugestanden." Tatsächlich war aber eben auch der Autoverkehr seinerzeit ein anderer.

Studie könnte helfen

Warum jedoch die Zahl von Kindern steigt, die außerhalb der Familien untergebracht werden müssen, weiß Bettina Nauss auch nicht. Allerdings sind die "Ziehte-Knirpse" in Köthen eine Sozialeinrichtung und kein Forschungsinstitut. Trotz der langjährigen Berufserfahrung, scheut sich Bettina Nauss vor einem Urteil: "Geht es uns vielleicht zu gut? Niemand muss ja hungern oder frieren. Wir sind nicht von existenzieller Not bedroht. Und trotzdem gibt es diese Verwerfungen in der Gesellschaft. Manchmal frage ich mich, wie wird man in einhundert Jahren auf unsere Zeit zurückblicken. Das würde mich schon interessieren."

Als besonders familienfreundlich werden wohl die ersten Jahrzehnte des 21. Jahrhunderts nicht gelten können, auch wenn im aktuellen Wahlkampf das Thema Familienpolitik durchaus präsent ist.

MDR/Ulrich Wittstock, Cornelia Winkler

Dieses Thema im Programm: MDR SACHSEN-ANHALT – Das Radio wie wir | 16. September 2021 | 15:40 Uhr

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