Syrien, Afghanistan, Westafrika Wohin steuert Sachsen-Anhalts Flüchtlingspolitik?
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18. Januar 2023, 19:02 Uhr
Krieg, Armut und Klimafolgen sind Gründe für Menschen, ihre Heimat zu verlassen. Europa und dort Deutschland sind bevorzugte Ziele. In Sachsen-Anhalt sind die Zahlen derer, die aus Syrien, Afghanistan oder Westafrika kommen, steigend. Wohin mit diesen Menschen? Wie sie beispielsweise in einen Arbeitsmarkt integrieren, der dringend Fachkräfte braucht? Eine Analyse zu Flüchtlingen, die nicht aus der Ukraine kommen.
- Die Zahl der Menschen, die nach Sachsen-Anhalt flüchten ist zuletzt wieder angestiegen.
- Land, Kreise und Kommunen kommen bei der Unterbringung an ihre Grenzen.
- Die Integration der Menschen auch in den Arbeitsmarkt ist oft schwierig.
- Das Innenministerium rechnet damit, dass die Zahl der Geflüchteten weiter steigt.
Als Wael Tahar vor sechs Jahren nach Deutschland kam, war er einer von über einer Million Flüchtlingen aus Syrien. Er kam allein, holte seine Frau mit zwei Kindern nach. Heute ist er einer von 4.000 Menschen mit Bleiberecht im Landkreis Stendal. Und er will bleiben, denn Syrien ist bis heute Kriegsgebiet: "Ich fühle mich hier in Sicherheit, in meiner Heimat nicht, da ist keine Sicherheit, wegen des Kriegs."
Ich fühle mich hier in Sicherheit, in meiner Heimat nicht, da ist keine Sicherheit, wegen des Kriegs.
Nach Sachsen-Anhalt kamen 2015 über 30.000 Menschen als Geflüchtete. Nachdem die Zahlen deutlich zurückgingen, stiegen sie kontinuierlich und haben sich laut Innenministerium in 2022 gegenüber dem Vorjahr auf 5.602 fast verdoppelt. Hauptherkunftsländer sind Syrien und Afghanistan. 60 Prozent der 2022 eingereisten Geflüchteten gelten als anerkannt. Ukraine-Geflüchtete tauchen in dieser Statistik nicht auf. Sie haben einen Sonderstatus.
Geringe Zahl an Abschiebungen
Demgegenüber steht eine marginale Zahl an Abschiebungen. Oftmals nehmen Herkunftsländer ihre Staatsbürger nicht zurück oder freiwillige Rückkehrer nicht wieder auf. So gingen in 2022 aus Sachsen-Anhalt 319 Menschen in ihre Herkunftsländer zurück, unterstützt beispielsweise durch das "Landesprogramm Rückkehr", das persönliche Lebenshaltungskosten für maximal drei Monate sichert. Sie dürfen 500 Euro pro Person und Monat nicht überschreiten. Für die verschiedenen Programme der freiwilligen Rückkehr gab das Land Sachsen-Anhalt 2022 insgesamt 207.700 Euro aus (Stand: 12.12.2022).
Jahr | Zahl der Asylbewerber | Abschiebungen |
---|---|---|
2015 | über 30.000 | keine Angabe |
2019 | 1.766 | 563 |
2020 | 2.840 | 288 |
2021 | 2.995 | 260 |
2022 | ca. 5.900 | 313 (vorl.) |
Quelle: Innenministerium Sachsen-Anhalt
Und weil die Anzahl der Geflüchteten so hoch ist, hatte das Land Sachsen-Anhalt neben der bereits existierenden Zentralen Anlaufstelle für Asylbewerber (ZASt) in Halberstadt eine neue Großunterkunft in Stendal geplant. Vor den Toren der Stadt sollte das alte Kasernengelände schon 2018 fertig sein, jetzt heißt es 2025.
Und die Kosten haben sich mit 45 Millionen Euro mehr als verdoppelt. "Ein bauliches und finanzielles Desaster", sagt Rüdiger Erben, innenpolitischer Sprecher der SPD-Fraktion im Landtag von Sachsen-Anhalt. Weil an anderen Orten die Unterkünfte nicht mehr ausreichen, drängt Erben auf eine vorzeitige Teilöffnung: "Ich möchte erreichen, dass zumindest ernsthaft geprüft wird, Teile der Liegenschaft in Betrieb zu nehmen. Dann muss man bei der Frage der Verpflegung eine andere Möglichkeit als eine zentrale Küche finden. Und nötigenfalls muss das Innenministerium weitere Liegenschaften anmieten und auf die Weise erreichen, dass die Landkreise nicht allein mit dem Problem umgehen müssen."
Unterbringung der Flüchtlinge schon jetzt in mehreren Außenstellen
Dabei sind schon mehrere Hundert Menschen auf Außenstellen der ZASt in Magdeburg, Bernburg, Blankenburg, Naumburg oder Nebra verteilt. Sachsen-Anhalts Innenministerin Tamara Zieschang (CDU) hält einen vorzeitigen Teilbetrieb dagegen nicht für möglich. Es fehle an zwingenden Voraussetzungen für den Betrieb einer solchen Erstaufnahmeeinrichtung, nicht nur die Zentralküche.
Einer der Gründe sei zum Beispiel, dass eine medizinische Untersuchung zwingend notwendig sei, um formal den weiteren behördlichen Prozess durchlaufen zu können. Da das Verwaltungsgebäude nicht fertig ist, könne also weder das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) noch ein Arzt seine Tätigkeit vor Ort aufnehmen.
Im Landkreis Stendal gibt es noch Kapazitäten, denn viele der Flüchtlinge ziehen in andere Regionen Deutschlands weiter. Im Landkreis leben 5.462 Menschen ohne deutschen Pass, 3.915 davon mit Bleiberecht, davon 471 mit Duldung oder ohne Aufenthaltsrecht (Stand: Dezember 2022).
Und der Landrat Patrick Puhlmann (SPD) sieht weitere Zuweisungen kritisch: "Insofern ist das ein Problem, dass Kapazitäten der zentralen Aufnahmestellen des Landes nicht ausreichend sind und dadurch schneller die Zuweisung in die Landkreise passieren – mit Personen, deren Status nicht geklärt ist. Der Ursprungsgedanke war, Personen, bei denen keine Bleibeperspektive besteht, werden nicht auf die Landkreise verteilt! Das droht jetzt zu kippen und kippt in manchen Fällen eben auch schon."
Stendal fördert Integration
Dass Flüchtlinge, so sie denn ein Bleiberecht haben, auch eine Bereicherung für Deutschland sein können, sieht die Politik sehr wohl. In Stendal fand Wael Tahar eine neue Heimat. Die Anlaufstelle Amicus des DRK Sachsen-Anhalt hat ihn dabei unterstützt. Er arbeitet als Altenpflegehelfer, hat mit seiner Familie eine eigene Wohnung. Denn Familien werden bevorzugt mit Wohnraum versorgt.
In einer Stadt wie Stendal sind auch Schule und Kita noch kein Problem. Der Landrat sieht seine Behörde handlungsfähig und fördert Integration: "Im besten Fall funktioniert so ein integriertes Leben, dass sie hier die Chance kriegen, einen Beitrag zu leisten und auch den Willen dazu haben. Trotzdem klappt das nicht in allen Fällen", erklärt Puhlmann.
Vorbehalte gegenüber Migranten in der Bevölkerung werden durch Meldungen über Krawalle wie an Silvester in Berlin genährt. Dort soll es zu Auseinandersetzungen unter diesen Gruppen und mit der Polizei gekommen sein. Der Stendaler Landrat weiß für seinen Landkreis dagegen kein erhöhtes Aufkommen an Straftaten, "nichts, was auf meinem Schreibtisch gelandet wäre."
Das Innenministerium verzeichnet bei Migranten vor allem Straftaten, die gegen das Ausländerrecht verstoßen wie bei der Residenzpflicht, oder aber Auseinandersetzungen zwischen Asylsuchenden in den Unterkünften, denn das stelle immer eine Stresssituation dar, heißt es.
Ehrenamtler kümmern sich um Integration
Damit Integration besser klappt, arbeiten Ehrenamtler und karitative Einrichtungen mit den Flüchtlingen. Bei Amicus in Stendal liegt der Fokus auf den Kindern. Aja, die Tochter von Wael Tahar, ist regelmäßig in der kleinen Bibliothek, während die Eltern ihre Anliegen klären können.
Dass Bildung und Ausbildung wichtig sind, zeigt sich im Arbeitsmarkt. In Sachsen-Anhalt sind derzeit etwa 802.000 Menschen sozialversicherungspflichtig beschäftigt, davon waren ca. 49.000 Ausländer, 8.200 kamen aus Asylzugangsländern wie Syrien, Afghanistan oder Eritrea. Gegenüber dem Vorjahr ist das ein Zuwachs von knapp Tausend Menschen.
Hürden bei Anerkennung der Abschlüsse
Es könnten mehr sein. Bei der Anerkennung der Zeugnisse, die die Menschen mitbringen, gibt es immer wieder Hürden. Viele Abschlüsse werden nicht anerkannt oder zurückgestuft, wie bei Wael Tahar, der jetzt nur noch ein Fachabitur anerkannt bekommen hat, statt seines Studiums an einem Institut in Damaskus. Oder es dauert ewig, bis die Unterlagen geprüft sind.
So geht es nicht weiter! Wir haben einen akuten Fachkräftemangel...
Verschwendetes Potential, sagt Ines Ranke von der Begegnungsstelle Amicus des Deutschen Roten Kreuzes in Stendal, die sich noch an die Zeit erinnert, als Tausende Russlanddeutsche in den Sozialsystemen festhingen, weil ihre Abschlüsse nicht anerkannt oder degradiert wurden, trotz zum Teil jahrelanger Berufserfahrung. Außerdem gebe es nicht genügend Anerkennungsberatungsstellen: "So geht es nicht weiter! Wir haben einen akuten Fachkräftemangel und wir müssen alles dafür tun, die Leute, die zu uns kommen und willig sind, dort abzuholen, wo sie sich befinden und dafür müssen geeignete Maßnahmen aufgelegt werden. Da sind die Institutionen gefragt, das gilt auch für die Anerkennung der Berufe."
Im Innenministerium geht man von einem weiteren Anstieg der Flüchtlingszahlen aus. Ob die Zunahme eine Chance ist? Innenministerin Zieschang führt die Bemühungen des Deutschen Hotel- und Gaststättenverbandes als Positivbeispiel an. Schon lange bemühen sich Hoteliers gezielt um Azubis auch aus dem Ausland.
Integration braucht Unterstützung von Staat und Gesellschaft
Wael Tahar und seine nunmehr sechsköpfige Familie werden bleiben, die Kinder sollen durch Bildung ihr Leben meistern, sagt er: "Die Zukunft der Kinder hier ist besser, die können später eine Ausbildung oder Studium hier machen." Den Anfang hat Tocher Aja gemacht, sie ist Lesekönigin diese Woche und auch sonst eine glänzende Schülerin. Ein Vorbild an Integration, dessen Nachahmung neben Eigeninitiative auch Unterstützung durch Staat und Gesellschaft braucht. Denn Familie Tahar möchte in Deutschland bleiben.
MDR (Sabine Falk-Bartz, Mario Köhne)
Dieses Thema im Programm: MDR SACHSEN-ANHALT HEUTE | 18. Januar 2023 | 19:00 Uhr
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