Zwischenbilanz Zu groß, zu spät, zu ungezielt: Kritik an Sachsen-Anhalts Corona-Sondervermögen
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27. April 2023, 00:09 Uhr
Knapp zwei Milliarden Euro schwer ist das Corona-Sondervermögen, mit dem das Land Sachsen-Anhalt die Pandemie und ihre Folgen abfedern will. Ende Februar war davon jedoch erst ein Viertel ausgegeben. Steuerzahlerbund und Landesrechnungshof kritisieren, bei vielen der finanzierten Projekten fehle ein Bezug zur Pandemie. Und: Nachfolgenden Generationen werde ein unnötig großer Schuldenberg hinterlassen.
- Von den rund zwei Milliarden Euro aus Sachsen-Anhalts Corona-Sondervermögen war Ende Februar erst knapp ein Viertel ausgegeben.
- Der Landesrechnungshof sieht bei mehr als der Hälfte der Maßnahmen, die mit dem Sondervermögen finanziert werden sollen, keinen ausreichenden Bezug zur Pandemie.
- Die Grünen und der Bund der Steuerzahler kritisieren, dass künftige Generationen durch das Sondervermögen unnötig belastet werden.
Es war die erste große Entscheidung der derzeitigen Landesregierung: Im Dezember 2021 – die Corona-Inzidenz in Sachsen-Anhalt lag damals zeitweise über 800 – beschlossen CDU, SPD und FDP die Einrichtung des sogenannten Corona-Sondervermögens. Mit knapp zwei Milliarden Euro sollten 63 Einzelmaßnahmen finanziert werden, um die Folgen der Pandemie im Land abzufedern. Dafür wurden Kredite in Höhe von mehr als 2,7 Milliarden Euro neu aufgenommen.
MDR SACHSEN-ANHALT liegen Zahlen des Finanzministeriums zum Corona-Sondervermögen vor. Sie zeigen: Von den knapp 1,97 Milliarden Euro sind bis Ende Februar nur rund 494 Millionen Euro ausgegeben worden. Allein 320 Millionen Euro davon entfielen auf eine einzige Maßnahme: Finanzspritzen für die Unikliniken in Halle und Magdeburg.
Nur wenig Geld geflossen
Bereits Ende letzten Jahres war bekannt geworden, dass drei Maßnahmen aus dem Sondervermögen gestrichen wurden. Für die restlichen 59 Maßnahmen flossen bis Ende Februar 2023 lediglich 174 Millionen Euro – obwohl die Pandemie zu diesem Zeitpunkt von Experten wie dem Virologen Christian Drosten bereits für beendet erklärt wurde.
Bei 39 der insgesamt verbliebenden 60 Maßnahmen waren bis Ende Februar weniger als zehn Prozent des jeweils vorgesehenen Geldes geflossen. Nur vier Maßnahmen hatten mindestens 90 Prozent der jeweils vorgesehenen Mittel erhalten. Bei manchen Projekten, etwa zur Unterstützung freischaffender Künstler und Kulturschaffender, war noch kein einziger Cent geflossen.
Zu spät und zu langsam?
"Man hätte das Sondervermögen viel früher auf den Weg bringen und die Maßnahmen dann auch zügig umsetzen müssen", kritisiert der Landesvorsitzende des Bundes der Steuerzahler in Sachsen-Anhalt, Ralf Seibicke. Stattdessen habe die Landesregierung versucht, Ende 2021, also relativ am Ende der Pandemie, alle möglichen Maßnahmen mit einem Corona-Bezug zu versehen und das Sondervermögen zu nutzen, um den planmäßigen Haushalt zu entlasten.
"Das ist eindeutig ein Weg gewesen, um die Schuldenbremse zu umgehen", sagt Seibicke. Die Schuldenbremse verbietet es dem Land Sachsen-Anhalt normalerweise, neue Kredite aufzunehmen, um kommende Generationen nicht zu überlasten. Ausnahmen sind lediglich in außergewöhnlichen Notsituationen erlaubt.
Landesrechnungshof kritisiert fehlenden Corona-Bezug
Auch der Landesrechnungshof zweifelt bei vielen Maßnahmen am tatsächlichen Zusammenhang zur Corona-Pandemie. Auf Anfrage von MDR SACHSEN-ANHALT teilt die Finanzkontrollbehörde mit, dass man bereits im Februar 2022 jede Maßnahme "nach einem internen Ampelsystem" auf einen Bezug zur Corona-Pandemie hin überprüft habe.
Von den zunächst 63 geplanten Maßnahmen im Sondervermögen haben wir bei mehr als der Hälfte keinen ausreichenden Bezug zur Corona-Pandemie finden können.
Das Ergebnis: "Von den zunächst 63 geplanten Maßnahmen im Sondervermögen haben wir bei mehr als der Hälfte keinen ausreichenden Bezug zur Corona-Pandemie finden können", schreibt ein Sprecher des Landesrechnungshofes. Man zweifele nicht am grundsätzlichen Sinn der kritisierten Projekte. Diese hätten allerdings nach Auffassung des Landesrechnungshofes aus dem regulären Haushalt des Landes finanziert werden müssen.
Finanzminister Michael Richter (CDU) weist die Kritik zurück: "Das Sondervermögen ist dazu da, uns besser auf eine weitere Corona-Welle oder andere Naturkatastrophen vorzubereiten, die in der Zukunft möglicherweise auf uns zukommen. Wir haben die Maßnahmen so begründet, dass sie die Schuldenbremse nicht verletzen", sagt er MDR SACHSEN-ANHALT.
15 Millionen für Bauprojekte an den Unis
In Hessen und Rheinland-Pfalz hatten Oppositionsfraktionen gegen die dortigen Corona-Sondervermögen geklagt. Daraufhin waren in beiden Bundesländern Teile der Sondervermögen höchstrichterlich für teilweise verfassungswidrig erklärt worden. In Sachsen-Anhalt kam es zu keiner Klage, obwohl die vom Landesrechnungshof als ohne ausreichenden Corona-Bezug eingestuften Maßnahmen ein Volumen von mehr als einer Milliarde Euro umfassen – mehr als die Hälfte des kompletten Sondervermögens.
Beispiel Finanzministerium: Das CDU-geführte Haus investiert rund 71 Millionen Euro aus dem Sondervermögen in den Neubau des Landesamtes für Verbraucherschutz. Die Universitäten in Halle und Magdeburg dürfen sich außerdem über 6,3 Millionen Euro beziehungsweise 9,1 Millionen Euro für "Baumaßnahmen" freuen.
Der Zusammenhang zur Pandemie sei gegeben, teilt eine Sprecherin des Finanzministeriums auf Anfrage von MDR SACHSEN-ANHALT mit. Das Landesamt für Verbraucherschutz nehme "eine Schlüsselfunktion für (…) Aufgaben der Überwachung von Pandemiesituationen" wahr und brauche dafür eine funktionierende Laborinfrastruktur. Ein Neubau sei die wirtschaftlichste Alternative. Die Universitäten erhielten "Mittel für Bauprojekte, die die Digitalisierung unterstützen, um künftig Formate der Online- und Hybridlehre besser durchführen zu können."
Der Landesrechnungshof kam zu einem anderen Urteil: Diese Maßnahmen "hätten auf keinen Fall aus dem Sondervermögen finanziert werden dürfen", teilt ein Sprecher mit.
Glasfaserausbau aus dem Sondervermögen
Auch das FDP-geführte Infrastruktur- und Digitalministerium verteilt Mittel aus dem Sondervermögen an Projekte, bei denen der Bezug zur Pandemie fragwürdig erscheint. So sollen knapp 114 Millionen Euro in "Digitale Infrastrukturen" fließen. Hinter dem blumigen Begriff verbirgt sich unter anderem der Ausbau des Breitbandnetzes – ein politisches Ziel, das bereits lange vor Beginn der Pandemie in der "Gigabitstrategie" des Landes verankert war.
Die Pandemie habe den Umsetzungsdruck allerdings "erheblich erhöht", begründet das Digitalministerium die Finanzierung aus Mitteln des Sondervermögens. Der Landesrechnungshof kam auch hier zu einem anderen Ergebnis: "rote Ampel", das heißt, kein ausreichender Corona-Bezug.
Neue Ausrüstung für die Polizei
Im Innenministerium, ebenfalls unter Führung der CDU, nutzt man das Sondervermögen unter anderem, um die Ausrüstung der Landespolizei auf den neuesten Stand zu bringen. So fließen 330.000 Euro in die Anschaffung eines "Laserwaffen- und Simulationssystems zur Aufrechterhaltung des Schießbetriebs", für rund sechs Millionen Euro wird zudem "mobile Informationstechnologie" für die Polizei angeschafft.
Die Ausstattung der Polizisten "mit einem Smartphone und entsprechenden Polizei-Apps" sei notwendig, damit diese auch unter Pandemiebedingungen ihre polizeilichen Aufgaben erfüllen könnten, teilt eine Sprecherin des Innenministeriums mit. Das Laserwaffensimulationssystem wiederum ermögliche Szenarien, schreibt die Sprecherin, "deren Ausmaß und Intensität in der Realität nur mit erheblichem Aufwand dargestellt werden können." Auch unter Pandemiebedingungen sei dadurch ein Schießtraining möglich. Der Landesrechnungshof bewertete diese beiden Projekte ebenfalls mit einer roten Ampel.
Grüne: "Finanzpolitisch nicht sinnvoll"
"Zum Teil werden mit dem Corona-Sondervermögen Dinge finanziert, die nichts mit Corona oder einer Pandemie zu tun haben. Das ist finanzpolitisch nicht sinnvoll", kritisiert Olaf Meister, finanzpolitischer Sprecher der Grünen im Landtag. "Einen Laserschießstand und Handys für die Polizei anzuschaffen ist sicherlich sinnvoll, aber wenn man so etwas finanzieren möchte, dann bitte nicht über Schulden, sondern ganz normal aus dem Haushalt."
Es gebe durchaus Punkte, in denen das Sondervermögen wirke, so Meister. Aber: "Letztlich muss man sagen, dass das Vermögen viel zu groß war", konstatiert der Grünenpolitiker. Man habe daher den Schuldenberg des Landes teilweise unnötig erhöht und künftige Generationen belastet.
Ralf Seibicke vom Bund der Steuerzahler teilt Meisters Kritik: "Der größte Schaden, den ich sehe, ist die zusätzliche Verschuldung. Wir erleben eine Zinswende. Schon in diesem Jahr wird Sachsen-Anhalt 70 Millionen Euro mehr Zinsen zahlen als 2022." Wahrscheinlich nehme die Zinsbelastung für die Steuerzahler in den nächsten Jahren weiter zu. Die Folgen davon werde man schon bald spüren, sagt Seibicke: "Das wird die Politik künftig auch in ihren planmäßigen Haushalten einschränken."
Über Lucas Riemer
Lucas Riemer arbeitet seit Juni 2021 bei MDR SACHSEN-ANHALT. Der gebürtige Wittenberger hat Medien- und Kommunikationswissenschaft in Ilmenau sowie Journalismus in Mainz studiert und anschließend mehrere Jahre als Redakteur in Hamburg gearbeitet, unter anderem für das Magazin GEOlino.
Bei MDR SACHSEN-ANHALT berichtet er vor allem über gesellschaftliche und politische Themen aus den Regionen des Landes.
Über Engin Haupt
Engin Haupt arbeitet seit Februar 2021 im Politikressort von MDR SACHSEN-ANHALT. Geboren und aufgewachsen in Rheinland-Pfalz, hat ihn das Journalismus-Studium nach Magdeburg gebracht.
In seiner Freizeit spielt er unter anderem American Football und kommentiert die Fußballspiele des 1. FC Magdeburg für blinde Menschen.
MDR (Lucas Riemer, Engin Haupt)
Dieses Thema im Programm: SACHSEN-ANHALT HEUTE | 26. April 2023 | 19:00 Uhr
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