Betroffene kämpfen um Aufarbeitung Missbrauch im DDR-Sport: "Sie konnten mit uns machen, was sie wollten"
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07. September 2023, 13:24 Uhr
Die Aufarbeitung des DDR-Sportsystems drehte sich bislang vor allem um staatlich verordnetes Doping. Bis heute dagegen kaum aufgearbeitet wurde sexualisierte Gewalt im DDR-Sport. Für die Prävention wäre das aber wichtig. Was Betroffene fordern und warum das DDR-System für Missbrauch wie geschaffen war.
- Ein dunkler Schatten des DDR-Sportsystems, der bislang kaum aufgearbeitet wurde, ist sexualisierte Gewalt.
- Sexueller Kindesmissbrauch war zu DDR-Zeiten ein Tabu-Thema. Doch das Sportsystem war wie geschaffen für diese Form von Gewalt.
- Betroffene fordern Aufarbeitung, auch im Sinne heutiger Prävention, und sind von Sportverbänden größtenteils enttäuscht.
Ob es mit der Zeit einfacher wird? Susann Wegner wirkt im Gespräch mit MDR SACHSEN-ANHALT, als wäre es gar nicht schwer. Gar nicht schwer, darüber zu sprechen, was sie erlebt hat – was sie erleben musste. Sie hat Erfahrung darin. Hat schon in zwei Dokumentationen darüber gesprochen, außerdem in zahlreichen Interviews.
Wenn man nicht weiß, was in der Vergangenheit passiert ist, kann man in der Zukunft nichts ändern.
"Ich wollte und will immer zeigen, dass es einen Weg da raus gibt und dass wir stark sind", sagt Wegner. "Wir müssen uns nicht klein und schlecht fühlen. Wir müssen das Gute wiederfinden und daran festhalten." Und: "Deshalb mache ich das." Denn: "Wenn man nicht weiß, was in der Vergangenheit passiert ist, kann man in der Zukunft nichts ändern."
Opfer von Doping und sexualisierter Gewalt
Mit neun Jahren kam Wegner, gebürtig aus Potsdam, zu DDR-Zeiten an die Sportschule nach Halle-Neustadt. Später wechselte die Sportgymnastin ins Internat nach Leipzig. Sie durchlief ein Sportsystem, das darauf ausgelegt war, Medaillen über Medaillen zu produzieren, um die Überlegenheit des politischen Systems zu demonstrieren.
Zu realisieren, dass du nicht selbstbestimmt warst, das war das Schlimmste.
Susann Wegner war Dopingopfer – und erlebte während ihrer Zeit im DDR-Sportsystem auch sexualisierte Gewalt. "Sie konnten mit uns machen, was sie wollen", sagt Wegner heute. "Und das zu realisieren, dass du nicht selbstbestimmt warst, das war das Schlimmste."
"Mehrfache Verwundung" von Betroffenen
Die Aufarbeitung des DDR-Sportsystems drehte sich bislang vor allem um staatlich verordnetes Doping. Bis heute kaum aufgearbeitet wurde ein anderes Thema: sexueller Missbrauch im DDR-Sport. Dabei hängt beides oft eng zusammen.
"Ein besonderes Merkmal von Betroffenen in der DDR ist, dass ihre Biografien von mehrfachen Verwundungen betroffen sind: emotionale Gewalt, massives Übertraining und damit Schäden für die Gesundheit, Doping", sagte Bettina Rulofs kürzlich bei einer Fachtagung zu dem Thema. Rulofs leitete 2022 an der Sporthochschule Köln eine Fallstudie zu sexualisierter Gewalt im Sport. Von den 72 dort analysierten Berichten spielten zwölf in der DDR.
Weit weg von den Eltern
Denn das dortige System war wie geschaffen für Missbrauch jeglicher Art: Talentierte Kinder wurden früh gesichtet, schon ab dem achten Lebensjahr in Sportförderklassen und Jugendsportschulen untergebracht – oft in Internaten, weit weg vom Elternhaus.
Die Trainer wurden laut der Studie als allmächtig wahrgenommen. Das Leben der Kinder wurde ständig überwacht. Dazu gehörte das Essen, das Training, die Freizeit und auch medizinische Untersuchungen, die auch für Übergriffe genutzt wurden.
Schlimme Erinnerungen an einen Arzt
Susann Wegner erzählt vor allem von der Angst vor einem Arzt in der Sportschule Zinnowitz, wo sich die DDR-Sportlerinnen auf große Wettbewerbe vorbereiteten. "Wir wissen nicht mehr, was alles genau passiert ist", sagt Wegner. "Traumatische Ereignisse spaltet das Gehirn ab." Und doch sind da noch Erinnerungen.
Traumatische Ereignisse spaltet das Gehirn ab.
"Wir erinnern uns daran, dass wir gemeinsam im Zimmer gesessen haben und Angst hatten, wer als Nächste zum Arzt muss", sagt Wegner. "An ein Erlebnis kann ich mich noch genau erinnern. Ich musste durch die dunkle Turnhalle, hin zu seinem Zimmer. Ich musste die Tür zu machen. Er ist um mich herumgegangen, hat mich berührt und gesagt, dass ich ruhig selbstbewusster sein soll, ich sehe doch toll aus. Da war ich 15, höchstens 16 Jahre alt und hatte höchstens ein Hemdchen an. Das war ganz unangenehm." Auch bei Entspannungsbädern oder dem Duschen sei der Arzt oft dabei gewesen, hätte die nackten Mädchen beobachtet, erzählt Wegner.
Kinder wussten nicht, wo die Grenze ist
Vor ihren Trainern mussten die Sportlerinnen nackt auf die Waage, wurden von ihnen bei Warm-Kalt-Wechselduschen abgeduscht, im Training unangenehm berührt. "Wir haben das mit uns machen lassen", sagt Wegner. "Wir haben uns nicht gewehrt." Umso wichtiger sei es heute, dass "Kinder lernen, wo die Grenzen sind, was sie nicht mit sich machen lassen müssen". Denn: "Wir wussten das damals nicht."
Ich kann wieder lächeln und mein Leben leben, ein gutes Leben. Das will ich auch anderen Betroffenen zeigen – und deshalb werde ich nicht müde, darüber zu reden.
Medaillen als Sieg des Sozialismus
Sexueller Kindesmissbrauch war zu DDR-Zeiten ein Tabu-Thema. "Und noch einmal viel stärker tabuisiert als in Westdeutschland", sagt Christine Bergmann, Mitglied der unabhängigen Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs. "Der Sport wurde in der DDR sehr stark in der politischen Auseinandersetzung benutzt, um die Überlegenheit des Systems deutlich zu machen. Jeder Sieg, jede errungene Medaille war ein Sieg des Sozialismus."
Auf der anderen Seiten waren Themen wie physische oder psychische Gewalt, auch Missbrauch, eben "Schmuddelthemen", wie Bergmann sagt. "Darüber wurde einfach nicht geredet. Das durfte es einfach nicht geben. Es passte nicht in die heile sozialisitsche Gesellschaft."
Wer sexualisierte Gewalt erlebte, war allein
Das führte dazu, dass auch Hilfsangebote für Betroffene fehlten. Wer sexualisierte Gewalt erlebte, war allein. "In so einer autoritären Gesellschaft ist es schwer gefallen, sich dagegen zu wehren", sagt Bergmann. Und: "Da ist auch heute noch immer viel im Verborgenen."
"Alle haben geschwiegen"
Trotzdem kamen in den vergangenen Jahren immer mehr Fälle ans Licht. 2022 warf der frühere Weltklasse-Wasserspringer Jan Hempel seinem damaligen Trainer Werner Langer vor, ihn sexuell missbraucht zu haben. "Alle haben geschwiegen", sagte Hempel in einer ARD-Doku und sprach ausführlich über sexualisierte Gewalt im Schwimmsport.
Seine öffentlichen Ausführungen seien unheimlich wichtig, sagt Christine Bergmann, denn: "Der Sport wird durch solche Berichte mehr in die Pflicht genommen. Wie können wir verhindern, dass so etwas auch in Zukunft passiert? Und wie gehen wir mit denjenigen um, die jetzt darüber sprechen? Da geht es um Aufarbeitung. Und das ist immer das unangenehmste Thema. Zu schauen: Wer hat verharmlost? Wer hat etwas verschwiegen? Und wer hat sich bis heute nie entschuldigt? All diese Dinge, die im Nachgang ans Tageslicht kommen, sind notwendig, wenn wir Kinder in Zukunft besser schützen wollen. Wir müssen wissen, was die Mechanismen waren und sind, damit wir so etwas verhindern können. Und dazu gehört zuallererst, dass man ehrlich mit der eigenen Vergangenheit umgeht."
All diese Dinge, die im Nachgang ans Tageslicht kommen, sind notwendig, wenn wir Kinder in Zukunft besser schützen wollen. Wir müssen wissen, was die Mechanismen waren und sind, damit wir so etwas verhindern können.
Von den Verbänden enttäuscht
Betroffene von Gewalterfahrungen im DDR-Sport sind zu großen Teilen von den Verbänden enttäuscht. Bergmann sagt: "Es geht oft nur um den Schutz des heiligen Images des Sports und nicht um die Unterstützung der Betroffenen."
Bis heute keine Entschuldigung
Auch Jan Hempel berichtete kürzlich bei einer Fachtagung, dass er aus dem Schwimmverband eher Widerstand und Ablehnung erfahren habe. Eine Entschuldigung von irgendeiner Seite habe es nicht gegeben.
"Im Grunde genommen", sagt Bergmann, "geht die Aufarbeitung immer von den Betroffenen aus." Das müsse sich ändern. "Der Sport muss aufarbeiten wollen. Und die Betroffenen haben einen Anspruch darauf, dass das, was sie erlebt haben, anerkannt wird und dass sie Unterstützung kriegen bei den Dingen, unter denen sie immer noch leiden. Sie brauchen Therapien und sie brauchen unter Umständen auch Entschädigungsleistungen."
Sport soll Verantwortung übernehmen
Es müsse eine Verantwortungsübernahme des Sports für Menschenrechtsverletzungen im DDR-Sport geben. Dazu gehöre eine ordentliche, unabhängige Aufarbeitung, sagt Bergmann, an der auch Betroffene beteiligt werden sollten.
Um Standards zu setzen und Prävention, Intervention und Aufarbeitung sicherzustellen, hat die Bundesregierung ein Zentrum Safe Sport in Aussicht gestellt. Derzeit läuft der Gründungsprozess mit Betroffenen, Verbänden und Organisationen im Bundesinnenministerium. Ein Schritt in die richtige Richtung, sagt Christine Bergmann.
"Es geht weiter im Leben"
"Die Menschen, die diesen Missbrauch in der DDR erlebt haben, sind immer noch da, auch, wenn es den Staat nicht mehr gibt", so Bergmann. "Diejenigen, die nach langer Zeit darüber reden, haben mit viel Widerstand und Abwehr zu kämpfen. Das ist alles nicht leicht." Aber: "Das sind starke Menschen, die es geschafft haben, ihre individuelle Aufarbeitung anzugehen und sich eben auch den sehr unerfreulichen Auseinandersetzungen mit Verbänden und der Öffentlichkeit zu stellen." Jeder Bericht helfe, um zu verstehen, was damals eigentlich passiert sei, sagt Bergmann.
Dabei müssten sich Betroffene nicht selten Verharmlosungen der Öffentlichkeit anhören, von ehemaligen DDR-Bürgern zum Beispiel solche Sätze wie: 'Das war damals eben so'. Aber: "Nur, weil es mal so war, heißt das nicht, dass es damals entschuldigt ist", sagt Bergmann. "Ja, es war so, aber es war schlimm. Und deswegen muss das aufgedeckt werden. Da kann man heute nicht sagen: 'Regt euch nicht weiter auf, das war halt so'. Das ist eine Mentalität, die ich ziemlich schlimm finde."
Betroffene fordert Veränderung im Sport
Genau wie Susann Wegner. 1989, im Alter von 17 Jahren, beendete sie ihre Karriere als Sportgymnastin, weil sie die extremen physischen und psychischen Torturen nicht mehr länger aushielt. Dass sie in dieser Zeit auch Opfer von sexualisierter Gewalt wurde, kam erst Jahrzehnte später durch ein privates Erlebnis wieder hoch, erzählt sie. Wegner tauschte sich mit anderen Sportlerinnen aus ihrem damaligen Trainingslager aus und erfuhr, dass alle von ihnen solche diffusen Erinnerungen hatten.
Vereine sollten nur noch Geld kriegen, wenn sie Präventionsarbeit leisten. Da ist gerade viel in Gange. Aber das dauert.
Nun will Wegner Veränderung. "Es gibt immer noch Trainer von uns, die heute aktiv sind. Die haben ihre Verhaltensmuster nicht abgelegt", sagt sie. "Da muss ein Stopp reinkommen. Man muss etwas verändern, damit so etwas nicht noch einmal passiert." Die ehemalige DDR-Sportlerin glaubt: "Ohne finanziellen Druck auf Sportvereine wird sich nichts ändern. Also: Vereine sollten nur noch Geld kriegen, wenn sie Präventionsarbeit leisten. Da ist gerade viel in Gange. Aber das dauert."
Also macht sie weiter, engagiert sich unter anderem als Expertin bei der Aufarbeitung. Sie sagt: "Die Zeit damals ist vorbei. Es geht weiter im Leben. Ich kann wieder lächeln und mein Leben leben, ein gutes Leben. Das will ich auch anderen Betroffenen zeigen – und deshalb werde ich nicht müde, darüber zu reden." Auch, wenn es manchmal doch schwerer ist, als es wirkt.
MDR (Daniel George) | Erstmals veröffentlicht am 03.09.2023
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