
Kitas am Limit Wenig Geburten in Sachsen-Anhalt: Chance für bessere Kinderbetreuung?
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09. März 2025, 07:00 Uhr
Die Erzieher in Kindergarten und Krippe in Sachsen-Anhalt sind überlastet. Selbst kleine Kitas mit weniger als 20 Kindern haben Probleme – wie ein Besuch in Flemmingen im Burgenlandkreis zeigt. Zur Chance könnte der Geburtenrückgang werden: In Sachsen-Anhalt wurden im vergangenen Jahr so wenige Kinder geboren wie noch nie. Doch das Land sieht sich nicht imstande, die Betreuung zu verbessern und beispielsweise den Mindestpersonalschlüssel zu verändern.
"Wenn wir fünf Kinder sind und für das Spiel einen Stuhl mehr brauchen – wie viele Stühle sind es dann?", fragt Cecilie Schäfer, die Leiterin der Kita Flemminger Kinderwelt. Die Vierjährige Lina sagt sofort: "Sechs!" Sie sitzt mit im Stuhlkreis und baumelt mit den Beinen. Ihre Freundin fängt an: "Mein rechter, rechter Platz ist leer, ich wünsche mir den Pauli her". Auch Cecilie Schäfer spielt mit. Ihre einzige Kollegin ist gerade im Bad und wechselt einem einjährigen Mädchen die Windel.
Ich bin unter Hochspannung.
Die Öffnungszeit der Kita an diesem Tag: 6:15 bis 15:45 Uhr, also neuneinhalb Stunden. Eigentlich ist die Kita bis zu elf Stunden geöffnet, doch mit nur zwei Erzieherinnen ist das nicht abzudecken. Krippen- und Kitakinder werden deshalb gemeinsam betreut – vom Baby bis zum Vorschulkind. "Wir müssen den Spagat hinkriegen von dem Einjährigen, das alles anfasst und in den Mund nimmt, zu den Vorschulkindern, die Perlen und Knete wollen und auch bekommen sollen. Da muss ich also gucken, dass nichts herumliegt. Ich bin unter Hochspannung."
Nur auf dem Papier ausreichend Kita-Personal
Eigentlich sind sie in der kleinen Kita im Burgenlandkreis vier Mitarbeiterinnen. Doch eine pädagogische Fachkraft ist krank, eine andere in Elternzeit. Und alle haben nur 30 oder 35-Stunden-Verträge. "Das funktioniert gerade nur, weil wir uns selber ausbeuten", sagte Cecilie Schäfer MDR SACHSEN-ANHALT. Denn auch Bildungsangebote für die Kinder zu erstellen koste Zeit, die Vorbereitung für das Bibliotheks-Projekt, die Bürokratie-Aufgaben als Leiterin.
"Ich bin auf dem Papier ausreichend mit Personal bestückt. Doch in Wirklichkeit bin ich bis Mitte Mai immer unterbesetzt. Und dann fängt schon der Osterurlaub an", erzählt die Leiterin der Flemminger Kinderwelt. Also müssten sie weiter zu zweit die Öffnungszeiten abdecken. "Das ist unmöglich." Deshalb schaut sie sich nach eigenen Lösungen um. So könnte die Kita ein Dorf weiter aushelfen, wenn es einmal gar nicht anders geht.
Frust der Eltern über Öffnungszeiten
Manchmal schicke die Stadt Naumburg, die der Träger der kleinen Einrichtung ist, einen Springer. Doch den wollen und brauchen auch andere Kitas. "Ich bin also bis Mitte Mai fast jede Woche in der Verkürzung der Öffnungszeit. Und das erklären Sie mal den Eltern", so Schäfer. Ihre Kolleginnen und sie bekämen den Frust an der Kindergartentür ab. "Wir sind aber eigentlich nicht der Ansprechpartner", sagt sie.
Flemminger Kinderwelt sollte geschlossen werden Momentan besuchen vier Krippenkinder ab einem Jahr die Kita, dazu zehn Kinder bis sechs Jahre. Ausgelegt ist das Gebäude für 22 Kinder. Die Flemminger Kinderwelt ist die einzige Kita im Dorf. Sie wurde im Jahr 2024 von der Dorfgemeinschaft auf eigene Kosten saniert und erst vor wenigen Wochen an die Kinder übergeben. Die Stadt Naumburg, deren Ortsteil Flemmingen ist, wollte die Kita schließen – wegen der teuren Sanierung und weniger Kinder. Doch seit das Gebäude saniert ist, melden sich immer mehr Eltern, die ihre Kinder in der naturnahen, kleinen Einrichtung betreuen lassen wollen.
Mindestpersonalschlüssel ist Problem
Zuständig für die rund 1.800 Kitas in Sachsen-Anhalt sind die Kommunen, das Land und teilweise auch der Bund. Das Land bezuschusst die Kitas, indem es die Hälfte der Kosten für den Mindestpersonalschlüssel übernimmt. Die Kommunen zahlen die andere Hälfte.
Laut Sachsen-Anhalts Sozialministerin Petra Grimm-Benne (SPD) steht es den Kommunen frei, mit eigenem Geld weiteres Kitapersonal einzustellen. Doch für viele Kommunen ist das nicht möglich, auch nicht für die Stadt Naumburg, die für die Kita in Flemmingen verantwortlich ist: Naumburg muss jedes Jahr 1,6 Millionen Euro einsparen und hat deshalb gerade erst Haushaltssperren bei Theatern, Museen und Sportplätzen angekündigt.
Urlaub oder Schwangerschaft werden ignoriert
Kita-Leiterin Schäfer weiß aus Erfahrung: "Wenn das Gesetz so ist – ihr müsst nur den Mindestpersonalschlüssel stellen – machen die Kommunen das natürlich auch. Woher sollen sie es auch bezahlen!?"
In Sachsen-Anhalts Kitas kommen auf dem Papier auf eine pädagogische Fachkraft 10,1 Kita-Kinder bzw. 5,6 Krippen-Kinder. "Die Ministerin muss an der Anzahl der Kinder schrauben und die Zahlen müssen berichtigt werden", findet Schäfer. Denn: "In diesen Schlüssel ist noch nicht eingerechnet, dass jemand krank ist, schwanger ist oder Urlaub hat. Der Schlüssel ist falsch!" Bei ihrer Kollegin, die bald aus der Elternzeit zurück ist, weiß sie genau: "Sie wird immer mal ausfallen mit dem jungen Kind. Das ist so."
Empfehlung: ein Erzieher für nur acht Kinder
Die wissenschaftliche Empfehlung lautet: Eine pädagogische Fachkraft sollte höchstens für acht Kita-Kinder bzw. drei Krippen-Kinder zuständig sein. Das heißt: Selbst wenn niemand ausfällt, sind die Zahlen in Sachsen-Anhalt nicht ideal – weder für die Betreuung und Bildung der Kinder, noch für das belastete Personal. Im Schnitt 34 Krankentage hatten die fast 20.000 pädagogischen Fachkräfte im Jahr 2023 laut Bertelsmann Stiftung. Der häufigste Grund laut Studie: Atemwegsinfektionen. Auf dem zweiten Platz: psychische Erkrankungen.
Die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) sagte MDR SACHSEN-ANHALT auf Nachfrage: "Für uns heißt das: Diese Arbeitsbedingungen machen krank. Wir reden von einer ständigen Überlastung." Auch wegen der gewerkschaftlichen Forderung nach Entlastung beteilige sich das Kita-Personal seit Wochen an Warnstreiks, so Carsten Sievers, Gewerkschaftssekretär für Jugendhilfe und Soziale Arbeit in Sachsen-Anhalt.
Wenig Kinder: Rekord-Tief bei Geburten in Sachsen-Anhalt
Eine Chance für bessere Kinderbetreuung könnten die sinkenden Geburtenzahlen in Sachsen-Anhalt sein. Im Jahr 2024 war das bisherige Rekord-Tief erreicht. Das steht fest, auch wenn in der Statistik die Zahlen für Dezember 2024 noch fehlen. Bis 31. November 2024 wurden laut Statistischem Landesamt lediglich 11.303 Kinder geboren, im bereits schwachen Vorjahreszeitraum waren es noch 12.540.
Würde der Personalschlüssel verändert, würde die Qualität der Kinderbetreuung steigen – und Erzieher müssten nicht in ihren Stunden reduziert oder entlassen werden. Doch Entlassungen gibt es schon jetzt in manchen Kitas in Sachsen-Anhalt, wie auch die GEW weiß: "Gerade Kommunen waren die ersten, die Leuten gekündigt haben. Die freien Träger versuchen es mit Stundenreduzierung, ist mein Eindruck", so Carsten Sievers.
Wir haben sehr viele Kita-Plätze, lange Öffnungszeiten und eine sehr hohe Fachkraftquote. Aber die Fachkräfte werden überlastet.
Man sei in einem Teufelskreis, sagt GEW-Gewerkschaftssekretär Sievers: Weniger Personal auf weniger Kinder bedeute, dass die Belastung gleich bleibt. "Die Kolleginnen können keine gute frühkindliche Bildung unter den aktuellen Bedingungen leisten, wie sie eigentlich im Kinderförderungsgesetz Sachsen-Anhalt festgeschrieben ist." Dabei sei Sachsen-Anhalt top: "Wir haben sehr viele Kita-Plätze, lange Öffnungszeiten und eine sehr hohe Fachkraftquote. Aber die Fachkräfte werden überlastet."
Die Forderung der Gewerkschaft: ein bundesweit einheitliches Gesetz. Denn dann würde der Personalschlüssel in Sachsen-Anhalt automatisch verbessert werden müssen. Hier gibt es im Vergleich mit den anderen Bundesländern einen der schlechtesten Personalschlüssel in Kindertageseinrichtungen. Das zeigen die Zahlen, die die Bertelsmann Stiftung Ende 2024 bei den Statistischen Ämtern des Bundes und der Länder abgefragt und ausgewertet hat.
Sozialministerium hält besseren Personalschlüssel nicht für möglich
Sachsen-Anhalts Sozialministerium hält eine Erhöhung des Personalschlüssels derzeit nicht für möglich. Auf Anfrage von MDR SACHSEN-ANHALT hieß es, dass eine landesweite Erhöhung des Personalschlüssels mit Risiken verbunden sein könnte. Es wäre zu befürchten, "dass einzelne Einrichtungen nicht das für die Erteilung der Betriebserlaubnis erforderliche Mindestpersonal vorhalten könnten, sodass sie ihre Öffnungszeiten verkürzen müssten und ihnen somit die Betriebserlaubnis entzogen werden könnte."
Dabei wisse man jedoch um die Belastung des pädagogischen Fachpersonals. Der Sprecher teilte weiter mit: "Unser Ansatz ist dabei, mit mehr Personal – zusätzlich zum Mindestpersonalschlüssel – dort für mehr Entlastung zu sorgen, wo Landkreise und kreisfreie Städte besondere Bedarfe identifizieren." Es soll also keine Verbesserung für alle Kinder geben, obwohl der Bedarf überall vorhanden sein dürfte.
Was das Land konkret für die Kitas plant Ab dem 1.8.2025 sollen in "Bedarfskitas" in Sachsen-Anhalt Mittel für 255 Vollzeitstellen über den Mindestpersonalschlüssel hinaus bereitgestellt werden, davon 150 entfristet. Um den Übergang von Kita zu Schule zu verbessern, soll die sprachliche Förderung ein Schwerpunkt sein. Die zusätzlichen Stellen für Fachberatungen sollen weiter gefördert und ab 1.8.2025 von zwei auf drei Stellen aufgestockt werden. Mit dem jüngst gestarteten ESF-Programm "Empowerment für Eltern" können laut Land zudem künftig 200 zusätzliche Stellen in den Kitas besetzt werden.
Zum Aufklappen: Sachsen-Anhalts Bildungs-Programm "Bildung: elementar"
Die erste Veröffentlichung des Bildungsprogramms "Bildung: elementar – Bildung von Anfang an" erfolgte im Jahr 2004, im Jahr 2013 wurde eine erste Weiterentwicklung veröffentlicht. Seit 2013 muss das Bildungsprogramm durch eine Änderung des Kinderförderungsgesetzes (KiFöG) als verbindliche Grundlage der pädagogischen Arbeit in allen Kindertageseinrichtungen des Landes umgesetzt werden. Es gehört somit zum Arbeitsalltag der rund 20.000 Fachkräfte in Krippe, Kindergarten, Hort und Kindertagespflege.
Am 26.02.2025 wurde das neu aufgestellte Programm vorgestellt. Durch landesweite Fortbildungen, bei denen das Land die Freistellungskosten für alle Fachkräfte in Sachsen-Anhalt übernehmen will, soll die Umsetzung des Bildungsprogramms gewährleistet werden.
Quelle: Ministerium für Arbeit und Soziales Sachsen-Anhalt
Kita Flemmingen: "Das würde uns wahnsinnig helfen"
Cecilie Schäfer von der Flemminger Kinderwelt wünscht sich weit mehr als die Stellen, die das Land nun in Aussicht stellt: die Änderung des Mindestpersonalschlüssels für alle. Zwar bekäme ihre Kindereinrichtung dadurch nicht mehr Personal, es gäbe trotzdem einen entscheidenden Vorteil.
"Die Stadt könnte noch zwei oder drei Springer einstellen, die bei Ausfällen zur Verfügung stehen. Das würde uns wahnsinnig helfen", sagte die Kita-Leiterin. Denn ihr Dienstplan sei schon lange immer nur ein Provisorium. Dass alle vier Kolleginnen einmal gleichzeitig da sind, ist kaum in Sicht – das zeigt der Blick auf den Urlaubsplan. "Und da ist noch nicht eine Weiterbildung drin, da ist noch nicht ein Krankentag dabei. Und unsere Überstunden auch noch nicht."
MDR (Luise Kotulla)
Dieses Thema im Programm: MDR SACHSEN-ANHALT – Das Radio wie wir | 05. März 2025 | 06:30 Uhr
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