Podcast "Digital leben" Datenschutz: Tausende Menschen in Sachsen-Anhalt können Einwohnermeldedaten lesen

von Marcel Roth, MDR SACHSEN-ANHALT

09. Dezember 2023, 14:20 Uhr

Diese Geschichte ging 2023 etwas unter: Unikliniken, Krankenkassen, Jobcenter oder Behörden können die Adressen aller gemeldeten Einwohner in Deutschland digital abrufen. Zum Beispiel, um Rechnungen, Mahnungen oder amtliche Bescheide zu verschicken. Das ist legitim. Aber wie viele Menschen haben einen solchen Zugriff? Allein in Sachsen-Anhalt sind es wohl mehr als 4.000. Ein Missbrauchspotenzial, das nicht kontrolliert wird.

Es geht um die aktuelle oder die frühere Adresse, Geburtsdatum, Geschlecht, Familienstand, Staatsangehörigkeit. All diese Daten haben die Einwohnermeldeämter in Deutschland. Und ist zum Beispiel eine Person der Meinung, eine andere Person schulde ihm oder ihr Geld, kann die Person sich beim Einwohnermeldeamt die Adresse besorgen.

Ähnliches gilt für Behörden, Jobcenter, Gerichte, Abfallbetriebe oder Jobcenter. Sie können sich sogar bei Sachsen-Anhalts Innenministerium registrieren lassen, um digital auf die Daten zugreifen zu können – für die sogenannte automatisierte Datenabfrage.

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Zugriff auf deutschlandweite Meldedaten möglich

In Sachsen-Anhalt gibt es 265 öffentliche Stellen, die einen solchen Zugang zum bundesweiten zentralen Melderegister haben. Das hat eine Auswertung der Linksfraktion im Landtag von Sachsen-Anhalt ergeben, über die netzpolitik.org im Frühjahr berichtet hat. In mehreren Anfragen an die zuständigen Ministerien zählt die Linksfraktion 73 Landesbehörden, die zur automatisierten Datenabfrage berechtigt sind. Darunter sind auch Industrie- und Handelskammern, Kliniken, Studentenwerke, das Landesverwaltungsamt, die Landesanstalt für Medien, das Statistische Landesamt, das Verbraucherschutzamt und das Amt für Landwirtschaft.

Aus den Anfragen geht außerdem hervor, dass insgesamt etwa 4.000 Menschen im Land Zugriff haben. "Insgesamt dürfte die Zahl sogar noch deutlich höher sein", sagt Ingo Dachwitz, Datenschutzjournalist bei netzpolitik.org. Denn neben den 265 Stellen hätten grundsätzlich auch Polizei, Justiz – also alle Strafverfolgungsbehörden – und Geheimdienste Zugriff. "Das sind sehr viele Behörden. Und dann ist die Frage, wie viele Leute in diesen Behörden haben Zugriff."

Albert Cohaus, Vetreter im Amt des Landesbeauftragten für den Datenschutz Sachsen-Anhalt.
Albert Cohaus: Überrascht über die hohe Zahl der Berechtigten, die automatisiert Daten abrufen können. Bildrechte: picture alliance/dpa/dpa-Zentralbild | Klaus-Dietmar Gabbert

Datenschutzbeauftragter: Anzahl der Berechtigten überraschend hoch

Sachsen-Anhalts amtierender Landesdatenschutzbeauftragter, Albert Cohaus, sagt: "Die hohe Zahl hat uns überrascht, auch weil wir uns mit dem Thema aus Kapazitätsgründen bislang nicht befassen konnten." Die automatisierten Datenabfragen hatte Cohaus bis dahin nicht als Problem gesehen. "Es gibt auch nicht viele Voraussetzungen, damit das Innenministerium einer anfragenden Stelle einen Zugang gewährt", sagt Cohaus im MDR SACHSEN-ANHALT Podcast "Digital leben".

Dr. André Göbel, Präsident der FITKO
Marcel Roth spricht im Podcast mit dem amtierenden Landesdatenschützer Albert Cohaus, dem Datenschutz-Journalisten Ingo Dachwitz, mit dem MDR-Intel-Experten Dr. Sebastian Mantei und Dr. André Göbel 8im Bild), dem Präsidenten der FITKO. Bildrechte: FITKO Kathleen Friedrich

Dabei kritisieren weder Cohaus und Dachwitz grundsätzlich, dass es solche Zugänge für berechtigte Stellen gibt. Schließlich würden solche Systeme auch dafür sorgen, dass Behörden schneller arbeiten könnten, weil sie die Daten ohne Aufwand und klassischen Briefwechsel abfragen können. Cohaus und Dachwitz geht es vor allem darum, dass die Zugriffe weder protokolliert noch testweise geprüft wird, ob die Zugriffe erlaubt waren.

Hohes Missbrauchspotenzial

Denn das Missbrauchspotenzial schätzen beide als groß ein. Dachwitz sagt: "In den vergangenen Jahren standen meistens Polizisten im Fokus. Sie haben zum Beispiel Daten einer Frau abgerufen, die sie bei einer Verkehrskontrolle gesehen haben oder konnten Drohbriefe an Menschen schreiben."

Ingo Dachwitz, Datenschutz-Journalist bei netzpolitik.orh
Datenschutz-Journalist Ingo Dachwitz: "Insgesamt dürfte die Zahl sogar noch deutlich höher sein" Bildrechte: privat

Ingo Dachwitz Ingo Dachwitz ist Datenschutzjournalist und arbeitet für netzpoltik.org, einer Spenden-finanzierten Nachrichten-Website zu netzpolitischen Themen. Dachwitz hat in diesem Jahr unter anderem berichtet, wie die Werbedaten-Industrie funktioniert. "Wir haben einen Einblick bekommen: Hunderte Firmen sortieren uns in mehr als 650.000 Kategorien. Erstmals konnten wir nachvollziehen, wie granular und detailliert das ist", sagt Dachwitz. Dabei würden auch Tochterfirmen von ProSiebenSat1 und Telekom mitmischen. Jetzt könne man wirklich sehen, wie wenig die informierte Einwilligung nach der DSGVO funktioniert, so Dachwitz.

Dachwitz wundert sich darüber, wie unterschiedlich die Zahl der Zugriffsberechtigten in Stellen ist, die die gleichen Tätigkeiten nachgehen. Bei Krankenkassen gibt solche Unterschiede: Die DAK hat bundesweit 2.053 Menschen, die AOK 377, die IKK gesundplus und die Barmer in Sachsen-Anhalt 14 Menschen mit Zugriff. Auch bei Jobcentern wirken die Zahlen willkürlich: Beim Jobcenter Halle haben 119 Personen das Recht – beim Jobcenter Dessau-Roßlau sind es vier. "Bei Dessau-Roßlau merkt man, da hat sich jemand Gedanken gemacht haben und sie haben vielleicht ein Datenschutzkonzept mit klar verteilten Zugängen für die Leute, die sie wirklich brauchen."

Lösung: Protokolle und Stichprobenkontrollen

Dachwitz und Cohaus wünschen sich, dass jedes Mal, wenn ein Behördenmitarbeiter eine Abfrage macht, der Vorgang protokolliert wird. Solche Protokolle sollten dann kontrolliert werden. "Die Leute müssen Angst haben oder wissen, das kann auffliegen, wenn zum Beispiel jede fünfzigste oder jede hundertste Anfrage stichprobenartig überprüft wird", sagt Datenschutzjournalist Dachwitz.

Albert Cohaus sieht dabei auch den IT-Dienstleister des Landes, Dataport, in der Verantwortung. Er könnte solche Abruf-Protokolle bereitstellen, würde sie aber nicht ohne Weiteres herausgeben. Darüber würde seine Behörde und Sachsen-Anhalts Innenministerium gerade eine Diskussion ausfechten, sagt Cohaus: "Das Innenministerium sagt, dafür gäbe es keine Rechtsgrundlage. Wir sind anderer Ansicht. Denn Datenschutzbeauftragte sollten und müssten das regelmäßig prüfen. Das geben die Datenschutzgesetze her."

Datenschutzbeauftragte müssten kontrollieren

Und weil jede öffentliche Behörde eigene Datenschutzbeauftragte hat, könnten sie solche Stichprobenprüfungen machen, meint Cohaus. Für seine Landesdatenschutz-Behörde schließt Cohaus aus, dass sie sich derzeit regelmäßig darum kümmert. "Allein anhand der Anzahl der Abfragen wird klar, dass wir dafür nicht zusätzlich jemanden einstellen können", sagt Cohaus.

Ohnehin hat Cohaus’ Landesdatenschutzbehörde das Problem, dass sie seit Jahren unterbesetzt ist. Allein, weil es keinen gewählten Landesdatenschutzbeauftragten gibt, konnten in den vergangenen Jahren mehr als 5.000 Arbeitsstunden nicht geleistet werden. Im Landtag sind mittlerweile drei Bewerber für den Chef-Posten mehrfach nicht gewählt worden. Darunter auch Albert Cohaus, der eigentlich als Direktor bei der der Datenschutzbehörde arbeitet und seit Januar 2021 auch die Arbeit des Behördenchefs und des Pressesprechers macht.

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Seiner Behörden fehlen zwölf Stellen. "Es brennt so, dass ich drei Stellen ganz dringend brauche", sagt Cohaus. Er will zum Beispiel die E-Akte einführen: "Wir müssen da mithalten können. Denn wie will ich etwas kontrollieren, was ich selbst gar nicht kenne, weil ich noch mit Papierakten arbeite?" Doch bekommen hat seine Behörde keine einzige Stelle.

Und so bleibt fraglich, ob das Missbrauchspotenzial der automatisierten Datenabfragen in Sachsen-Anhalt in nächster Zeit eingedämmt werden kann. Aber das gibt es auch in anderen Bundesländern, sagt Datenschutzjournalist Ingo Dachwitz. Dort sei die Lage nicht besser: "Wir wissen es jetzt nur über Sachsen-Anhalt, weil die Linksfraktion diese Anfrage gestellt hat."

Und Dachwitz sagt, das ganze Problem existiere auch deshalb, weil es eine rechtliche Lücke gibt: Der Bund hat die Kontrolle über die automatisierten Datenabfragen an die Länder abgegeben. "Um Sicherheitsmaßnahmen zu ergreifen, braucht es also eigene Initiativen der Landesgesetzgeber." Aber dafür müsse sich ein Landesgesetzgeber auch für Datenschutz interessieren.

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MDR (Marcel Roth)

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