Angriff auf Rechtsextreme Der Überfall in Roßlau und die mögliche Spur zur linksextremen Gruppe um Lina E.
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Von Daniel Salpius und Roland Jäger, MDR SACHSEN-ANHALT
22. Dezember 2023, 17:57 Uhr
Unter anderem mit einem Hammer sind im Januar 2019 sechs Vermummte auf vier Rechtsextreme losgegangen. Der Tatort: das Umfeld der Bahnhofsunterführung in Roßlau. Die Ähnlichkeiten zu den Taten der linksextremistischen Gruppe um Lina E. sind groß. Für die Aufnahme in den Prozess gegen die Studentin und ihre Mittäter reichten die Indizien allerdings nicht aus. Nach der Aussage eines Kronzeugen ermittelt die Bundesanwaltschaft nun aber wieder in diese Richtung. Eine Spurensuche.
- Sachsen-Anhalts Verfassungsschutz geht davon aus, dass die Täter planvoll vorgegangen sind und den Tatort zuvor ausspähten.
- Das sind die Parallelen zu den Taten der linksextremistischen Gruppe um Lina E. in Leipzig, Wurzen und Eisenach.
- Ob es überhaupt mehr als einen Anfangsverdacht gegen Lina E. und zwei Mittäter in Bezug auf den Überfall in Roßlau gibt, ist derzeit völlig unklar.
Es ist der 19. Januar 2019. Am Bahnhof in Roßlau steigen gegen 18:10 Uhr vier Männer aus dem Zug. Sie hatten zuvor an einem rechtsextremistischen Aufzug in Magdeburg teilgenommen. In Roßlau werden sie bereits erwartet. Sechs Vermummte greifen die Männer nach ihrer Ankunft unvermittelt im Bereich der Bahnhofsunterführung an und schlagen mit einem Hammer, einem Schlagring und einem sogenannten Totschläger auf sie ein. Die Männer aus der rechten Szene erleiden schwere Verletzungen, drei von ihnen müssen anschließend stationär im Krankenhaus behandelt werden.
Verfassungsschutz: "Tod billigend in Kauf genommen"
Dieser Ablauf ergibt sich aus einer Pressemitteilung der Polizeiinspektion Dessau, die noch am Tattag verschickt wurde. Weitere Details, etwa die Tatmittel und die Zahl der Täter, lassen sich im sachsen-anhaltischen Verfassungsschutzbericht von 2019 nachlesen. Darin wird die Tat eindeutig der linksextremen Szene zugeordnet.
Für die Verfassungsschützer scheint zudem festzustehen, dass Tatgelegenheiten und Fluchtmöglichkeiten zuvor ausgekundschaftet worden seien, der Ablauf des Angriffs abgestimmt gewesen und der Tod der Geschädigten zumindest billigend in Kauf genommen worden sei. So steht es im Bericht.
Der Angriff galt offenbar in erster Linie einem der vier Männer: Alexander W. aus Roßlau. "Er ist die zentrale Führungspersönlichkeit der hiesigen Neonazi-Kameradschaftsszene", ordnet Steffen Andersch vom Mobilen Beratungsteam gegen Rechtsextremismus in Anhalt ein. Alexander W. veranstalte Neonazi-Konzerte, melde Demonstrationen an und unterhalte einen informellen Treff der Szene. Er sei überregional bekannt und gut vernetzt bis nach Sachsen und Thüringen. "Nicht umsonst taucht er immer wieder namentlich im Verfassungsschutzberichten auf", so Andersch.
Verdacht gegen Linksextremisten um Lina E. begründet?
Die Staatsanwaltschaft Dessau-Roßlau wertete den Überfall auf Alexander W. als versuchten Mord, konnte jedoch die Täter nach eigenen Angaben bis heute nicht ermitteln. Mutmaßungen in die Richtung der verurteilten Linksextremistin Lina E. kamen nach MDR-Informationen wegen des Tathergangs früh auf, ließen sich aber nicht belegen. Die Aussage eines Kronzeugen im Prozess gegen die Gruppe um Lina E. in Dresden hatte den Verdacht dann wieder angefacht und auch neue Ermittlungen der Bundesanwaltschaft gegen die Studentin aus Leipzig und mindestens zwei weitere Mittäter angestoßen. Doch wie realistisch ist die Spur?
Für Alexander W. ist die Sache offensichtlich. Es habe zu lange gedauert, bis Rückschlüsse auf die linksextremistische Gruppe gezogen worden seien, teilte er MDR SACHSEN-ANHALT auf Nachfrage mit. W. vermutet dahinter Absicht von Justiz und Medien.
Der MDR Investigativ-Journalist Edgar Lopez kennt den Fall Lina E. genau. Er hat den Prozess gegen die Studentin und drei mitangeklagte Männer vor dem Oberlandesgericht Dresden beobachtet. Zudem ist er Mitautor des MDR-Podcasts "Die Fascho-Jägerin?! – der Fall Lina E. und seine Folgen". Im Prozess ging es um Angriffe auf Neonazis sowie einen vermeintlichen Neonazi, die sich zwischen 2018 und 2020 in Leipzig, Wurzen und Eisenach ereigneten. Der Vorfall in Roßlau ähnle diesen durchaus sehr stark.
MDR-Experte: "Offenkundige Parallelen lassen noch keinen Schluss zu"
"Das Vorgehen passt ins Schema der Überfälle in Sachsen und Thüringen. Auch dort überraschten die Angreifer ihre Opfer, operierten in Überzahl und setzten Schlagwerkzeuge ein, meist Teleskopschlagstöcke", so Lopez. Vorheriges Ausspähen der Opfer sei von der Gruppe um Lina E. ebenfalls bekannt. Und auch Alexander W. passe als mögliches Ziel ins Bild. "Bei den Angriffen in Leipzig, Wurzen und Eisenach standen oft ebenfalls führende Rechtsextreme im Fokus der Täter."
Diese offenkundigen Parallelen ließen jedoch noch lange nicht den Schluss zu, dass Lina E. oder ihre Mitangeklagten auch an der Tat in Roßlau beteiligt gewesen sein müssen, stellt Lopez klar. "Niemand sollte davon ausgehen, dass es nur eine Gruppe gibt, die solche Überfälle durchgeführt hat." Es habe noch andere Aktionen gegeben, die nach demselben Schema abgelaufen seien, wo sich aber am Ende keine Verbindungen zu den Angeklagten in Dresden ergeben hätten.
Das galt bislang auch für Roßlau. Ein Zusammenhang zur Gruppe um Lina E. sei nämlich schon im Vorfeld des Prozesses in Dresden geprüft worden. "Es hat aber nicht genug Indizien gegeben, um diesen Überfall mit zur Anklage zu bringen", erklärt Lopez. Das habe sich erst mit besagter Aussage des Prozess-Kronzeugen Johannes D. beim LKA Sachsen geändert. "Er hat die Angeklagte bzw. ihr Umfeld in Bezug auf den Angriff in Roßlau belastet – das wissen wir aus dem Verfahren in Dresden." Ob das allerdings Hand und Fuß hat, lässt sich für den Prozessbeobachter momentan überhaupt nicht einschätzen. "Das werden erst die weiteren Ermittlungen der Bundesanwaltschaft ergeben."
Ermittlungen der Bundesanwaltschaft schon länger bekannt
Ob es überhaupt mehr als den Anfangsverdacht durch die Aussage des Kronzeugen gibt, ist unklar. Deshalb gilt bis zu einer rechtskräftigen Verurteilung die Unschuldsvermutung. Die Bundesanwaltschaft wollte sich zum Stand ihrer Ermittlungen auf Nachfrage von MDR SACHSEN-ANHALT nicht äußern. Auch Lina E.s Anwalt beantwortete Fragen des MDR hierzu nicht.
Dass die Bundesanwaltschaft in dieser Richtung wieder ermittelt, war laut Edgar Lopez zumindest den Prozessbeobachtern auch nicht neu. Die aktuelle mediale Aufmerksamkeit dafür hänge mit einem Schreiben der Staatsanwaltschaft Dessau-Roßlau zusammen, das im Oktober im Internet kursierte. Die Staatsanwaltschaft hatte die Echtheit dieses Schreibens bestätigt. Es liegt MDR SACHSEN-ANHALT vor. Darin wird einem der Opfer von Roßlau mitgeteilt, dass wegen "eines Anfangsverdachts" gegen Lina E. und zwei mögliche Mittäter der Generalbundesanwalt die Ermittlungen übernommen habe.
Bedeutung möglicher neuer Indizien für Prozess unklar
Was es für das Verfahren gegen die verurteilte Linksextremistin theoretisch und praktisch bedeuten würde, sollten sich am Ende doch noch belastbare Hinweise an einer Tatbeteiligung in Roßlau ergeben, ist völlig unklar. Die Frage, ob es in diesem Fall einen ganz neuen Prozess geben könnte, wollte die Bundesanwaltschaft ebenfalls nicht beantworten.
Das OLG Dresden hatte Lina E. Ende Mai unter anderem wegen Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung zu fünf Jahren und drei Monaten Haft verurteilt. Die Staatsanwaltschaft hatte acht Jahre gefordert. Die drei mitangeklagten Männer im Alter von 28 bis 37 Jahren erhielten Haftstrafen zwischen zwei Jahren und fünf Monaten sowie drei Jahren und drei Monaten. Gegen das Urteil hatten sowohl die Angeklagten als auch die Bundesanwaltschaft Revision eingelegt.
Die vier Verurteilten sind auf freiem Fuß, solange das Urteil nicht rechtskräftig ist. Nach MDR-Informationen lag den Anwälten die schriftliche Begründung des Urteils zuletzt noch immer nicht vor. Inzwischen soll sie sich aber auf dem Postweg befinden.
MDR (Daniel Salpius)
Dieses Thema im Programm: MDR SACHSEN-ANHALT HEUTE | 22. Dezember 2023 | 19:00 Uhr
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