Bürgerinitiative "Wir haben genug!" – über eine gebeutelte Region und den Streit um die Mülldeponie in Roitzsch
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17. März 2022, 08:34 Uhr
Die Stadt Bitterfeld galt zum Ende der DDR-Zeit als dreckigste Stadt Europas. Und ausgerechnet in dieser vorbelasteten Region gibt es nun schon seit Jahren großen Streit um eine Mülldeponie. Eine Geschichte über ein Dorf namens Roitzsch und die Sorgen seiner Bewohner. Teil 3 des MDR-Themenschwerpunktes über Müll in Sachsen-Anhalt.
- Über die Mülldeponie in Roitzsch wird seit Jahren gestritten. Dass sich so großer Widerstand regt, hat auch mit der Vergangenheit der Region zu tun.
- Ein neues Gutachten zu möglichen Umweltgefahren soll Mitte dieses Jahres in Auftrag gegeben werden. Die Bürgerinitiative "Pro Roitzsch" setzt sich gegen die bereits bestehende und weitere geplante Deponien ein.
- Ist das Naherholungsgebiet an der Roitzscher Grube in Gefahr? Und was bedeutet die Deponie für die Lebensqualität im Ort?
Am Ende verdeutlicht eine Landkarte das ganze Dilemma. Sie zeigt die Region zwischen Bitterfeld-Wolfen und Sandersdorf-Brehna mit den umliegenden Ortschaften. "Hier", sagt Thomas Rausch und zeigt mit dem Finger auf die Mitte der Karte, "wäre normalerweise das Rathaus einer Gemeinde, der Marktplatz oder die Kirche."
Die anderen Mitglieder der Bürgerinitiative Pro Roitzsch nicken. Aber: "Bei uns", sagt der Vorsitzende dann noch, "steht dort eine Mülldeponie. Unser Marktplatz ist die Deponie. Sie steht im Zentrum der Ortschaften. Das kann doch einfach nicht sein."
Während alle anderen sitzen, steht Rausch als Einziger im Gemeindehaus Roitzsch. Inbrunst liegt in seiner Stimme, als er über die Mülldeponie spricht. Meterhoch türmt sie sich vor Roitzsch, einem kleinen Ort mit 2.000 Einwohnern, auf. Gerade mal einen Kilometer vom Ortseingangsschild entfernt, direkt neben der Bundestraße 100.
"Unser Kampf gegen die Deponie läuft nun schon seit 13 Jahren, damals wurde die Bürgerinitiative gegründet", sagt Rausch, 69 Jahre alt. "Teilweise resignieren die Bürgerinnen und Bürger mittlerweile. Manche denken, wir erreichen doch sowieso nichts, denn am Ende entscheidet derjenige, der das meiste Geld hat."
Und doch: "Wir brauchen Stehvermögen und wir haben Stehvermögen. Wir kämpfen weiter. Denn wir wollen unser Leben zurückhaben, wie es einmal war. Und wir wollen, dass auch unsere Kinder und Enkelkinder hier noch eine lebenswerte Zukunft haben."
"Diese Gegend ist schon gebeutelt genug"
Seit Jahren wird um die Deponie in Roitzsch gestritten. Wer verstehen will, warum sich dort so großer Widerstand regt, muss auch die Geschichte der Menschen in der Region Anhalt-Bitterfeld verstehen: Die Stadt Bitterfeld galt zum Ende der DDR-Zeit als dreckigste Stadt Europas.
Lutz Zschoch erinnert sich noch gut daran. Der 65-Jährige ist der Stellvertreter von Thomas Rausch in der Bürgerinitiative, die 2009 gegründet wurde und mittlerweile als eingetragener Verein auftritt.
"Ich bin hier geboren und aufgewachsen", sagt Zschoch. "Als ich in Bitterfeld zur Schule gegangen bin, konnte ich die Augen manchmal kaum aufmachen, wenn der Wind falsch stand, durch die Brikettfabrik. Wir haben als Kinder schon Kanister und Fässer gesehen, wo keiner wusste, was drin ist. Das Zeug liegt heute noch wie eine Zeitbombe im Boden. Wir haben hier kontaminierte Flächen ohne Ende. Wir haben genug!"
Doch 2015 nahm die Deponie DK II der Firma GP Papenburg Entsorgung Ost GmbH ihren Regelbetrieb auf. Auf 25 Hektar werden dort mineralische Abfälle wie zum Beispiel Holz, Dämmstoffe oder Metalle entsorgt und verwertet. Die Bürgerinitiative – einst gegründet, um den Bau der ersten Deponie zu verhindern – fordert seit der Inbetriebnahme deren Betriebsstopp. Inzwischen sind allerdings sogar zwei weitere Deponien (DK 0 und DK I) geplant. Auch diese wollen die Roitzscher verhindern. Über 900 Einwendungen von Bürgerinnen und Bürgern sind gegen den Bau zuletzt beim Landkreis eingegangen.
"Diese Gegend ist schon gebeutelt genug durch die Altlasten aus DDR-Zeiten", sagt Lutz Zschoch. "Nach der Wende haben wir am Image der Region und den Lebensbedingungen gearbeitet – mit Erfolg! Es wurde viel Geld investiert in den Umweltschutz, nachhaltige Industrie hat sich angesiedelt und wir sind das Image als Dreck-Ecke Sachsen-Anhalts langsam losgeworden."
Dass vor ein paar Jahren nun eine Deponie genehmigt worden ist und zwei weitere in Planung seien, könne er nicht nachvollziehen, sagt Zschoch – und erklärt: "Für mich fehlt da die soziale Kompetenz und auch die Umweltkompetenz der staatlichen Institutionen. Und Papenburg, der Antragsteller, ordnet sein Handeln meiner Meinung nach nur dem Profitstreben unter und denkt nicht an die Region. Er nimmt seine unternehmerische Verantwortung aus meiner Sicht nicht wahr. Und uns wird auf der anderen Seite immer wieder vor Augen geführt, wie ohnmächtig wir doch sind."
Deponie-Betreiber Papenburg ließ eine Anfrage von MDR SACHSEN-ANHALT zur Deponie in Roitzsch und den weiteren Plänen unbeantwortet.
Warum sich die Bürgerinnen und Bürger so große Sorgen machen
Die Menschen in Roitzsch sorgen sich längst nicht mehr nur um das Image ihrer Heimat. Bei einer Anhörung im Landtag war im Januar dieses Jahres deutlich geworden, dass sich zwei bestehende Gutachten in der Frage widersprechen, ob durch die Deponie Roitzsch die Grundwasserqualität gefährdet wird oder nicht.
Ein von der Stadt Sandersdorf-Brehna in Auftrag gegebenes Gutachten stellt diese Gefahr fest und sieht zudem Mängel im Planfeststellungsverfahren der Deponie. Ein vom Landkreis veröffentlichtes Gutachten wertet das anders.
Von Seiten des Umweltministeriums hieß es, ein Monitoring vor Ort habe ergeben, dass es weder beim Grundwasser noch anderweitig Probleme mit der Deponie Roitzsch gebe. Mit Blick auf ein mögliches drittes Gutachten sagte Staatssekretär Steffen Eichner (SPD): "Wir gehen davon aus, dass ein neues, unabhängiges Gutachten, das vom Ministerium in Auftrag gegeben wird, von allen Parteien anerkannt wird." Der Auftrag dafür könnte Mitte 2022 erfolgen.
Was die Hauptkritikpunkte der Bürgerinitiative sind? Das erklärt deren Vorsitzender Thomas Rausch so: "Die Deponie wird auf einem aufgeschütteten Gelände errichtet, wo früher mal ein Tagebau war. Das Gelände unten drunter ist nicht verdichtet. Damit entstehen Setzungen. Und die sind größer, als wenn die Deponie irgendwo auf einer anderen Fläche wäre. Und mit der Setzung drückt sie in das Grundwasser rein und damit ist auch eine Beschädigung der Basisabdichtung vorhersehbar."
Für Rausch steht fest: "Die Auswirkungen wären nachher immens. Es würde das Naherholungsgebiet Roitzscher Grube betreffen und es würde weitere Ortschaften betreffen, die mit dem möglicherweise kontaminierten Grundwasser den Schaden haben."
Wichtig zu betonen, ist laut Rausch, dass es bei der Kritik nicht um die Deponie an sich gehe. Sondern vor allem um den aus Sicht der Bürgerinitiative unangebrachten Standort. Müll müsse entsorgt werden. Doch zu viel Müll werde importiert, dabei gehe es nur um das Geschäft, vermuten die Mitglieder der Bürgerinitiative. Wie viel Abfälle tatsächlich in die Deponie importiert werden, bleibt ungewiss. Auch eine dementsprechende Anfrage von MDR SACHSEN-ANHALT lässt Deponie-Betreiber Papenburg unbeantwortet.
Ist das Naherholungsgebiet an der Roitzscher Grube in Gefahr?
Auch Annegret Gutjahr sorgt sich um die Zukunft. Sie sorgt sich um die Idylle. Bangem Blickes schaut die 72-Jährige auf das Steilufer der Roitzscher Grube, einem Badesee unweit der Bundestraße 100. Auf der einen Seite der Straße befindet sich die Deponie, auf der anderen geht es steil hinab zum See. Viele Eigentümer der Wochenend-Häuschen oder Bungalows haben Angst um die Standsicherheit der Böschung an der Grube.
Denn bereits 1970 kamen Geologen diesbezüglich zu dem Ergebnis: Die Standsicherheit sei nur gegeben, wenn der Wasserstand konstant bei 72 Metern über Normalnull gehalten wird. Das gelte noch heute, erzählt Annegret Gutjahr, die Vorsitzende des Vereins "Roitzsch-Südufer", der für die Grube zuständig ist. Im Verein fürchten sie, dass der Bau weiterer Deponien sich auf den Wasserstand auswirken könnte.
"Wir sind 165 Mitglieder und diese 165 Mitglieder sorgen finanziell dafür, dass das Wasser abgepumpt werden kann, um den Wasserstand zu erhalten", erklärt Gutjahr. 45.000 Euro habe das im vergangenen Jahr an Stromkosten verursacht.
"Unsere Angst ist, dass unser See, der eine vorzügliche Wasserqualität hat, diese irgendwann nicht mehr hat", sagt Gutjahr. "Dass das umschlägt, das Sickerwasser aus der Mülldeponie in unseren See gelangt und damit dieses Wasser verunreinigt. Und zum anderen natürlich, dass sich der Grundwasserspiegel ändert und durch das Eindringen von noch mehr Grundwasser unsere Pumpen noch mehr Leistung bringen müssen und das Abpumpen noch teurer wird."
Schon jetzt seien Auswirkungen der bestehenden Deponie zu spüren, so Gutjahr. Vor allem: Lärm und Schmutz. "An manchen Tagen liegt eine ganz feine Staubpartikelschicht auf dem See", sagt Gutjahr. Und: "Im Sommer fangen sie auf der Deponie um 6 Uhr an zu arbeiten. Dann hörst du die Schieberaupe und brauchst keinen Wecker."
"Das macht unheimlich viel kaputt"
Mario Willer bestätigt diese Eindrücke. Und er muss es wissen: Schließlich wohnt der Ortsbürgermeister von Roitzsch direkt am Ortseingang, die Mülldeponie in Sichtweite. "Es gibt Tage", sagt der 61-Jährige, "da stinkt es richtig."
Dabei sei Roitzsch eigentlich ein richtig lebenswerter Ort, sagt Willer. Denn: "Wir können hier autark leben. Wir haben Einkaufsmöglichkeiten, einen Kindergarten, eine Schule. Wir haben Ärzte, einen schönen Park, ein Freibad. Wir haben sehr viele Vereine, von Angeln über Fußball bis Karneval gibt es hier alles." Und: "Das Zusammenleben im Ort ist sehr positiv. Man unterstützt sich – und wir kämpfen gemeinsam um unsere lebenswerte Umgebung."
Die Deponie passe nicht ins Bild, sagt Willer. Doch allmählich seien manche Bürgerinnen und Bürger müde. "Für mich ist das ein ganz fataler Faktor bei der Geschichte", sagt der Ortsbürgermeister. "Hier sind alle gegen diese Deponie und die weiteren: der Ort, die Stadt, der Landkreis. Aber wir finden kein Gehör. Stattdessen stehen aus meiner Sicht die wirtschaftlichen Interessen eines Unternehmens im Vordergrund und das ganze Volk wird negiert. Das macht unheimlich viel kaputt, was das Vertrauen in die Politik angeht."
Manchmal stehe er neben Menschen aus Roitzsch, erzählt Willer, die auf die Deponie schauen und sagen würden: "Guck dir mal den Berg an, der hier in ein paar Jahren gewachsen ist. Ihr habt doch keine Chance gegen Papenburg." Doch Willer sagt: "Wer aufgibt, hat schon verloren. Und wir geben nicht auf. Ich habe noch Hoffnung."
Warum? "Das liegt vor allem auch an dem Engagement der Bürgerinitiative unter Federführung von Thomas Rausch", sagt der Ortsbürgermeister. "Was sie leisten, davor kann ich nur den Hut ziehen. Wir sind zumindest bekannt mit unserem Problem, bis in den Landtag. Und das haben wir der Bürgerinitiative zu verdanken."
Bürger-Engagement mit "Leib und Seele"
Inzwischen hat sich das Gemeindehaus in Roitzsch geleert. Nur Thomas Rausch ist nach der Sitzung der Bürgerinitiative noch da. Er rollt noch die neuen Plakate zusammen, die bei künftigen Aktionen gezeigt werden sollen. "Roitzsch ist nicht die Müllhalde Europas", steht darauf geschrieben. Oder: "Zerstört nicht unsere Umwelt." Und: "Opfert nicht unsere Lebensqualität."
Thomas Rausch sagt: "Wenn ich etwas in Angriff nehme, dann mache ich das mit Leib und Seele. Dann knie ich mich rein. Mit halbherziger Arbeit hat noch nie jemand positive Ergebnisse erzielt. Und wir wollen noch positive Ergebnisse erzielen. Es war ein harter Kampf bis heute, aber wir werden weiter dranbleiben."
Um seine Generation gehe es dabei gar nicht, sagt der 69-Jährige. Aber: "Wir haben hier auch junge Familien. Und wir wollen, dass diese Familien weiter in Roitzsch leben wollen. Wir wollen, dass die Kinder und Enkelkinder hier noch eine Zukunft haben. Deshalb kämpfen wir."
Über den Autor
Daniel George wurde 1992 in Magdeburg geboren. Nach dem Studium Journalistik und Medienmanagement zog es ihn erst nach Dessau und später nach Halle. Dort arbeitete er für die Mitteldeutsche Zeitung.
Vom Internet und den neuen Möglichkeiten darin ist er fasziniert. Deshalb zog es ihn im April 2017 zurück in seine Heimatstadt. Bei MDR SACHSEN-ANHALT arbeitet er seitdem als Sport-, Social-Media- und Politik-Redakteur, immer auf der Suche nach guten Geschichten, immer im Austausch mit unseren Nutzern.
MDR (Daniel George)
Dieses Thema im Programm: MDR SACHSEN-ANHALT HEUTE | 13. März 2022 | 19:00 Uhr
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