Weiße Häuser neben der Goitzsche
Obwohl die Schlossterrassen in Pouch ein Ferienhausgebiet sind, wohnen hier viele Menschen dauerhaft. Bildrechte: MDR/Lucas Riemer

Privatisierung des Goitzsche-Sees Billigt der Landkreis Anhalt-Bitterfeld illegales Wohnen an der Goitzsche?

von Daniel Salpius, Lucas Riemer und Oliver Matthes, MDR

16. November 2023, 11:09 Uhr

Im Jahr 2013 wurden große Flächen an der Goitzsche bei Bitterfeld günstig an private Investoren verkauft. Eine Bedingung damals: die touristische Entwicklung des Sees. Doch MDR-Recherchen zeigen, dass entsprechende Bebauungs- und Entwicklungspläne an den Schlossterrassen in Pouch offenbar gezielt hintergangen worden sind. Neubauten am Ufer der Goitzsche werden dort statt für Ferien überwiegend zum Dauerwohnen genutzt.

Wenn Muldestausees Bürgermeister Ferid Giebler sehen will, was sich in seiner Gemeinde gerade tut, steigt er auf den Roten Turm in Pouch. Von hier oben hat er einen guten Rundumblick über das Ufer der Goitzsche, den See und den Ortsteil Pouch. Er kann beobachten, wie die Renovierung des Poucher Schlosses vorangeht, und er kann, wenn er den Blick in Richtung Südosten wendet, auf das umstrittenste Projekt in seiner Gemeinde schauen: die Schlossterrassen.

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Direkt am See sind ab 2016 rund 20 Ein- und Mehrfamilienhäuser entstanden. In dem schmucken Wohngebiet mit geplantem Yachthafen vor der Haustür haben nach Aussage des Bürgermeisters etwa 50 Menschen ihren Hauptwohnsitz. Weitere Häuser könnten auf den unbebauten Grundstücken noch entstehen und neue Einwohner in den Ort locken. Zirka 160 Wohneinheiten sind laut Gemeinde möglich, wenn alles bebaut wird.

Bürgermeister beklagt dauerhaftes Wohnen im Tourismus-Sondergebiet

Doch der parteilose Giebler kann sich über den neu geschaffenen Wohnraum in seiner Gemeinde nicht freuen – denn die Siedlung an den Schlossterrassen hat einen entscheidenden Schönheitsfehler. "Das hier ist kein Wohngebiet, sondern ein Sondergebiet für Erholung und Tourismus. Die Bauten können also eigentlich nur als Ferienhäuser genutzt werden, wohnen darf man dort nicht."

Dass die Häuser dennoch von vielen Eigentümern oder deren Mietern dauerhaft bewohnt werden, sei illegal und laufe den Interessen des Ortes zuwider, der eine touristische Entwicklung anstrebe und auf damit verbundene Gewerbesteuereinnahmen hoffe.

Blick auf die Halbinsel Pouch und die Wakeboard-Anlage an der Goitzsche in Sachsen-Anhalt
Im Jahr 2013 wurden der Goitzsche-See und angrenzende Flächen zu sehr günstigen Preisen privatisiert. Bildrechte: IMAGO / Steffen Schellhorn

Die Schlossterrassen waren einst Teil des 1.500 Hektar großen Pakets an See- und Uferflächen, das sich die zum Merckle-Konzern gehörende Blausee GmbH vor zehn Jahren für 2,9 Millionen Euro sichern konnte. Die Stadt Bitterfeld-Wolfen und der Kreis Anhalt-Bitterfeld hatten verkauft, weil die gemeinsame, kommunale Entwicklungs-, Betreiber- und Verwertungsgesellschaft Goitzsche in finanzielle Schieflage geraten war.

Der schon damals niedrig erscheinende Preis wird bis heute auch mit den Bedingungen gerechtfertigt, die an den Verkauf geknüpft und auf eine touristische Entwicklung der Goitzsche ausgerichtet waren und sind.

Der Käufer wurde verpflichtet, touristische Infrastruktur zu schaffen.

Ferid Giebler Bürgermeister Muldestausee

"Die Goitzsche und angrenzende Flächen wurden im Rahmen eines Masterplans als Freizeit- und Tourismusflächen benannt", bestätigt Ferid Giebler. "Und der Käufer wurde verpflichtet, touristische Infrastruktur zu schaffen, damit eine Belebung der ganzen Region geschieht." Dieses Ziel ist von der Gemeinde auch in Bebauungspläne gegossen worden. Der Plan für die Schlossterrassen legt das Areal unmissverständlich als Sondergebiet für Freizeit und Erholung fest. Zulässig sind dort Ferienwohnungen und Ferienhäuser – und zwar für einen wechselnden Personenkreis.

Hintergrund: Der Verkauf der Goitzsche

Der Verkauf des Goitzsche-Sees und angrenzender Flächen an private Investoren im Jahr 2013 ist in Bitterfeld-Wolfen und Umgebung bis heute umstritten. Gerade einmal 2,9 Millionen Euro bezahlte etwa die zum Merckle-Konzern gehörende Blausee GmbH für 1.500 Hektar. Attraktive Grundstücke wechselten für Quadratmeterpreise zwischen einem und zehn Euro die Besitzer – sie wurden förmlich "verramscht", wie viele Einwohner in der Rückschau befinden. Kommunalpolitiker, die damals mitentschieden haben, profitierten teilweise persönlich vom Verkauf.

Zuvor hatten viele Flächen der kommunalen Bitterfelder Qualifizierungs- und Projektierungsgesellschaft (BQP) gehört. Als diese in finanzielle Schieflage geriet, entschieden sich die Gesellschafter, die Stadt Bitterfeld-Wolfen und der Landkreis Anhalt-Bitterfeld, für die Liquidation des Unternehmens und den Verkauf der Goitzsche-Flächen. Dass die Liquidation tatsächlich notwendig war, bezweifelt der Bitterfeld-Wolfener Stadtrat inzwischen. Mittlerweile hat der Stadtrat eine Leipziger Anwaltskanzlei damit beauftragt, die Vorgänge von vor zehn Jahren zu untersuchen.

Doch die Leitplanken, um die Zukunft der Goitzsche-Flächen in die gewünschten Bahnen zu lenken, werden vom Investor offenbar geschickt und allem Anschein nach mit Rückendeckung des Landkreises Anhalt-Bitterfeld umgangen. Dass die Schlossterrassen ganz bewusst weniger in Richtung Tourismus, mehr zum exklusiven Wohngebiet mit See-Zugang entwickelt werden, dafür gibt es nach MDR-Recherchen einige Indizien.

Projektentwickler und Bauherr: Unternehmer Ingo Jung

Zentraler Akteur dabei ist Ingo Jung. Der Unternehmer tritt mal als Bevollmächtigter von Blausee auf, mal als Projektentwickler. Jung ist seit langem in Bitterfeld und anderen Regionen Sachsen-Anhalts aktiv: Als Bauunternehmer, Hotelier, Bernstein-Schürfer und als CDU-Lokalpolitiker, der unter anderem im Stadtrat von Bitterfeld-Wolfen saß. Nach Angaben der Online-Datenbank North Data ist er Geschäftsführer von 19 GmbHs, viele davon mit Goitzsche-Bezug.

An den Schlossterrassen ist Jung vor allem als Vermarkter und Entwickler der Grundstücke tätig. Viele Flächen wurden mit Bauträgerbindung verkauft, wobei Jungs Goitzsche Projekt GmbH als Bauherr auftritt. Das heißt, seine Firma bekommt das Exklusivrecht, nach Abschluss der Kaufverträge die darin vereinbarten Häuser zu errichten. Jung soll auch für sich selbst in den Schlossterrassen gebaut haben und dort wohnen. Das berichten Anwohner dem MDR. An der Klingel eines großen Hauses an den Schlossterrassen steht sein Name.

Mit der Vermarktung von Eigentumswohnungen oder ganzer Häuser hatte Jung zeitweise unter anderem das Maklerunternehmen B & H Immobilien aus Bitterfeld-Wolfen betraut. Nach eigenen Angaben war die Firma bis November 2020 für Jung tätig.

Vermarktung als selbst nutzbare Eigentumswohnungen

Das Bauschild für die Schlossterrassen, das ein späterer Käufer im Juni 2018 fotografierte, versprach "Wohnen mit Seeblick auf die Goitzsche". Es folgt der Satz: "Hier entsteht ein neues Wohngebiet in unmittelbarer Wasserlage, mit faszinierendem Seeblick für ihre (sic!) neue Eigentumswohnung oder ihr (sic!) besonderes Eigenheim". Als Ansprechpartner für den Vertrieb genannt wird darauf ebenfalls die Firma B & H. Sie sagt auf Nachfrage des MDR, dass sie dieses Bauschild nicht beauftragt habe.

Auch auf der Website www.schlossterrassen-goitzsche.de, die inzwischen offline, in Internet-Archiven aber weiterhin auffindbar ist, wurde noch 2020 mit "Wohnen direkt am See" geworben. Weiter hieß es: "Sie können das Wohnhaus selbst bewohnen oder für die Ferienvermietung anbieten." Bei Bedarf sei man "gern bei der Suche eines infrage kommenden Mieters behilflich". Als Ansprechpartner wird damals auf der Website auch die Firma B & H Immobilien genannt. Sie bestreitet, die Website verantwortet zu haben.

In einem Exposé von B & H, das ein späterer Käufer aufbewahrt hat, ist ebenso von einer "attraktiven Eigentumswohnung" die Rede, diese sei "auch als Ferienwohnung idealer Weise nutzbar". B & H teilt auf Anfrage des MDR mit, dass die Angaben in den Exposés vom Auftraggeber übermittelt worden seien und das Unternehmen nicht für diese Angaben hafte. Dieser Hinweis sei auch in den Exposés enthalten.

Das Maklerbüro war sehr zuversichtlich, dass es auf lange Sicht gesehen zu einer Lösung kommen und man sich einigen wird.

Ralf-Dieter Pioch Wohnungseigentümer

Ralf-Dieter Pioch kaufte vor rund drei Jahren eine Eigentumswohnung an den Schlossterrassen, offiziell als Ferienimmobilie. Doch in den Verkaufsgesprächen sei ihm suggeriert worden, dass langfristig auch eine Nutzung als Wohnraum möglich sei, erinnert er sich: "Das Maklerbüro war sehr zuversichtlich, dass es auf lange Sicht gesehen zu einer Lösung kommen und man sich einigen wird. Es wurde auch schon ein gewisser Prozess angekündigt, der in die Richtung geht".

Sonderstatus sei "unmissverständlich vermittelt" worden

B & H weist diese Darstellung auf Nachfrage des MDR zurück. Versprechungen seien durch das Unternehmen "zu keiner Zeit" gegeben worden, allerdings "vielleicht von anderen Beteiligten". Zudem habe jeder Käufer über einen Notarvertrag eine Ferienimmobilie erworben und ausreichend Zeit gehabt, sich über die damit verbundenen rechtlichen Bedingungen zu informieren.

Ingo Jung lässt die Fragen des MDR nach den mündlichen Versprechungen einer künftigen Klärung unbeantwortet. Auch er beteuert, dass der Sonderstatus des Gebiets den Käufern unmissverständlich vermittelt worden sei. "Wir, die Goitzsche Projekt GmbH, und auch die B & H Immobilien GmbH als damaliger Makler, haben dies immer eindeutig und unmissverständlich dargelegt." So stehe es in jedem Kaufvertrag und so sei jeder einzelne auch informiert gewesen.

Rechtlich scheint Jung damit abgesichert. Mehrere Kaufverträge, die der MDR sichten konnte, enthalten tatsächlich Hinweise, dass die Schlossterrassen ein Ferienhausgebiet sind.

Verbale Beschwichtigungen an Mietinteressenten

Ehemalige Bewohner einer Mietwohnung in den Schlossterrassen erinnern sich jedoch ebenfalls an verbale Beschwichtigungen. Sie wollen anonym bleiben. Wie sie dem MDR berichteten, soll zwar auch ihnen vom Makler B & H mitgeteilt worden sein, dass es sich bei der Wohnung, die sie später beziehen sollten, streng genommen um eine Ferienwohnung handele. Auf die Frage der Mietinteressenten, was das für sie bedeute, soll der Makler jedoch geantwortet haben: "Nichts."

Von Aussagen, dass es nur eine Frage der Zeit sei, bis Wohnen legal möglich werde, berichten dem MDR auch weitere Anwohner und Käufer, die ebenfalls anonym bleiben wollen.

Als Anfang November 2020 ein Schreiben des zuständigen Bauordnungsamtes des Kreises Anhalt-Bitterfeld die Mieter informierte, dass eine Dauerwohnnutzung unzulässig ist, stellten sich die vermeintlichen Zusicherungen als falsch heraus.

Anzeige gegen illegale Wohnnutzung am Goitzsche-See

Zum Zeitpunkt des Infoschreibens war das Bauordnungsamt schon seit mehreren Monaten im Zuge der illegalen Nutzung tätig. Das geht aus internen Dokumenten hervor, die dem MDR vorliegen. Demnach gingen im Juni 2020 kurz hintereinander zwei Anzeigen ein. Neben den Schlossterrassen wurde dabei auch die illegale Wohnnutzung von Häusern in der "Bernsteinpromenade" im Ortsteil Mühlbeck der Gemeinde Muldestausee angezeigt. Auch dieses Gebiet liegt in erster Reihe an der Goitzsche und ist laut Bebauungsplan im Wesentlichen Feriengästen vorbehalten.

Als Vermieter der Immobilien tritt nach Recherchen des MDR die Bernsteinpromenade Betriebsgesellschaft mbH auf, die von Ingo Jung gegründet worden ist und heute von einer anderen Person geführt wird. Auf die beiden Anzeigen reagierte Jung wenige Wochen später seinerseits mit einer Anzeige beim Landesverwaltungsamt.

Er wies die Behörde auf zwei weitere zum Dauerwohnen genutzte Feriengebiete in Mühlbeck hin, in denen er selbst keine Geschäfte macht: Die Siedlungen "An den Kiefern" und "Bernsteinufer" (Mühlbecker Ufer). "Die Wohn und Nutzsituation (sic!) ist hier eindeutig die gleiche und das auch schon deutlich länger", schrieb Jung in seiner Anzeige vom 17. August 2020, die dem MDR vorliegt.

Das Bauordnungsamt entschied indes, seinen Fokus zunächst auf die Schlossterrassen zu legen, weil dort mit einer "schnell anwachsenden Ausweitung der illegalen Nutzung" zu rechnen sei, heißt es in einem internen Mailverkehr, der dem MDR vorliegt. Gleichzeitig wird betont, dass das Baurecht schrittweise in allen vier Gebieten umgesetzt werde. Die Rede ist von insgesamt 114 Verfahren (allein 40 in den Schlossterrassen und 42 in der Bernsteinpromenade), für die man bei der vorhandenen Personalausstattung allerdings einen langen Zeitraum benötigen werde.

Klage mit offenem Ausgang

Die Behörde sprach daher Anfang 2021 zunächst zwei Nutzungsuntersagungen gegen die beiden Bewohner einer gemeinsamen Mietwohnung in den Schlossterrassen aus. Das Verfahren gegen das junge Paar sollte nach Informationen des MDR als Testballon dienen. Ziel war offenbar, ein Musterverfahren anzustrengen, das die zahlreichen weiteren Verfahren beschleunigen sollte. Das Paar wehrte sich juristisch und klagte im Sommer 2021 vor dem Verwaltungsgericht Halle – Ausgang bis heute offen.

In der Zwischenzeit nahm Ingo Jung den Landkreis Anhalt-Bitterfeld ins Visier. In einer internen Mail von Anfang 2021 an den damaligen Landrat Uwe Schulze (CDU), die dem MDR vorliegt, beklagt er eine "Ungleichbehandlung sondergleichen!". Der Kreis "drangsaliere" nur die Anwohner der Gebiete, in denen er aktiv ist. Schulze möge "gleiches Recht im Unrecht" für alle herstellen und auch gegen die anderen, von ihm selbst angezeigten Wohngebiete vorgehen, schreibt Jung.

Enthalten sind auch Anschuldigungen gegen den damaligen Landrat. Dieser habe das "Wohnmodell salonfähig gemacht". Was genau damit gemeint ist, schrieb Jung nicht. Auf Nachfrage des MDR präzisiert er: Schulze habe jahrelang das dauerhafte Wohnen in den Feriengebieten in Mühlbeck geduldet. "Insofern hat der Landkreis vor über 15 Jahren für einen angeblichen illegalen Zustand gesorgt und uns dann in den Schlossterrassen für denselben Sachverhalt seine Mitarbeiter auf den Hals gehetzt", so Jung.

In einer weiteren Mail an Schulze wenig später, erinnert er den Landrat an dessen angebliche "Beteuerung", der Landkreis habe "kein gesteigertes Interesse an der Verfolgung" des Sachverhalts. Wieder wenige Tage später droht Jung dem Landrat in einer weiteren Mail mit einer "Untätigkeitsklage" gegen ihn persönlich sowie den leitenden Mitarbeiter des Bauordnungsamtes. Es würden ferner "strafrechtliche Schritte geprüft" wegen "der Entstehung dieser B-Pläne in der Gemeinde Muldestausee".

Uwe Schulze ließ eine MDR-Anfrage bis zum Redaktionsschluss unbeantwortet.

Nach Landratswahl kehrt Ruhe ein

All diese Mails von Jung an den Landrat gehen an einen umfangreichen Mailverteiler. Ein Name ist dabei besonders auffällig: Andy Grabner, damals noch CDU-Bürgermeister in Sandersdorf-Brehna und thematisch ohne offensichtliche Berührungspunkte mit dem Sachverhalt.

Pikant: Im Sommer 2021 wird Grabner zum neuen Landrat von Anhalt-Bitterfeld gewählt. Seitdem haben sich beim Thema Schlossterrassen die Wogen geglättet. Das angestrebte Musterverfahren zwischen Kreis und dem Paar aus den Schlossterrassen wurde nach MDR-Informationen im November 2021 in beiderseitigem Einvernehmen zunächst ruhend gestellt. Das Verwaltungsgericht Halle hat dies auf Nachfrage bestätigt. Grund für die "Ruhensstellung" sei gewesen, dass sich eine außergerichtliche Einigung abgezeichnet haben soll, so Gerichtssprecher Bernd Harms.

Nach MDR-Informationen hatte das Paar erklärt, sich eine neue Bleibe suchen zu wollen. Dies ist nach Angaben von Grabner tatsächlich geschehen, jedoch liege auch der neue Wohnsitz des Paares wieder an den Schlossterrassen. Dennoch vergingen fast zwei Jahre, bis der Kreis das Verfahren schließlich im September dieses Jahres wiederaufgenommen hat. Nach Angaben des Landrates hätte der Landkreis rückblickend das Ruhen des Verfahrens unter diesen Umständen gar nicht beantragt.

Landrat Grabner verweist auf fehlende "Eilbedürftigkeit"

Bis eine Entscheidung durch das Verwaltungsgericht Halle ergehe, könne es dauern, das Klageverfahren sei nicht eilig, erklärt der Gerichtssprecher. Die Möglichkeit, weitere Nutzungsuntersagungen auszusprechen, um die 112 weiteren Verfahren anzugehen und Musterentscheidungen zu erwirken, ergriff der Kreis in den vergangenen 22 Monaten nicht.

Andy Grabner teilt dazu mit, dass für die Verfahren keine "Eilbedürftigkeit" bestehe. Es sei keine Gefahrenlage für Leib, Leben und Vermögenswerte ersichtlich. Verfahren zur Gefahrenabwehr hätten für den Fachbereich Bauordnung Vorrang.

Aber auch fortgeschrittene Verhandlungen mit Anwohnern scheinen keinen Vorrang zu haben. So soll Landrat Grabner schon 2021 eine bereits unterschriftsreife Vereinbarung zwischen dem Bauordnungsamt und Bewohnern der Schlossterrassen zum Platzen gebracht haben. Die Behörde hatte einer Familie wegen eines Härtefalls eine Duldung über zehn Jahre angeboten.

Der MDR kennt einen internen Mailverkehr zum Vorgang. Die Familie schlug die Vereinbarung überraschend aus und begründete in ihrem Widerspruch: Andy Grabner habe einer anderen Bewohnerin versichert, niemand in den Schlossterrassen müsse ausziehen. Über dieses Zwiegespräch seien alle Bewohner der Schlossterrassen am 15. Mai 2021 per Mail informiert worden.

Die Landratswahl fand allerdings erst am 6. Juni statt. Erst am 12. Juli übernahm Grabner das Amt des Landrats.

Auf Anfrage des MDR dazu entgegnet Andy Grabner, dass ihm der Mail-Verkehr nicht bekannt sei und er seinerseits keine Versprechungen gegeben habe, da er zum damaligen Zeitpunkt weder in der Verantwortung gewesen sei noch im Detail Kenntnis der Rechtslage gehabt habe. Er verwahre sich gegen die Behauptung, eine solche Aussage getroffen zu haben.

Zuständige Mitarbeiter des Bauordnungsamtes werden versetzt

Kurz vor Weihnachten 2021 soll der Landrat nach MDR-Informationen überdies die zuständigen beiden Mitarbeiter des Bauordnungsamts überraschend in einem Schreiben darüber informiert haben, dass sie ab dem 1. Januar 2022 anderen Sachgebieten in der Kreisverwaltung zugeteilt seien. Eine Begründung für die plötzliche Versetzung soll im Schreiben gefehlt haben.

Auf die Frage des MDR nach den Gründen der Versetzung verweist der Landrat auf Geheimhaltungsvorschriften und den Schutz privater Interessen, die einer Auskunft entgegenstünden. Seit der Personalrochade soll sich nach MDR-Informationen in der Causa des illegalen Wohnens an der Goitzsche von Seiten des Kreises jedenfalls nicht mehr viel getan haben.

Dies begründet Grabner gegenüber dem MDR mit umfangreichen und langen Prüfverfahren, die gegenüber eiligen Verfahren zur Gefahrenabwehr nachrangig bearbeitet werden. Zudem "wurde dem Fachbereich Bauordnung im Jahr 2021 signalisiert, dass für drei Ferienhausgebiete im OT Mühlbeck Änderungen der B-Pläne unter Hinzuziehung des zuständigen Ministeriums und des Landesverwaltungsamtes beabsichtigt sind, sodass ein weiteres Vorgehen gegen die dauerhafte Wohnnutzung zu diesem Zeitpunkt nicht zielführend gewesen wäre", so der Landrat.

Welche Rolle spielt Ingo Jung?

Schon Monate vor der Landratswahl soll Ingo Jung in Gesprächen mit Funktionsträgern der Region die Versetzung der beiden Mitarbeiter angekündigt haben. Auf die Fragen, wie er das vorhersehen konnte und ob ihm Grabner damit womöglich einen persönlichen Gefallen getan hat, antwortet Jung dem MDR ausweichend.

Es ehre ihn, welche Macht ihm zugesprochen werde, hebt er an und fährt fort: "Aber wäre es nach mir gegangen, hätte Herr Grabner durchaus mehr Personal in seiner Schnarch Burg (sic!) entfernen können", so Jung. Jeder zweite, der schon einmal einen Bauantrag in der Behörde eingereicht habe, sei froh über diese Personalentscheidung. Und weiter: "Also an dieser Stelle nochmal besten Dank an Landrat Grabner für sein starkes handeln (sic!)."

Andy Grabner teilt dem MDR mit, Ingo Jung habe keine Bitte um Versetzung von Mitarbeitenden der Landkreisverwaltung an ihn gerichtet. Eine solche wäre bei etwaigen Personalentscheidungen ohnehin irrelevant.

An den Poucher Schlossterrassen wohnen derweil allen Bebauungsplänen und Gesetzen zum Trotz weiterhin viele Anwohner dauerhaft. Seit 2020 sei die Zahl der dort mit Hauptwohnsitz gemeldeten Menschen nahezu gleichgeblieben und liege etwa bei 50 Bewohnern, sagt Muldestausees Bürgermeister Ferid Giebler.

Gemeinde besteht auf touristischer Nutzung

Wohnungsbesitzer Ralf-Dieter Pioch wünscht sich einen runden Tisch mit allen Beteiligten: "Ich möchte, dass wir alle gemeinsam eine Lösung finden. Weil ich finde, ohne Investoren wie den Herrn Jung geht es nicht. Aber mit dem Bürgermeister, mit der Gemeinde, mit dem Gemeinderat muss es eine gemeinsame Sache geben."

Doch eine nachträgliche Legalisierung des Dauerwohnens ist für Bürgermeister Ferid Giebler an den Schlossterrassen keine Option – bei den drei anderen betroffenen Gebieten im Ortsteil Mühlbeck allerdings durchaus. Denn diese, so Giebler, verfügten anders als die Schlossterrassen über öffentliche Straßen und seien bereits vollständig entwickelt, bebaut und genutzt. An den Schlossterrassen wolle man dagegen an einer touristischen Nutzung festhalten.

"Der Wunsch, den der Gemeinderat formuliert hat, ist, dass hier ein Gebiet für Freizeit und Erholung entsteht. Hier können 160 Ferienunterkünfte entstehen, ein Hotel mit 80 Betten, eine Marina, ein öffentlicher Strandbereich. Es könnte ein Hafencafé entstehen. All das würde ganzheitlich ein wirklich gutes touristisches Paket darstellen", sagt Giebler. Dadurch könnte seine Gemeinde dringend benötigte Gewerbesteuererträge erwirtschaften, hofft der Bürgermeister.

Wenn allerdings die Schlossterrassen zum Wohnen genutzt würden, profitiere vor allem einer: der, der die Grundstücke entwickele, verkaufe und daran Geld verdiene.

Über die MDR-Recherche Dieser Artikel ist im Rahmen eines neuen Investigativ-Teams des Mitteldeutschen Rundfunks entstanden, in dem Journalistinnen und Journalisten aller drei Landesfunkhäuser (MDR SACHSEN-ANHALT, MDR THÜRINGEN, MDR SACHSEN) zusammenarbeiten. Ziel ist, regionale Kompetenzen zu stärken.

Recherche-Schwerpunkte sollen unter anderem Rechtsextremismus, organisierte Kriminalität und Korruption auf kommunaler Ebene sein. Bei Anregungen zu investigativen Themen erreichen Sie das neue Investigativnetzwerk MDR Recherche unter recherche@mdr.de

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MDR (Daniel Salpius, Lucas Riemer, Oliver Matthes)

Dieses Thema im Programm: MDR FERNSEHEN | Exakt – Das Nachrichtenmagazin | 15. November 2023 | 20:15 Uhr

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