Streaming-Highlights Die fünf besten Podcasts im November: berührend und inspirierend
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01. November 2024, 04:00 Uhr
Jeden Tag entstehen in der ARD Stunden von Podcasts, Hörspielen und Dokus. Und der besinnliche November ruft geradezu danach, tiefer darin einzutauchen. Beim Stöbern in der ARD Audiothek habe ich einige berührende und inspirierende Podcasts entdeckt. Es geht um die Künstlerin Paula Modersohn-Becker im Spiegel der Musik, Heinrich Heines Identitätskrise, Elias Canettis literarische Überlebenskunst, um ein ukrainisches Orchester im ostdeutschen Exil und die Grenzen der guten Laune bei Roberto Blanco. Das sind unsere Tipps:
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"Wir haben Krieg, die Probe fällt aus" – ein Staatsorchester im ostdeutschen Exil
Der 24. Februar 2022 traf auch die Mitglieder des Kiewer Symphonieorchesters mit voller Wucht. Was sollte aus dem Orchester werden? Welche Rolle spielt Musik im Krieg? Mit dem Auftrag, die ukrainische Nation im Ausland zu vertreten, wurde das Orchester damals auf eine offizielle Reise geschickt, von der es nie zurückkam. "Das Kyiv Symphony Orchestra auf der Suche nach einer zweiten Heimat" lautet deshalb der Untertitel dieses Features, das mich tief bewegt hat.
Es erzählt davon, wie das Orchester sich im Exil in Gera neu organisiert und von seinen unzähligen Kämpfen. Zum Beispiel mit empathielosen Nachbarn im Plattenbau. Oder mit dem Sozialamt, das die Musiker um jeden Preis in andere Jobs vermitteln will. Regeln sind halt Regeln. Besonders ist mir der Satz eines Musikers im Ohr geblieben. Er wird gefragt, ob er ein schlechtes Gewissen habe, weil er nicht an der Front kämpfe, und sagt: "Die Kultur ist das, was von uns übrigbleiben wird." Ganz wunderbar verwebt das Feature die Musik ukrainischer Komponisten mit individuellen Geschichten.
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Wir haben Krieg, die Probe fällt aus – Das Kyiv Symphony Orchestra auf der Suche nach einer zweiten Heimat
Produktion: RBB radio 3
Feature: 55 Min
"Der Brocken ist ein Deutscher" – Heines Harz-Reise brandaktuell
"Denk ich an Deutschland". Der AfD-Bundessprecher Tino Chrupalla fühlte sich durch diesen Satz abgeholt, auch wenn er dabei seinen angeblichen Lieblingsdichter Heinrich Heine komplett missverstanden hat. Er sollte sich lieber das Feature von Lorenz Hoffmann anhören. Das beschreibt Harry alias Heinrich Heines Harz-Reise als Auseinandersetzung mit seiner jüdischen Identität. Heine kehrt den Göttinger Burschenschaftlern den Rücken, um Klarheit über sich selbst zu gewinnen. Im Land wird Stimmung gegen Juden gemacht. Soll er sich taufen lassen? Auf dem Ilsenstein erfasst ihn der Schwindel, das Gebirge scheint über ihm zusammenzubrechen, und er hält sich am Gipfelkreuz fest.
Diese gar nicht so romantische Lesart der Harz-Reise hat mich nicht nur überzeugt, sondern geradezu erschüttert. Heine durchwandert das Mittelgebirge zu einer Zeit, als es gerade zum deutschesten aller Gebirge gelabelt wird. Die poetischen Spuren, die er dabei hinterlässt, lesen sich noch heute brandaktuell. Die bittere Ironie: So sehr er sich bemüht, für ihn hat Deutschland doch keinen Platz.
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"Der Brocken ist ein Deutscher" – Harry Heines Reise durch den Harz
Produktion: MDR KULTUR
Feature: 54 Minuten
"Paula Modersohn-Becker" – Das Leben in Musik
"Mich verwirrts, dass DU gerade irrst und kommst, die mehr verwandelt hat als irgendeine Frau." Rilke schrieb seiner früh verstorbenen "Seelengefährtin" Modersohn-Becker ein klangvolles Requiem, in dem sie mit dem Leben noch nicht abgeschlossen hat. Die Malerin selbst fasste sich kürzer: "Wie schade". Das sollen ihre letzten Worte gewesen sein. 31 Jahre war sie jung. Sie wollte sich die Welt neu entdecken, von innen her betrachten. Doch nach einem für ihre Zeitumstände durchaus kompromisslosen Leben, in dem es darum ging, Grenzen zu überwinden und einen eigenen Weg zu finden, war die letzte Grenze erreicht.
Die Reihe "5 Künstlerinnen – 5 Schicksale" betrachtet das Leben von fünf bedeutenden Künstlerinnen im Spiegel der Musik. Die junge Malerin Paula Becker liebt zunächst Beethoven. Als sie nach Paris kommt, gibt Debussy dort den Ton an. Becker lässt sich von allem inspirieren. Sie greift den Impressionismus auf und verwandelt ihn wiederum in eine neue Art zu fühlen. Eine gelungene Musikauswahl und ausgewählte Zitate der Malerin verbinden sich zu einer stimmungsvollen Stunde.
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5 Künstlerinnen – 5 Schicksale (4/5): Paula Modersohn-Becker
Produktion: SWR Kultur
Musikstunde
Fünfteilige Reihe zu Künstlerinnen, je 55 Minunten
"Elias Canetti – Der Denker Europas": Literatur als Überlebenskunst
Der Literaturnobelpreisträger Elias Canetti war nirgendwo zu Hause – außer in der Sprache. Er lebte in halb Europa und durchlebte (fast) das 20. Jahrhundert. Und trotzdem schrieb er vor allem über sich selbst. Egomanisch und zugleich von panischer Lebensangst erfüllt, schuf er sich in seinem autobiografischen Schreiben eine literarische Hülle, die es ihm ermöglichte, immer neue Masken anzulegen. Und zu überleben. Als Jude im Exil, als Europäer in der europäischen Fremde, als Sohn einer strengen Kaufmannsfamilie, in der er sich wie ein Außerirdischer fühlte.
"Die Lange Nacht" ist mein absolutes Lieblingsformat. Wo sonst kann man sich drei konzentrierte Stunden am Stück in ein Thema versenken? Sehr fokussiert und analytisch, mit vielen literarischen Zitaten, schafft es die Sendung, Canettis Werk von seinen Phobien her aufzurollen. Wie es von seiner frühkindlich geprägten Berührungsangst zu seinem Hauptwerk "Macht und Masse" kam, erschießt sich mit frappierender Logik.
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Elias Canetti – Der Denker Europas
Produktion: Deutschlandfunk Kultur
Lange Nacht: 162 Minuten
"Roberto Blanco – Nie die Heiterkeit verlieren": die Grenzen der guten Laune
"Polaks Schlagertalk" gehört zu den ungewöhnlichsten Gesprächsserien. Comedian und Moderator Oliver Polak plaudert mit Schunkelgiganten wie Roland Kaiser oder Marianne Rosenberg und fühlt durch einen biografischen Ansatz dem Massenphänomen des Schlagers auf den Zahn. Wie mit einem Röntgenblick seziert er dabei die Persönlichkeit seiner Gesprächspartner, empathisch, aber immer einen Tick zu persönlich.
Den Meister der guten Laune, Roberto Blanco, bringt das an seine persönliche Grenze. Doch Polak bohrt weiter. Es kann doch nicht alles so prima gewesen sein, wie Blanco das vorgibt. Bei diesem Lebensweg: in Tunesien geboren, im Libanon im Kloster aufgewachsen, dann mit seinem Vater durch die ganze Welt getingelt. Was ist aus den Bedürfnissen des kleinen Roberto geworden? Beim Thema Rassismus droht der Gast, das Studio zu verlassen. So etwas kenne er nicht. Ein Gespräch auf Messers Schneide, bei dem ich machmal meinen Ohren nicht trauen wollte.
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Roberto Blanco – Nie die Heiterkeit verlieren
Produktion: Deutschlandfunk Kultur
Polaks Schlagertalk, bisher 6 Folgen, 45 Minunten
Über mich Ich bin Lars Meyer und für MDR KULTUR als Filmkritiker und Feature-Autor unterwegs, immer auf der Suche nach anregender Filmkunst und inspirierenden Hörerlebnissen.
Dieses Thema im Programm: MDR KULTUR - Das Radio | 28. Oktober 2024 | 20:00 Uhr