Von Sibylle Tamin
(Übernahme)
Michelangelo ist 59, als er Florenz verlässt. Er verschließt seine Werkstatt und lässt alles zurück, unvollendete Skulpturen, unvollendete Gemälde, unvollendete Bauwerke. Er lässt eine Zeit hinter sich, die ihm Behinderung, Verhinderung und Bedrohung geworden war. Er geht nach Rom, weil der Papst mit einem Großauftrag lockt, weil er sich in Florenz nicht mehr sicher fühlt und weil er liebt. Dreißig Jahre lang, bis zu seinem Tod, wird er in Rom leben und nicht mehr zurückkehren in die Stadt seiner Kindheit und Jugend und des ersten großen Erfolgs. In Rom wird er als Künstler konkurrenzlos werden. Raffael und Leonardo sind tot, Tizian ist noch nicht über Venedig hinaus. Michelangelo ist jetzt der Zeit größter lebender Künstler.
Anders als in Literatur und Musik, die sich in der Zeit vollziehen und so notwendig Anfang und Ende haben, gibt es in der bildenden Kunst weder Anfang noch Ende. Das statisch visuelle Bild leugnet die Zeit in sich selbst. Es ist in seiner Unbeweglichkeit ohne Zeit. Unverändert bläht der Wind Gottes Mantel seit fünfhundert Jahren in der Sixtina. Und während Photographien Dokumente der Vergangenheit sind, sind Gemälde 'Vorhersagen über das, was der Betrachter vor dem Gemälde in diesem Augenblick sieht.' Einige Vorhersagen erschöpfen sich rasch - das Bild verliert seinen Adressaten, andere überdauern, sind bereits im Augenblick ihrer Fertigstellung zeitlos.
Ein Versuch über die Dialogfähigkeit des Werks und ein Versuch in Dialog zu treten mit Michelangelo: Michelangelo in siener Zeit, der Hochrenaissance mit ihren Widersprüchen, dem befreiten Individuum und der enthemmten Gier nach Macht, und Michelangelo in unserer Zeit: ein am Leben leidender Mensch - ein im Werk unvergänglicher Künstler.
Sibylle Tamin, geb. 1949, studierte Theaterwissenschaft und an der Hochschule für Fernsehen und Film in München. Sie arbeitet als freie Autorin für Fernsehen und Hörfunk und war jahrelang als Essayistin und Rezensentin bei der FAZ tätig. Neben mehreren Arbeits-Stipendien erhielt sie 2011 den Featurepreis der Stiftung Radio Basel. Sibylle Tamin lebt in Berlin.
Regie: Ulrich Gerhardt
Produktion: Rundfunk Berlin-Brandenburg
Mitwirkende:
Friedhelm Ptok
Werner Rehm
Wolfgang Michael
(35 Min.)
(Übernahme)
Michelangelo ist 59, als er Florenz verlässt. Er verschließt seine Werkstatt und lässt alles zurück, unvollendete Skulpturen, unvollendete Gemälde, unvollendete Bauwerke. Er lässt eine Zeit hinter sich, die ihm Behinderung, Verhinderung und Bedrohung geworden war. Er geht nach Rom, weil der Papst mit einem Großauftrag lockt, weil er sich in Florenz nicht mehr sicher fühlt und weil er liebt. Dreißig Jahre lang, bis zu seinem Tod, wird er in Rom leben und nicht mehr zurückkehren in die Stadt seiner Kindheit und Jugend und des ersten großen Erfolgs. In Rom wird er als Künstler konkurrenzlos werden. Raffael und Leonardo sind tot, Tizian ist noch nicht über Venedig hinaus. Michelangelo ist jetzt der Zeit größter lebender Künstler.
Anders als in Literatur und Musik, die sich in der Zeit vollziehen und so notwendig Anfang und Ende haben, gibt es in der bildenden Kunst weder Anfang noch Ende. Das statisch visuelle Bild leugnet die Zeit in sich selbst. Es ist in seiner Unbeweglichkeit ohne Zeit. Unverändert bläht der Wind Gottes Mantel seit fünfhundert Jahren in der Sixtina. Und während Photographien Dokumente der Vergangenheit sind, sind Gemälde 'Vorhersagen über das, was der Betrachter vor dem Gemälde in diesem Augenblick sieht.' Einige Vorhersagen erschöpfen sich rasch - das Bild verliert seinen Adressaten, andere überdauern, sind bereits im Augenblick ihrer Fertigstellung zeitlos.
Ein Versuch über die Dialogfähigkeit des Werks und ein Versuch in Dialog zu treten mit Michelangelo: Michelangelo in siener Zeit, der Hochrenaissance mit ihren Widersprüchen, dem befreiten Individuum und der enthemmten Gier nach Macht, und Michelangelo in unserer Zeit: ein am Leben leidender Mensch - ein im Werk unvergänglicher Künstler.
Sibylle Tamin, geb. 1949, studierte Theaterwissenschaft und an der Hochschule für Fernsehen und Film in München. Sie arbeitet als freie Autorin für Fernsehen und Hörfunk und war jahrelang als Essayistin und Rezensentin bei der FAZ tätig. Neben mehreren Arbeits-Stipendien erhielt sie 2011 den Featurepreis der Stiftung Radio Basel. Sibylle Tamin lebt in Berlin.
Regie: Ulrich Gerhardt
Produktion: Rundfunk Berlin-Brandenburg
Mitwirkende:
Friedhelm Ptok
Werner Rehm
Wolfgang Michael
(35 Min.)
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