Dokumentarfilmerin Was ist heute "ostdeutsch"?
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03. Dezember 2021, 04:00 Uhr
Dokumentarfilmerin Laura Reichwald will den Osten so zeigen, wie er wirklich ist: Nicht nur DDR-Relikt oder rechtsradikal. Sie zeigt das Leben in Dörfern, die Arbeit, Traditionen und Probleme, die die Menschen heute bewegen. Und die sind oft global: Hier werden Probleme wie Windenergie, fehlende Infrastruktur oder Ressourcenknappheit verhandelt. Für ihren Film "Stollen" über das Erzgebirge wurde sie mit dem Max-Ophüls-Preis ausgezeichnet. Aktuell arbeitet sie in der Altmark am nächsten Film - und will mit ihren Projekten auch eine neue Art von Heimatfilmen des Ostens etablieren.
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Über das Format NÄCHSTE GENERATION:
In unserem Format MDR KULTUR – NÄCHSTE GENERATION stellen wir junge Künstlerinnen und Künstler vor, die unsere Gesellschaft kritisch in den Blick nehmen, Debatten anregen und gleichzeitig Ideen für die Zukunft entwerfen wollen. Jeden zweiten Montag stellen wir diese Menschen aus Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen vor – die Themen reichen von der Frage, ob es okay ist, das Elternsein zu bereuen, ob die 40-Stunden-Woche noch angemessen ist, bis hin zu Klimaschutzfragen oder Patriotismuskritik.
Mit dem Kleinbus "Helga" ruckeln Filmemacherin Laura Reichwald und ihr Kamerateam über eine Panzerstraße in der Altmark. Ihr Ziel: Der ostdeutschen Mentalität nachspüren. In Cobbel recherchieren die Regisseurin, ihr Kameramann und ihre Tonassistentin nach Geschichten, Protagonistinnen und geeigneten Bildern für ihren neuen Dokumentarfilm "Nachts träume ich vom Ordnen".
Im Ort angekommen, gehen sie Stück für Stück die Hauptstraße entlang und probieren Filmeinstellungen aus: Eine Wäscheleine in einem Garten, die Windräder auf dem Feld, ein Briefkasten, der Bagger und die Kabeltrommeln auf der Breitband-Baustelle. Jetzt steht das Team vor den Glascontainern. Absolute Stille, mindestens eine Minute und 30 Sekunden pro Bild wird gewartet, keiner macht einen Mucks. Danach schaut Laura Reichwald sich das gedrehte Bild durch den Sucher der Kamera an und bespricht es mit ihrem Kameramann.
Wir wollten einfach den Osten mal unabhängig von einer Problematisierung drehen.
Reichwald findet, es gebe kaum neue ostdeutsche Heimatfilme. Das will sie ändern. "Ich finde, es gibt oft so viele problematisierende Filme über den Osten mit dem Rechtsradikalismus, Radikalität, DDR-Zeit." Das seien natürlich wichtige Themen, aber heute würden in den Dörfern auch viele andere Themen verhandelt werden, die in solchen Filmen zu kurz kommen. "Wir wollten einfach den Osten mal unabhängig von so einer Problematisierung drehen, sondern einfach den Menschen mal zuhören."
Studium bei Wim Wenders und Oscar-Preisträger Pepe Danquart
Laura Reichwald sieht es als ihre Aufgabe, authentische und differenzierte Dokumentarfilme über den Osten zu drehen. Sie selbst wurde das erste Mal beim Studium damit konfrontiert, "Ostdeutsche" zu sein.
Geboren wurde sie 1988 in Halle an der Saale und hat in Stuttgart angefangen zu studieren, später in Hamburg Film bei Wim Wenders und Oscar-Preisträger Pepe Danquart studiert, bevor sie an die Filmhochschule in Babelsberg für ihren Regie-Master ging. Mit dem Label "ostdeutsch" konnte sie nichts anfangen: "Ich weiß nicht, was das bedeutet, und das war immer so eine Zuweisung automatisch, was meine Persönlichkeit sein müsste oder woher ich komme und was meine Lebensumstände sind."
Das habe sie geärgert und sie findet es umgekehrt genauso unpassend: Es gebe diese Zuweisung im Kopf vieler Menschen auch über Westdeutsche. "Ich fand diese Teilung irgendwie sehr komisch und diese Zuweisungen. Ich wollte auch gerne rauskriegen, was sie eigentlich meinen, wenn sie sagen, ich bin Ostdeutsche. (...) Und so sind wir eigentlich auf diese Mentalitätsfrage gestoßen, die eigentlich ja viele Menschen beschäftigt: was die Mentalität meiner Region ist und wer bin ich da drin?"
Über ein Jahr Annähern ans Dorf
Als das Filmteam vor einigen Tagen in der Altmark ankam, wurde es von den Dorfbewohnern kritisch beobachtet. Inzwischen waren die drei auf dem Dorffest am Lagerfeuer und werden gegrüßt. Genauso erging es ihr auch bei ihrem letzten Projekt "Stollen", einem Heimatfilm über das Erzgebirge, der mehrfach ausgezeichnet wurde, unter anderem mit dem Max-Ophüls-Preis.
"Es gibt halt immer so einen gewissen Aufregungsmoment: Haben sie überhaupt Lust darauf?" Sie könne keine Dokumentarfilme über Leute machen, die sie nicht wollen. "Ich kann natürlich schon einen gewissen Widerstand ertragen, aber da gibt es dann so viel Reibung, dass für mich nichts Liebevolles oder Differenziertes rauskommen kann."
Das größte Geschenk eines Dokumentarfilmers ist Zeit, das würde ich genauso unterschreiben.
Für die Vorrecherche und das Kennenlernen der Menschen nimmt sich Laura Reichwald viel Zeit: Über ein Jahr lang hat sie versucht, sich dem Dorf im Erzgebirge zu nähern. "Wir waren 2018 an Weihnachten das erste Mal da für 14 Tage und sind dann über das ganze Jahr 2019 so aller zwei, drei Monate immer wieder dort gewesen und länger auch ohne eine Agenda."
Beim Erzgebirge sei es ihr vor allem darum gegangen, was Heimat für Menschen bedeutet. "Und warum Menschen in einer bestimmten Heimat bleiben, auch wenn sie sehr problematisch ist", erzählt die 33-Jährige.
Hier wird Dreck und Schmutz hinterlassen und woanders stopfen sie sich das Geld in die Taschen.
Themen, die man überall bespricht
Angetroffen habe sie sehr gastfreundliche Menschen, die ihr Dorf aktiv gestalten wollen – und so gar nicht ins Klischee des "passiven Ostdeutschen" passen. Und Menschen, die sich fragen, wie sie mit ihrer Bergbautradition weiter umgehen wollen.
Einerseits werde der alte Wismutbergbau inzwischen romantisiert, andererseits stehe man dem neuen Bergbau sehr kritisch gegenüber: Nachdem die vom Bergbau zerstörte Natur für Millionenbeträge wieder aufgeforstet wurde, sollen gesunde Wälder nun wieder gerodet werden, um Rohstoffe für die Smartphone- und E-Autoindustrie abzubauen.
"In so kleinen Mikrokosmen stecken immer schon auch große globale Themen: Wo sollen die Rohstoffe zukünftig herkommen? Wo bauen wir sie ab? Und unter welchen Bedingungen?", so Reichwald. "Und auch andere große Themen wie Tradition, der Umgang mit Traditionen, mit Erbe. Das ist irgendwie etwas, das überall von Bedeutung ist." Auch Probleme wie Strukturwandel oder die Frage danach, was machen wir zukünftig aus unseren Dörfern, seien Sachen, die man überall bespricht.
Ist der Osten rechts?
Der Film bewertet nicht, es gibt keinen Erzähler aus dem Off, die Szenen werden lange für sich stehen gelassen, man muss sich als Zuschauender auf die Atmosphäre einlassen, etwa wenn in einer Kneipe über das Lied "Deutsch und frei wolln wir sein" diskutiert wird – die einen meinen, es habe eine viel längere Tradition, als es Nazis überhaupt gäbe, die anderen finden es fragwürdig, weil das Lied instrumentalisiert werden kann.
"Ich wollte das nicht selber einem Off-Kommentar erklären, sondern ich habe gedacht, das müssen die Menschen selber erklären." Und dann habe sie sehr lange auf eine Gelegenheit gewartet, dass sie das tun. "Und die gab es dann Gott sei Dank irgendwann. Und dann sind es halt ihre eigenen Worte, und das lässt eigentlich jedem die Freiheit, selber zu entscheiden, wo man das einordnet. Und das war mir irgendwie wichtig, weil es natürlich nicht so einfach und auch nicht so schwarz-weiß ist."
Ich wollte halt wissen, was bewegt die Menschen und nicht nur mit bestimmten Schablonen dort in die Region kommen.
Natürlich sei Rechtsradikalität im Erzgebirge ein Problem, meint die Filmemacherin. "Ich finde es auch sehr wichtig, dass da drüber was gemacht wird und dass darüber aufgeklärt und berichtet wird." Es sei ihr aber wichtig, dass solch eine Fragestellung nicht den ganzen Film vereinnahmt. Denn dann gehe es nicht mehr um die Frage nach Heimat in einer Region, nicht mehr um Gestaltung, "sondern dann wird wieder unter einem bestimmten Deckmantel geguckt."
Mentalität formt sich aus Fragestellungen, die bewegen
Um zu sehen, wie sich die Zukunft des Dorfes entwickelt und wie es mit seinen Problemen umgegangen ist, möchte die Regisseurin in ein paar Jahren gerne noch einmal nach Pöhla ins Erzgebirge zurückkehren. "Ich habe mich nicht mal einer ostdeutschen Mentalität genähert, aber ich weiß, was vielleicht meine Mentalität ist und was die Mentalität eines Landstrichs ist. Viel mehr sind es dann auch die Fragestellungen, die bewegen."