Buchtipps Die fünf besten Bücher im Oktober – über Scheitern, Mut und Freundschaft
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08. Oktober 2024, 04:00 Uhr
Der Herbst ist eine wunderbare Zeit zum Lesen. Für gemütliche Lesestunden auf dem Sofa empfiehlt MDR KULTUR-Literaturredakteurin Katrin Schumacher diese fünf Bücher: Richard Powers erzählt in seinem neuen Roman von einer durch KI und Klimakrise bedrohten Welt, Neige Sinno findet Worte für die Geschichte ihres Missbrauchs, David Wagner widmet sich einer außergewöhnlichen Freundschaft, Sabine Buchholz schreibt über die Angst vor dem Tod und Gian Marco Griffi über den Mut, die Welt zu verbessern.
Simone Buchholz: "Nach uns der Himmel"
Acht Menschen in einer Urlaubsstadt am Meer, Hitze, Drinks, und es war gar nicht so einfach, dorthin zu gelangen. Denn das Flugzeug hat den ersten Anflug verpasst, nun aber steht der Urlaub an für zwei Pärchen, die sich lange kennen: für Sara und Marc mit ihrem schwerkranken Sohn Vincent und für Heidi, die smarte Geschäftsfrau. Doch irgendetwas stimmt nicht in dem Idyll – die Inselbewohner sind nicht ansprechbar, die Grenzen des Urlaubsortes scheinen nicht überwindbar und irgendwie ist da noch ein großes Loch, eine seltsam anziehende Dunkelheit.
Währenddessen sitzt ein abgehalfterter Privatdetektiv in Los Angeles vor seiner halbvollen Scotchflasche und bekommt Besuch von einer Inspektorin. Denn – das wird langsam klar – dass da acht Menschen nicht etwa in einen sonnigen Urlaub geflogen, sondern auf einem ganz anderen Trip sind, das ist seine Schuld.
Nach dem Vorgängerroman "Unsterblich sind nur die anderen" (bekannt auch unter dem Hashtag #Segelsexbuch) schickt die Hamburger Autorin einmal mehr in eine mysteriös-sinnliche Geschichte, in der die Götter auftauchen, die wir längst vergessen hatten, und in der die ganz großen Fragen entschieden werden, während Leonard Cohen auf einer Couch im Jenseits sitzt, wo die Cocktails die besten, die Barmänner die schönsten und der Sonnenuntergang permanent ist. Simone Buchholz’ Literatur ist zwischen die Realität und die Magie geschrieben – in die Zwischenreiche, die unser Dasein erst spannend machen. Dieser Roman vermag nicht weniger, als die Angst vor dem Tod zu nehmen.
Angaben zum Buch
Simone Buchholz: "Nach uns der Himmel"
Suhrkamp
Erscheint am 14. Oktober 2024
218 Seiten, gebunden
ISBN: 978-3-518-47442-6
20 Euro
Richard Powers: "Das große Spiel"
Tief in den Ozean, ins weltweite Netz und in globale Ausbeutung führt dieser tolle und melancholische Roman von Richard Powers, dem Philosophen unter den großen amerikanischen Erzählern. Wieder einmal verquickt er naturwissenschaftliche Themen mit seiner Fabulierkunst und spielt seine Argumente über vier besondere Protagonist*innen. Rafi ist ein hochbegabter und sensibler Junge, der sich mit dem Programmiernerd Todd anfreundet. Beide tragen sich durch eine schwierige Schulzeit und versenken sich in manische Schach- und Go-Sessions.
Eine Parallelhandlung führt zu der beeindruckenden Ozeanografie-Pionierin Evelyne Beaulieu. Das Kleeblatt komplett macht Rafis Frau, die Bildhauerin Ina, die von der Insel Makatea stammt, mitten im Pazifischen Ozean. Die kleine Insel ist in Gefahr, der Spielplatz internationaler Investoren zu werden, ein monströses Wohnprojekt mitten im Meer ist der Plan – hinter dem der mittlerweile zum Milliardär gewordene Todd steckt.
Richard Powers erzählt von Klimakatastrophe und Kapitalismus und vor allem von diesem einen Kipppunkt, an dem das Internet etwas Freundliches, Friedliches, dem Menschen Nützliches hätte werden können. Bevor das große Spiel begann, das hier im Titel steht, steht ein Spiel, das wir Menschen gegen uns selbst verloren haben.
Angaben zum Buch
Richard Powers: "Das große Spiel"
Aus dem Amerikanischen von Eva Bonné
Penguin Verlag, 2024
512 Seiten, gebunden
ISBN: 978-3-328-60371-9
26 Euro
Gian Marco Griffi: "Die Eisenbahnen Mexikos"
Wie den Mut finden, etwas zu tun, was die Welt, die uns umgibt, etwas besser macht? Diese Grundfrage durchzieht den Roman von Gian Marco Griffi, denn sein Protagonist Cesco Magetti hat diesen Mut definitiv nicht. Es ist das Jahr 1944 in Italien, der Unteroffizier ist ein Mitläufer, der Befehle aus den höchsten Kreisen in Berlin empfängt. Die Idee, dass in Mexiko die Wunderwaffe versteckt liegt, die dem Reich den Endsieg bescheren könnte, wird ihm zum Verhängnis. Denn er wird erwählt, das Streckennetz der mexikanischen Eisenbahn zu kartieren. Ein irrsinniges Unterfangen, das er allerdings nicht zu hinterfragen wagt.
In einem historischen Fantasiegemälde entwickelt der italienische Autor eine Geschichte, die so wohl nicht stattfand, aber so oder so ähnlich hätte stattfinden können. Seinen Anti-Helden, der an chronischem Zahnweh leidet, lässt er eine unterhaltsame Parabel erleben – eine Erzählung über einen Menschen, der auf der falschen Seite der Geschichte steht. Die Entdeckung des italienischen Literaturherbstes.
Angaben zum Buch
Gian Marco Griffi: "Die Eisenbahnen Mexikos"
Aus dem Italienischen von Verena von Koskull
Claassen Verlag, 2024
800 Seiten, gebunden
ISBN: 978-3-546-10084-7
36 Euro
David Wagner: "Verkin"
Verkins Leben ist wie ein Märchen aus 1.001 Nacht, wie sie selbst behauptet – der Erzähler wähnt sich im "Erzählparadies", er muss nur mitschreiben, so seine Version dieser Biografie, die sich als hinreißende Road Novel gemixt mit einer Geschichtsstunde zu Leben und Verfolgung der Armenier in der Türkei entwickelt.
Der Erzähler trifft die Geschäftsfrau Verkin in Berlin auf einer Gartenparty und sie nimmt sich seiner als Stadtführerin in mehreren Gegenden der Türkei an, denn er will eigentlich ein Buch über Shoppingmalls schreiben. Nun sind aber die Geschichten der Geschäftsfrau, ob über ihre zahlreichen Männer und Ehen, ihre Freundschaften zu allen Größen der vergangenen Jahrzehnte (von Angela Davis bis Yoko Ono) weitaus spannender als Einkaufstempel. Und im Handumdrehen ist der Erzähler in einem sich von selbst schreibenden Roman über eine Frau, die sieben Leben zu haben scheint, genau wie die kostbare Van-Katze, mit der der Ich-Erzähler ihr am Anfang begegnet.
David Wagner trainiert seit fast 25 Jahren seine besondere Art der beobachtenden Literatur, der flanierenden Seismografie oder des seismografischen Flanierens, seit "Meine nachtblaue Hose" (2000) übt er sich darin, in unterschiedlich langen Formaten. Mit "Verkin" hat seine Kunstfertigkeit einen neuen Höhepunkt erreicht.
Angaben zum Buch
David Wagner: "Verkin. Die Geschichte einer außergewöhnlichen Frau und einer besonderen Freundschaft"
Rowohlt, 2024
400 Seiten, gebunden
ISBN 978-3-498-00224-4
26 Euro
Neige Sinno: "Trauriger Tiger"
Die französische Autorin, die seit langem in Mexiko lebt, erzählt in "Trauriger Tiger" die Geschichte eines Mädchens, das mit ihren Hippie-Eltern und ihrer kleineren Schwester in den Alpen aufwächst. Als die Mutter einen Bergführer kennenlernt und sich verliebt, lässt sie sich scheiden und zieht mit dem attraktiven Mann zusammen. Dass sie damit ihre Tochter in die Hölle schickt, realisiert sie erst Jahre später.
Sieben Jahre lang wird das Mädchen von ihrem Stiefvater missbraucht, den sie erst mit 21 Jahren anzeigt. Ihr Martyrium beginnt, als sie gerade mal sieben ist. Der Vergewaltiger kommt für neun Jahre ins Gefängnis, die Mutter, die immer weggesehen hat, braucht ein Jahr, um aus dem Schock der Offenbarung heraus diesen Mann zu verlassen.
Es fällt schwer, sich vorzustellen, dass Neige Sinno hier ihre eigene Geschichte erzählt, und es ist bewundernswert, wie sie Worte findet für das Verbrechen. Ein Happy End, so sagt sie ganz klar, gibt es für Missbrauchsopfer nie. Trotzdem liest sich das Buch als Akt der Überwindung. Dieses Buch ist hart. Es ist traurig, schonungslos und unheimlich wichtig.
Angaben zum Buch
Neige Sinno: "Trauriger Tiger"
Aus dem Französischen von Michaela Meßner
dtv, 2024
304 Seiten, gebunden
ISBN: 978-3-423-28422-6
24 Euro
Redaktionelle Bearbeitung: Valentina Prljic
Dieses Thema im Programm: MDR KULTUR - Das Radio | "Unter Büchern" | 02. Oktober 2024 | 18:00 Uhr