Das Leipziger Neuseenland Das schmutzigste Dorf der DDR: Von Kohleregion zu Naherholungsgebiet
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11. November 2020, 10:29 Uhr
Drei Jahrzehnte nach dem Mauerfall scheint Deutschlands Ausstieg aus der Braunkohle besiegelt. Die vier Kohleländer Sachsen, Sachsen-Anhalt, Brandenburg und Nordrhein-Westfalen haben bereits August 2020 eine Vereinbarung geschlossen, die den Start erster Projekte zur Strukturstärkung der Regionen auf den Weg bringt. Für den Strukturwandel stehen 40 Milliarden Euro vom Bund zur Verfügung. Doch der Ausstieg aus der Kohle wirft Fragen auf, die bereits 1990 in den mitteldeutschen Revieren diskutiert wurden. Wie schafft es eine Region, die von der Braunkohle lebt, nach dem Ausstieg zu florieren? Ein Blick in die DDR und die Region rund um das ehemalige Kombinat Espenhain lohnt sich.
Das Dorf Mölbis lag direkt neben dem Kombinat Espenhain und galt zu DDR-Zeiten als dreckigstes Dorf Europas. Dichte Rauchschwaden schwebten über dem Ort, die das Werk Espenhain, bestehend aus Schwelerei, Kohlefabrik, Brikettfabrik und zwei Kraftwerken, produzierte. Besonders die carbochemischen Anlagen, die zur Braunkohle-Veredlung dienten, waren die Hauptverursacher für die dunklen Giftwolken am Himmel. Letztendlich sorgten die Wende 1989 und der lange Kampf der Anwohner gegen die Umweltpolitik der DDR am 27. August 1990 für die Stilllegung des letzten Schwelofens des Kombinats Espenhain.
Rauch und Gestank als tägliche Begleiter in Mölbis
Bis es zu der Abschaltung kam, war ein normales Leben in Mölbis kaum möglich, der Ort galt als unbewohnbar. Karl-Heinz Dallmann nahm 1986 eine Pfarrstelle in Mölbis an und wusste sofort, dass da keine leichte Aufgabe auf ihn wartet. Wenn es nach faulen Eiern stank und sich dichte Rauchschwaden vor die eben noch strahlende Sonne schoben, wusste er, dass er zu Hause angekommen war: In Mölbis. "Manchmal brannten am helllichten Tag Fackeln am Straßenrand, damit man nicht von der Fahrbahn abkam, so dicht war der rußige Nebel", erinnert er sich.
Der technische Stand war veraltet, denn seit Jahren wurden die Anlagen des Espenhainer Kombinats auf Verschleiß gefahren. So lag das Dorf Mölbis Jahrzehnte im Schatten des Industriekomplexes, der die Lebensqualität der Anwohner extrem beeinträchtige. Ein Schleier aus Ruß legte sich auf Häuser und Gärten und sorgte für gesundheitliche Folgen.
Das Grünzeug in unseren Gärten verkümmerte und die Kinder litten an Hautekzemen und Atemwegserkrankungen.
Gottesdienste für die Umwelt
Bevor Dallmann die Pfarrstelle in Mölbis annahm, arbeitete er in einem Naherholungsgebiet zwischen Leipzig und Dresden. Zu dieser Zeit fuhr er häufig mit dem Zug am Braunkohlekraftwerk Espenhain vorbei und dachte "Ach du lieber Himmel! Hier kann doch kein Mensch leben". Obwohl er die Zustände in Mölbis kannte, nahm er die Pfarrstelle an. Viel Zeit zum Ankommen blieb ihm damals nicht. "Der nächste Umweltgottesdienst stand an und musste organisiert werden", so der Pfarrer. Die Teilnehmer - nicht selten bis zu 1.000 Menschen - kamen von überall her. Mit seinem Umzug kam also auch Struktur in den Widerstand. "Im Garten unseres Pfarrhauses bauten verschiedene Umweltorganisationen Stände auf. Wir verteilten Flugblätter, obwohl das alles eigentlich verboten war."
"Eine Mark für Espenhain" hieß es auf den Flugblättern von Dallmann und anderen Umweltaktivisten. Der Erlös sollte zur Sanierung des Werks genutzt werden. Jeder Spender konnte sich mit seinem Namen in eine Liste eintragen - durch diesen Trick wurde der Aufruf in wenigen Wochen zur ersten und größten nicht genehmigten Unterschriftensammlung der DDR.
Wallfahrt auf die Halde
Zu Umweltgottesdiensten und Flugblättern kamen auch Demonstrationen, die Pfarrer Dallmann als Wallfahrt tarnte. "Bei einer unserer Wallfahrten auf die Abraumhalde konnten wir 1987 zum ersten Mal Informationen über die Schadstoffe, die hier in die Luft gejagt wurden, öffentlich machen", erzählt Dallmann. Das brisante Material hatte er anonym aus dem Werk zugespielt bekommen. "Ich glaube, dass das mit Duldung des Rates des Kreises geschah. Denn selbst der wusste, dass es so nicht weitergehen konnte, hatte aber auch keine Lösung. Aus Berlin kam immer nur der Befehl: produzieren, produzieren."
So schnell hatte man nicht damit gerechnet. Eine Abschaltung ist ein Einschnitt in die gesamte Region. Aber es war die einzige Lösung.
Damals hohle Versprechen - heute Umwelt Dauerthema
Immer wieder wurden die Umweltaktivisten um Pfarrer Dallmann mit Sanierungsversprechungen hingehalten. Aber es änderte sich nichts. Zur Wende kam schließlich der Aufbruch ins Ungewisse, denn es wurden Pläne zur Abschaltung des Industriekomplexes Espenhain bekannt. Natürlich hat Dallmann das alles entscheidende Datum im Kopf: den 27. August 1990. "Da wurde der letzte Schwelofen abgeschaltet." Nach dem jahrelangen Verschleiß der Anlagen wäre eine Instandsetzung viel zu teuer gewesen. Die von Pfarrer Dallmann erhoffte Sanierung war damit endgültig passé.
Auch Walter Christan Steinbach war jahrelanger Mitstreiter der Umweltbewegung und Mitgründer der Unterschriftensammlung "Eine Mark für Espenhain". Als das Werk 1990 endgültig abgeschaltet wurde, waren die Anwohner der Region geschockt. Steinbach erinnert sich: "So schnell hatte man nicht damit gerechnet. So eine Abschaltung ist ein Einschnitt in die gesamte Region. Aber es war die einzige Lösung".
Strukturwandel als neuer Kampf
Der Kampf gegen die Luftverschmutzung war damit zwar gewonnen, doch durch die Abschaltung des Kraftwerkes fehlten tausende Arbeitsplätze. Über die Jahre ist Pfarrer Karl-Heinz Dallmann zum Symbol der Veränderung in Mölbis geworden. Auch nach dem Sieg gegen die Umweltverschmutzung blieb er und half beim Wiederaufbau des Örtchens mit.
Nach und nach entstanden neue Häuser und Perspektiven. Über die letzten dreißig Jahre wurde die Region um das ehemalige Werk Epsenhain ein Naherholungsgebiet. Die Gruben wurden mit Wasser geflutet und aus dem Braunkohletagebau Espenhain entstand der Störmthaler See. Von der Schwelerei, die zu einem Großteil für die Luftverschmutzung zuständig war, ist heute nichts mehr zu sehen.
"Wir haben in Mitteldeutschland eine Wirtschaftsstruktur, die ist weltmarktfähig."
Pfarrer Dallmann schwärmt von seinem zu Hause, denn inzwischen gehöre Mölbis zu den schönsten Orten der Region. Und obwohl die Brisanz jetzt endlich raus sei, resümiert Dallmann, bleibe die Umwelt immer ein wichtiges Thema für ihn.
Bis 2038 will Deutschland aus der Braunkohle aussteigen. Durch die Schließung der Braunkohlekraftwerke fallen wieder Tausende Arbeitsplätze weg. Für die übrigen Kohleregionen in Mitteldeutschland ist es der zweite Strukturwandel. Walter Christian Steinbach ist sich sicher, dass Mitteldeutschland das durch seine stabile Wirtschaft verkraftet: "Wir haben in Mitteldeutschland eine Wirtschaftsstruktur, die ist weltmarktfähig." Der Bund will den Strukturwandel in Kohleregionen mit 40 Milliarden Euro unterstützen. 2020 wurden erste Projekte angegangen.
Dieses Thema im Programm: MDR FERNSEHEN | MDR Zeitreise: Nachruf auf die Braunkohle | 08. November 2020 | 22:20 Uhr