Heimat weggebaggert Die Sorben und die Braunkohle
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08. April 2022, 18:05 Uhr
Die Sorben mussten unter dem Braunkohleabbau besonders leiden, denn mehr als 130 sorbische Orte wurden weggebaggert in den vergangenen 70 Jahren. Mit der Heimat ging aber auch ihre alte Kultur verloren. Ein Interview mit Jadwiga Malinkowa, Pfarrerin der evangelischen Kirchgemeinde Schleife.
Man schätzt, dass der Braunkohle insgesamt mindestens 250 Dörfer und Gemeinden zum Opfer fielen. Etwa 120 Dörfer im sogenannten Mitteldeutschen Revier um Leipzig und Halle und etwas mehr als 130 sorbische Dörfer im Lausitzer Revier. Der Verlust der eigenen Scholle, der vielleicht seit Generationen im Familienbesitz befindlichen Wohnhäuser und Höfe, der Abriss von Kirchen, von Dorfkneipen, Schulen und Friedhöfen ist für alle, die das erleiden mussten, bitter. Doch der Verlust ganzer Orte trifft das sorbische Volk in der Lausitz besonders hart. Denn hier ist der Heimatverlust oft auch mit einem Verlust der Sprache und somit dem Verschwinden einer ganzen Kultur verbunden. "Zeitreise" sprach mit Jadwiga Malinkowa, Pfarrerin der evangelischen Kirchgemeinde Schleife.
Frau Malinkowa, was bedeutet eigentlich der schon mehr als 100 Jahre andauernde Abbau der Braunkohle im Lausitzer Revier für das sorbische Volk?
Ich gehöre selbst zur sorbischen Minderheit und bin mit diesem Thema aufgewachsen. Es ist natürlich ein schrecklicher Verlust für das sorbische Volk, dass in den letzten Jahrzehnten mehr als 130 Dörfer in der Lausitz abgebaggert wurden. Das muss man einfach so sagen. Und wenn Dörfer weichen müssen, geht damit nicht nur eine Lebensgrundlage in der Landwirtschaft oder in der Forstwirtschaft, wie hier in der Heide, verloren, es geht auch die Kultur verloren. Also auch die Sprache. Und dass die sprachliche Situation in der Niederlausitz und in der Mittellausitz so prekär ist, ist vor allem dem Bergbau geschuldet.
Heißt Sprachverlust denn gleichzeitig auch Heimatverlust?
Für mich bedeutet Sprache: verwurzelt sein. Und ich beschreibe den Verlust als Entwurzelung der Menschen. Denn die Menschen, auch hier in unserem Schleifer Kirchspiel, haben nach dem Zweiten Weltkrieg, gerade auch als in den 1950er-Jahren der Kohlebergbau forciert wurde und hier ein Zuzug von Arbeitern aus der gesamten DDR stattgefunden hat, mehrheitlich ihre Sprache abgelegt. Das Sorbische galt als alt und überholt. Der sozialistische Arbeiter war jetzt das Vorbild, er stand für die Zukunft. Und deshalb gibt es bis heute auch Menschen, die sich schämen, Sorben oder Wenden zu sein.
Haben die, die dem neuen sozialistischen Menschenbild entsprechen wollten, wirklich ihre Wurzeln abgelegt?
Man legt nicht seine Wurzeln ab, die vertrocknen einfach, wenn man im Bild bleiben will. Gerade hier im Schleifer Kirchspiel prägten das kirchliche, das landwirtschaftliche, das forstwirtschaftliche Leben und die sorbische Sprache über Jahrhunderte diese Landschaft und Region. Auch in dieser Kirche wurden bis zum Zweiten Weltkrieg vor allem wendisch-sorbische Gottesdienste abgehalten. Und trotzdem hat in dieser relativ kurzen Zeitspanne von etwa 50 oder 60 Jahren ein Sprachverlust, ja eine Entwurzelung stattgefunden.
Aber unter der Opferung der Heimat an die Kohle haben doch sicher auch deutschstämmige Lausitzer gelitten. Warum sollen denn die Sorben noch anders, vielleicht sogar mehr darunter gelitten haben als ihre deutschen Nachbarn?
Ich denke, dass es die Sorben besonders betrifft, weil sie die Lausitz immer als ihre alte Heimat angesehen haben. Nicht umsonst heißt es auch in der sorbischen Nationalhymne "Rjana Łužica": "Du schöne Lausitz, das Land meiner Ahnen und meiner Träume..." Und wenn diesem Land solche Wunden geschlagen werden, dann geht das nicht spurlos an den Menschen vorüber.
Aber gibt es nicht auch einen Heimatverlust unter denjenigen, die hier als junge Menschen hergekommen sind, den industriellen Aufbau miterlebt und mitgestaltet haben und nun erleben müssen, dass die Basis ihres Heimatgefühls, die Arbeit in der Kohle mit all ihren eigenen kulturellen Ausprägungen, nur eine Generation nach ihnen schon wieder vorbei ist? Erfahren Sie von diesen Verlusten auch in Ihrer Arbeit als Pfarrerin?
Ja, das erlebe ich auch, auf jeden Fall. Die von der DDR geprägte Generation der 1950er- bis 1970er-Jahre empfindet jetzt auch das Ende des Bergbaus als einen Verlust. Und das verstehe ich auch. Weil sozusagen die geprägte Kultur des Sozialismus, mit dem sozialistischem Arbeiter, der heldenhaft das Land mit Energie versorgt, weil diese Arbeiter plötzlich nur noch als Umweltsünder, als Klimakiller gelten. Und das sind auch Verlusterfahrungen. Und deshalb ist die Frustration in der Region auch so groß, eben weil sich hier auch eine eigene Kultur entwickelt hatte. Dennoch ist für mich diese Arbeiter-Kultur nicht vergleichbar mit der sorbisch-ländlichen Kultur.
Aber ich denke, dass wir uns nach dieser Phase der Industrialisierung wieder erinnern sollten an unsere eigentlichen Wurzeln. Daraus kann nämlich auch Positives wachsen. Und dass wir hier eine Brücke bilden zwischen Ost- und Westeuropa, zwischen der deutschen und der slawischen Welt. Da sehe ich in einem vereinten Europa große Chancen für die Lausitz.
Dieses Thema im Programm: MDR um 2 | 15. Juni 2020 | 14:00 Uhr