Interview Das Ende der Willkür: Wie sich die Stasi selbst zähmte
Hauptinhalt
24. Februar 2023, 12:38 Uhr
Keine Diktatur kommt ohne Repressionen aus. Auch in der DDR wurden Regimekritiker getötet, verhaftet und zum Schweigen gebracht. Der Charakter der Repression änderte sich allerdings im Laufe der Zeit. In der Stalin-Ära herrschten Willkür und rohe Gewalt. Später bekam die Verfolgung einen gesetzlichen Rahmen, die Stasi professionalisierte sich. An die Stelle von "Schlächtern" traten Fachleute mit Kenntnissen der Psychologie und Kriminaltechnik. Für die Opfer wurde die Sache damit berechenbarer. MDR GESCHICHTE sprach darüber mit dem Historiker Jörg Baberowski.
Sie sprechen von einer Verrechtlichung der Repression in der DDR. Was meinen Sie damit?
Prof. Jörg Baberowski: In der Stalin-Zeit herrschte völlige Willkür. Letztlich konnte jeder unter einer fadenscheinigen Begründung nachts aus dem Haus geholt und irgendwo am Stadtrand erschossen werden. Diese Willkürmaßnahmen stalinistischer Art verschwanden ab der späten Ulbricht-Ära nach und nach aus dem Alltag der Repression. Es gab nun rechtliche Verfahren, in deren Rahmen die Verfolgung stattfand. Man musste den Opfern etwas Konkretes nachweisen, was sie gegen das Regime getan hatten, was auch gesetzlich als Straftat definiert war. Es wurde Anklage erhoben und die Angeklagten hatten zumindest pro forma einen Verteidiger.
Wie wirkt sich das auf die Arbeit der Stasi aus?
Wenn Willkür und rohe Gewalt ausgeschaltet sind, müssen sich die Mitarbeiter der Staatssicherheit professionalisieren. Sie brauchen bestimmte Kenntnisse, zum Beispiel kriminaltechnischer Art. Das brauchten die frühen Tschekisten nicht, da reichte es, Gewalt auszuüben. Jetzt gibt es plötzlich Handbücher über die psychologische Zersetzung. Mitarbeiter der Staatssicherheit lernen, wie man Menschen unter Druck setzt, manipuliert und psychisch fertigmacht. Auch die Prophylaxe spielt plötzlich eine große Rolle: Leute werden vorgeladen und man sagt ihnen, was passiert, wenn sie nicht gehorchen. Man droht: Du verlierst deinen Arbeitsplatz, wir haben deine Familie im Blick, deine Kinder werden nicht studieren dürfen usw. An die Stelle des Revolvers treten also Akte und Schreibtisch.
Was meinen Sie mit Akte?
Man verzichtet auf den Terror und braucht deshalb erstmals in großem Umfang die informellen Mitarbeiter, umgangssprachlich Stasispitzel. Der Überwachungsapparat wird massiv ausgebaut. Der Aufwand, den das Regime zur Kontrolle der Bürger betreiben muss, wird damit sehr viel größer.
Warum tat man das, wenn das mehr Aufwand bedeutete?
Weil sich das DDR-Regime in den späteren Jahren nicht mehr über die Revolution und den Klassenkampf legitimiert, sondern über Konsum, Wohlstand und Wohnungsbau – also das, was man plakativ als Gulaschkommunismus bezeichnet. Man verspricht den Menschen: Ihr habt einen Arbeitsplatz, soziale Sicherheit und die Kühlschränke sind voll. Man versuchte auf diese Weise, Ruhe und Stabilität zu gewinnen. Die Kommunisten hatten erkannt, dass sie mit Konsumversprechen, verbunden mit umfangreicher Überwachung und subtilerer Repression, viel mehr erreichen können als mit roher Gewalt.
Welche Folgen hatte das für die Menschen in der DDR?
In der Bevölkerung schwindet die Angst vor der Staatssicherheit, denn wenn man ein unpolitisches Leben führt, hat man eigentlich nichts zu befürchten. Das war in Zeiten des willkürlichen Terrors noch anders, da konnte man auch zufällig in die Mühlen des Systems geraten. Für oppositionell aktive Bürger wird das Regime berechenbarer, sie wissen jetzt genau, was passiert, wenn sie bestimmte Dinge machen, und umgekehrt ist auch die Staatssicherheit nun an berechenbare Verfahren gebunden.
Wie verändert das den Charakter der Diktatur in der DDR?
Die Herrschenden können jetzt endlich ruhiger schlafen, denn in der Zeit der stalinistischen Willkür lebten auch die Eliten in Angst und Schrecken. Die Terrorwellen in der Sowjetunion beschränkten sich ja nicht nur auf die Bevölkerung, auch innerhalb des Parteiapparats gab es Säuberungen, bei denen hohe Funktionäre erschossen wurden.
Plakativ gesagt, ist das eine Lebensversicherung der Führungsriege, die Parteiführer der Ostblockstaaten regieren nun "ewig" und die Spitzenfunktionäre sitzen ewig im Zentralkomitee und Politbüro. Die kommunistischen Parteien der Ostblock-Staaten verwandeln sich in Technokraten-Vereine. Ihre Mitglieder sind keine Revolutionäre mehr, die vielleicht noch aus Idealismus handeln, sondern man wird SED-Mitglied, um Karriere zu machen. Die Partei wird zu einem Durchlauferhitzer für Karrieristen.
Und wie verändert es das Gesicht der Stasi?
Da gibt es ähnliche Entwicklungen wie in der Partei. Staatssicherheitsleute haben nun eine größere Sicherheit, weil sie an bestimmte Verfahren gebunden sind. Kein Vorgesetzter mehr kann ihre Arbeit willkürlich als schlecht abstempeln und sie zu "Feinden des Volkes" erklären.
Die Arbeit bei der Staatssicherheit wird zu einem Beruf fast wie jeder andere. Ideologische Beweggründe spielen meiner Meinung nach keine große Rolle mehr, weil niemand mehr daran glaubt, dass die Weltrevolution noch kommt. In den Siebzigern und Achtzigern nimmt man das Regime als "für die Ewigkeit gebaut" wahr, niemand glaubt, dass es zusammenbrechen könnte. Entsprechend sucht jeder seine Nische im System, und manche finden sie bei der Staatssicherheit.
Deren Mitarbeiter sind keine "Henker" mehr, keine rohen Dumpfbacken mit Revolver und Lederjacke. Im Gegenteil: Es sind eher intelligente Leute, Karrieristen, die aufsteigen wollen. Sie erledigen professionell ihre Arbeit für das Regime, verdienen damit relativ viel Geld, haben Privilegien und gehören zur Elite.
Unser Gesprächspartner: Prof. Jörg Baberowski
Jörg Baberowski ist seit 2002 Professor für Geschichte Osteuropas an der Humboldt-Universität zu Berlin. Zu seinen Forschungsschwerpunkten zählen die Geschichte des Stalinismus, Gewaltgeschichte und Diktaturforschung. In den Jahren 2019-2023 leitete er das Modul "Willkür und Verrechtlichung" im Rahmen des Forschungsverbunds "Landschaften der Verfolgung".
Forschungsverbund "Landschaften der Verfolgung"
"Landschaften der Verfolgung" heißt ein Forschungsprojekt, bei dem Historiker, Juristen, Psychologen und Ärzte untersuchen, wie Menschen in der DDR politisch verfolgt wurden und welche Folgen das für ihr Leben heute und für die gesamte Gesellschaft in der Gegenwart hat. Nach vier Jahren liegen nun neue, spannende Erkenntnisse vor, die bei einer Abschlusstagung am 16. und 17. Februar 2023 vorgestellt werden. Die Auftaktveranstaltung der Tagung können Sie am 16. Februar ab 18:00 Uhr im Internet live verfolgen.
Dieses Thema im Programm: MDR AKTUELL | Der Stasi-Offizier | Podcast zu DDR-Eliten | 16. Januar 2023 | 08:00 Uhr