Neue Aktenfunde Die unbekannten Mordpläne gegen Walter Ulbricht
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07. Januar 2023, 13:16 Uhr
Auch wenn die DDR-Propaganda ihn gern als beliebten Vater der Nation inszenierte – in Wahrheit war Walter Ulbricht einer der meist gehassten deutschen Politiker der 1950er- und 1960er-Jahre. Dass ihm jemand ernsthaft nach dem Leben trachtete, war bislang allerdings – bis auf eine traurige, von der Stasi aufgebauschte Bauernposse aus dem Thüringer Wald – kaum bekannt. Neue Aktenfunde belegen nun: Es gab tatsächlich ernst gemeinte Anschlagspläne gegen den DDR-Staatschef Walter Ulbricht.
Mitten in einer Schrebergartenanlage am Stadtrand von Ost-Berlin leben Undine und Gerd Schlosser (Namen geändert). Es ist die Zeit kurz nach dem Mauerbau, die beiden haben zwei Töchter. Er ist handwerklich versiert und arbeitet als Elektroingenieur beim Volkseigenen Betrieb Steremat. Generatoren werden dort hergestellt, später auch Halbleitertechnik und Funkanlagen. Undine Schlosser dagegen studiert. Für beide ist es eine glückliche Zeit – trotz des allgegenwärtigen Mangels.
Im Herbst 1964 verabschiedet sich der Mann zu einer Weiterbildung in Magdeburg. Er kommt nicht wieder. Stattdessen erhält Undine Schlosser unerwarteten Besuch. Ermittler durchkämmen ihr bescheidenes Zuhause, interessieren sich für seltsame Dinge. Undine Schlosser ist fassungslos. Die Ermittler geben sich wortkarg. Undine Schlosser hat keine Erklärung. Irgendetwas muss geschehen sein, nur was? Sie tröstet ihre Töchter. Die Dienstreise des Vaters werde wohl etwas länger dauern. Ein drittes Kind ist gerade unterwegs, Undine Schlosser ist im vierten Monat schwanger.
Erst Monate später hat sie erneut Kontakt zu den Ermittlern. Per Telefon teilen sie ihr mit, dass sie ihren Mann vorerst wohl nicht wiedersehen werde. Er sei zu fünfeinhalb Jahren Haft verurteilt worden und sitze im Gefängnis. Man werde sich wieder bei ihr melden, sobald es Neuigkeiten gebe.
Zwei Ingenieure planen Mord an Walter Ulbricht
Die Hintergründe für die überraschende Verhaftung lassen sich heute in den Akten der Staatssicherheit nachlesen. Drei Jahre zuvor hatte Gerd Schlosser den Ingenieur Wolfgang Karwey (Name geändert) kennengelernt. Die beiden trafen sich im stadtbekannten Lokal "Hackepeter" an der Dimitroffstraße, Prenzlauer Berg. Karwey, 23 Jahre alt, weihte Schlosser in seinen Plan ein, die DDR zu verlassen, und stieß damit wohl auf offene Ohren.
Gerd Schlosser war zwar in einem "fortschrittlichen Haushalt" aufgewachsen und hatte anfangs bei der Volkspolizei gearbeitet. Dann jedoch hatte er sich von seiner Partei, der SED, abgewandt aus Unzufriedenheit mit den Verhältnissen. Karweys Haltung war deutlicher, schon immer hatte er die DDR abgelehnt. Sein Ziel war ein "freies Land", die Bundesrepublik etwa oder Kanada. Beim Schmieden seiner Fluchtpläne, so beichtete Karwey später den Ermittlern, sei er auf eine Idee gekommen: Er habe geglaubt, mit einem Anschlag auf das Staatsoberhaupt Walter Ulbricht ließe sich das Leben in der DDR verbessern. Ein solches Attentat, davon sei er überzeugt gewesen, würde das Land zwingen, seine Politik grundlegend zu ändern.
Ulbricht erschießen oder in die Luft jagen?
Den Ermittlungsakten zufolge planten die beiden Ingenieure zunächst, Ulbricht mit einem Gewehr zu erschießen. Karwey hatte, so behauptete er bei den späteren Verhören, irgendwann eine Kleinkaliberwaffe gefunden. Bei der Schießausbildung in der GST habe er sich Munition beschafft. Die Waffe sei geeignet gewesen, "einem Menschen tödliche Verletzungen beizubringen", stellten die Ermittler fest. Doch den beiden Ingenieuren seien bei ihren Planungen Zweifel bezüglich der Waffe gekommen. Ein Schuss aus der Pistole würde unweigerlich die Täter offenbaren. Also hätten sie beschlossen, Sprengstoff herzustellen.
Den Ermittlern nach liehen sie sich dazu Bücher in der Bibliothek. Karwey experimentierte im Garten mit verschiedenen Substanzen. Besonders geeignet kam ihm das DDR-Schädlingsgift namens "Wegerein" vor. Karwey tränkte damit einen Bindfaden und verschloss ihn in einem Messingrohr, um ihn dann zu entzünden. Der neue Plan sah vor, Ulbricht bei der nächsten Mai-Kundgebung auf dem zentralen Marx-Engels-Platz abzuwarten und dann den selbstgebastelten Sprengstoff mittels Fernzündung explodieren zu lassen. "Sie wollten den Sprengkörper im oder am Rednerpult, an dem der Staatsratsvorsitzende sprechen würde, anbringen", behaupteten die Ermittler. Unklar sei geblieben, wann Ulbricht tatsächlich reden würde. Aus diesem Grund hätten sich die Ingenieure, so waren die Ermittler überzeugt, für eine Fernzündung entschieden.
Das nötige Fachwissen, um diesen Plan zu realisieren, hätten sie gehabt: "Bei dem Bau der Fernsteueranlage wollten sie Hochfrequenztransistoren im UKW-Bereich verwenden, um ein zufälliges Auslösen der Explosion z.B. durch Amateurfunker oder durch vorbeifahrende Fahrzeuge zu verhindern." Bekanntlich kam es nicht zu dem Attentat. Die beiden Männer, so ist in den Akten zu lesen, brachen 1963 ihre Versuche ab. Der genaue Grund ist den Akten der DDR-Staatssicherheit nicht zu entnehmen. Waren Gerd Schlosser die staatsfeindlichen Aktivitäten zu weit gegangen? Er war im Grunde ein familiärer Mensch, erinnert sich seine Witwe viele Jahre später. Über politische Dinge habe er sich zu Hause kaum geäußert. Niemals hätte er sich auf solche Weise betätigt.
Die Ulbricht-Verschwörer fliegen auf
Im August 1964 wird Wolfgang Karwey "wegen illegalen Besitzes einer Schusswaffe" verhaftet. Bei seinen Verhören gesteht er die Anschlagspläne. Er verrät dabei auch seinen Komplizen. Gerd Schlosser wird wenige Tage später verhaftet. Schlosser verbringt die Untersuchungshaft in Berlin-Rummelsburg in einer Einzelzelle ohne Fenster. Tagelang dauern die Verhöre. Die Hoffnung auf baldige Entlassung schwindet. In einer Art Lieferwagen wird er zum Bezirksgericht nach Neubrandenburg gekarrt. Beim Prozess sehen sich die beiden Männer erstmals wieder. Das Gericht erkennt in Karwey den Haupttäter und verurteilt ihn zu zwölf Jahren Haft. Schlosser soll fünfeinhalb Jahre hinter Gitter.
In der Hauptverhandlung widerruft Schlosser seine Aussagen, die er in der Untersuchungshaft gemacht hat. Vermutlich seien die Geständnisse erpresst worden, vermutet seine Witwe. Karwey selbst gibt im Prozess an, dass Schlosser "nicht diese direkte feindliche Einstellung" gehabt und sich deshalb zunehmend von ihm abgewandt habe.
Ungefähr gleichzeitig mit der Urteilsverkündung entbindet Undine Schlosser in Berlin. Später, nachdem sie von dem Prozess erfahren hat, nimmt sie Kontakt zum Anwalt Wolfgang Vogel auf. Von ihrem Mann bekommt sie regelmäßig Briefe aus dem Gefängnis. Im August 1967 wird Gerd Schlosser vor Ablauf seiner Haftstrafe in den Westen abgeschoben. Die Familie folgt zwei Jahre später. Das jüngste Kind lernt erst mit vier Jahren seinen Vater kennen. In den Folgejahren gibt sich Gerd Schlosser wortkarg. Er spricht nicht über die Gründe der Verurteilung. Seine Stasi-Akte beantragt er nie. Vielleicht will er sich vor unliebsamen Erkenntnissen schützen.
Wollten Amerikaner Walter Ulbricht entführen?
In den Geheimdienstunterlagen aus Ost und West finden sich mehrfach Hinweise auf weitere mögliche Attentatsversuche auf Walter Ulbricht. So wurde im Frühjahr 1952 ein Medizinstudent in der DDR wegen Terrorverdachts verhaftet. Es handelte sich um einen Mann aus Erlangen, der in dieser Zeit in Ost-Berlin promovierte.
Auf Aussagen einer Quelle namens "Erbsmehl" gestützt, konstruierte die Stasi eine gewagte Theorie: Mit Hilfe von Agenten des amerikanischen Geheimdienstes CIC und mit finanzieller Unterstützung von Siemens habe der Student einen Anschlag auf Walter Ulbricht geplant. Erst nach einem halben Jahr entließ die DDR den Studenten aus der Untersuchungshaft. Im Entlassungsbericht heißt es, dass sich die Anschuldigungen als haltlos erwiesen hätten.
Ulbricht und Chruschtschow gleichzeitig töten
Ein paar Jahre später meldete sich ein Mann aus dem Westen bei den Sicherheitsleuten auf dem Bahnhof Friedrichstraße in Ost-Berlin. Aus Hass gegen das "Westzonenregime" wolle er die DDR über einen Vorfall informieren. Am Vortag habe er am Bahnhof Zoo in West-Berlin ein Gespräch belauscht. Drei Männer planten demnach für ihre Organisation "Vereinigte Deutsche Patrioten" unter der Parole "Schwarzer Adler" ein Attentat gegen den DDR-Staatschef, das sie während des VI. Parteitags der SED ausüben wollten. Der Anschlag solle mit einem Granatwerfer von der Berliner Mauer aus ausgeführt werden – genau dann, wenn Ulbricht gemeinsam mit Nikita Chruschtschow die Grenze besichtigen würden. Der sowjetische Staatsführer solle dabei gleich mitgetroffen werden.
Ob die Staatssicherheit dem Mann glaubte, ist aus den Akten nicht zu entnehmen. Zumindest trug sie Informationen zu den genannten "Vereinigten Deutschen Patrioten" zusammen. Diese Organisation war im Sommer 1962 in West-Berlin gegründet worden. Andere Quellen berichteten, dass der Chef der neuen Partei, der republikflüchtige Hermann Philipp, die Mauer in Berlin mit Plastikbomben sprengen wollte.
"Terrorgruppe" aus dem Thüringer Wald
Bereits früher bekannt wurde der Fall einer angeblichen "Terrorgruppe" aus Steinbach im Thüringer Wald: Im Jahr 1972 wurden mehrere Männer ähnlich den beiden Berliner Ingenieuren zu drakonischen Haftstrafen verurteilt. Die Vorwürfe gegen sie waren massiv. Ein wesentlicher Anklagepunkt der DDR-Generalstaatsanwaltschaft waren mutmaßliche Anschlagspläne gegen "einen führenden Funktionär der DDR". Damit war der inzwischen entmachtete Walter Ulbricht gemeint.
Ulbricht hatte sich regelmäßig zur Erholung im Thüringer Wald aufgehalten. Die Männer wollten ihn, so die Anklage, bei einem dieser Aufenthalte erschießen. Jahrelange Ermittlungen von Polizei und Staatssicherheit hatten ergeben, dass sich die Männer regelmäßig bei Gaststättenbesuchen besonders im alkoholisierten Zustand feindlich und aggressiv über die DDR und ihre Vertreter äußerten. Mehr noch, sie besaßen ein erstaunliches Arsenal an Waffen und Munition aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs!
Tatsächlich ergaben die Ermittlungen, dass in Steinbach viele Familien Waffen zur Wilderei nutzten. In den Verhören gestanden die Männer Ideen für ein Attentat auf Walter Ulbricht. Im wenige Tage dauernden Prozess folgte das Gericht den Anschuldigungen der Anklage. Dass die Männer Walter Ulbricht tatsächlich ermorden wollten, lässt sich anhand der Akten allerdings nicht belegen. Vielmehr finden sich darin Hinweise, dass die Beschuldigten eher auf eine innenpolitische Entwicklung ähnlich der des Prager Frühlings 1968 hofften, um dann einen Umsturz des DDR-Regimes tatkräftig zu unterstützen.
Leuna-Arbeiter greifen Walter Ulbricht an
Auch in den Akten des Bundesnachrichtendienstes finden sich Spekulationen über mögliche Attentate auf Walter Ulbricht. Die Quellenlage war aber offenbar dünn. Ulbricht, der in den Akten als "Leninkopierer" bezeichnet wird, als "gekrönte Kröte" oder "unpopulärster Mann seines Regimes", fehle "vollständig die Fähigkeit, menschlichen Kontakt zu seiner Umgebung herzustellen". 1951 sei er, so berichtete ein Informant, massiv angegriffen worden: Bei einer Rede vor rund eintausend Arbeitern im Leuna-Werk sei er mit Schraubenschlüsseln, Flaschen und anderen Gegenständen beworfen worden.
Ulbricht habe sich durch den Hinterausgang retten müssen. Erst die "herbeigeholten Russen" hätten für Ordnung sorgen können, indem sie "blindlings in die versammelten Arbeiter hineingeschossen und dabei ca. 30 von ihnen getötet und eine Reihe verletzt" hätten. Eine andere Quelle berichtete von einem Mordkomplott im März 1952 zu einer Tagung in Leipzig. Wie diese Pläne endeten, berichten die zugänglichen BND-Akten nicht. Insgesamt wirken die Angaben in den BND-Akten wenig überzeugend.
Ulbrichts Leben nie ernsthaft in Gefahr
Insofern, auch wenn man insbesondere den Ermittlungsergebnissen in den Fällen der beiden Berliner Ingenieure oder der Männer aus Thüringen Glauben schenkt, lassen sich aus den mutmaßlichen Anschlagsplänen eher bescheidene Versuche des Widerstands aus persönlichen Motiven herauslesen. Andere, gewaltfreie Versuche politischen Widerstands der Beschuldigten finden sich nicht, auch keine gesellschaftlichen Visionen für eine mögliche Zeit nach einem Attentat.
So bleibt, bei aller Widersprüchlichkeit der Akten, die Erkenntnis, dass Partei- und Staatschefs in der DDR letztlich doch relativ sicher lebten. Denn auch das bekannte angebliche Attentat auf Erich Honecker im Jahr 1982 entpuppte sich als zufälliger Zwischenfall, als private Tragödie, bei der der vermeintliche Attentäter ums Leben kam.
Eine frühere Version dieses Beitrags erschien in gedruckter Form: "Gerbergasse 18. Thüringer Vierteljahresschrift für Zeitgeschichte und Politik", 103(2), S. 39-43.
Dieses Thema im Programm: MDR FERNSEHEN | MDR Zeitreise F: 151 (388) | 24. April 2022 | 22:20 Uhr