Stasi-Unterlagen
Seit die Stasi-Akten kurz nach der Wiedervereinigung geöffnet wurden, können ehemalige DDR-Bürgerinnen und Bürger ihre Unterlagen einsehen. Nicht alle haben die Möglichkeit der Akteneinsicht genutzt. Bildrechte: imago/epd

Studie zu ungelesenen Stasi-Akten Warum wollen Menschen nicht wissen, was in ihrer Stasi-Akte steht?

02. Oktober 2022, 05:00 Uhr

In unzähligen Akten dokumentierten Mitarbeitende der Staatssicherheit minutiös das Leben von DDR-Bürgerinnen und Bürgern. Seit 1992 haben Betroffene die Möglichkeit, ihre Stasi-Akten auf Antrag einzusehen. Doch längst nicht alle haben von ihrem Recht Gebrauch gemacht. Warum sie sich für das bewusste Nichtwissen entschieden haben, hat erstmals eine Studie des Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung und der Technischen Universität Dresden untersucht.

Mit dem Tag der Deutschen Einheit am 3. Oktober 1991 nahm auch das Stasi-Unterlagen-Archiv seine Arbeit auf. Am 2. Januar 1992 wurden die Aktenbestände der ehemaligen DDR-Staatssicherheit vollständig geöffnet - nun konnte jeder erfahren, wer ihn bespitzelt, verraten oder gar ins Gefängnis gebracht hatte. Über zwei Millionen Betroffene haben seither von ihrem Recht Gebrauch gemacht, ihre Stasi-Akte zu lesen. Doch längst nicht alle nahmen die Möglichkeit wahr: Forschende schätzen, dass insgesamt fünf Millionen ehemalige DDR-Bürgerinnen und Bürger glauben, dass eine Akte über sie existiert – dementsprechend verzichteten rund drei Millionen bewusst auf das Wissen in den Stasi-Unterlagen.

Wer glaubt, eine eigene Stasi-Akte zu haben?

Im Rahmen einer repräsentativen Studie wurden über 2.300 Erwachsene, die in der DDR gelebt haben, befragt. Sie gaben Auskunft darüber, ob sie vermuten, dass eine Akte über sie existiert. 42 Prozent berichteten, dass sie glauben, ganz sicher, ziemlich sicher oder vielleicht eine eigene Akte zu haben. Wird diese Prozentzahl auf die erwachsene DDR-Bevölkerung im Jahr 1989 übertragen, ergäben sich etwa 5,2 Millionen Personen, die vermutlich annehmen, es gäbe über sie eine Akte.

Wie viele Menschen hat die Stasi bespitzelt?

Die genaue Zahl der Menschen, die von der Staatssicherheit ausspioniert wurden, lässt sich nach Angaben der Stasiunterlagen-Behörde nur schwer feststellen. Laut einer repräsentativen Studie glauben 42 Prozent der ehemaligen DDR-Bevölkerung, bespitzelt worden zu sein. Außerdem ist bekannt, dass 1989 rund 90.000 hauptamtliche Mitarbeiter bei der Staatssicherheit arbeiteten, außerdem waren etwa 170.000 Inoffizielle Mitarbeiter registriert.

Warum haben sich so viele Menschen bewusst gegen eine Akteneinsicht entschieden? Diese bisher unbeantwortete Frage haben Prof. Dr. Ralph Hertwig vom Max-Planck-Institut und Prof. Dr. Dagmar Ellerbrock von der TU Dresden erstmals untersucht. "Der Fokus lag bislang immer auf den Gründen, warum Leute die Akte lesen möchten. Nach meinem Wissen wurde die Frage, warum Leute sie nicht lesen wollen, nie gestellt. Das ist die erste Studie, die sich das angeschaut hat", so Hertwig.

Personalakten
Das Stasi-Unterlagen-Gesetz (StUG) erlaubt es Betroffenen, Einsicht in ihre Akten beantragen können. Bildrechte: MDR/Rainer Erices

Warum eine Studie zu ungelesenen Stasi-Akten?

Eigentlich gehe man davon aus, dass Menschen grundsätzlich neugierig seien, so Hertwig. Dementsprechend sollten sie auf jeden Fall die Chance wahrnehmen, einen Blick in ihre Vergangenheit zu werfen. "Es gibt aber viele Kontexte, in denen Menschen sich entscheiden, Dinge nicht wissen zu wollen. Das ist ein faszinierendes psychologisches Phänomen und Dagmar Ellerbrock und ich wollten das im Kontext der Stasi-Akten untersuchen."

Um die Motive der Menschen herauszufinden, wurden Befragungsmethoden aus der Psychologie mit Zeitzeugeninterviews kombiniert. Über 160 Personen folgten Aufrufen in Radio- und Zeitungen und gaben Auskunft. 134 ehemalige DDR-Bürgerinnen und Bürger nahmen an einer Umfrage teil - Mehrfachantworten waren möglich. Teilstandardisierte Interviews mit 22 weiteren Betroffenen vervollständigten die Untersuchung.

Angst vor Verrat durch Freunde und Familie

Die meisten Befragten glauben, dass die Informationen in den Stasi-Akten keine Bedeutung mehr für ihr heutiges Leben haben. Für 78 Prozent der Befragten ist das ein Grund, sie nicht zu lesen. Dahinter stecke vor allem Angst, erklärt der Psychologe Hertwig: "Ich kann nicht mehr ändern, dass möglicherweise ein Familienmitglied bei der Stasi gearbeitet hat. Und deswegen möchte ich mich lieber nicht damit auseinandersetzen." Tatsächlich gaben 58 Prozent der Befragten Bedenken an, dass Kolleginnen und Kollegen als Informanten gearbeitet hätten, 54 Prozent befürchten, dass Freunde oder Familienangehörige sie bespitzelt haben.

Viele Menschen antizipieren negative Gefühle, wenn sie bestimmte Inhalte erfahren würden, und möchten sich mit diesen Gefühlen nicht konfrontieren. Liest man die Akte nicht, kann man diese Gefühle vermeiden.

Prof. Dr. Ralph Hertwig

Auch die Befürchtung, nicht mehr vertrauen zu können, wurde von 44 Prozent der Befragten als Motiv genannt. Sie sorgen sich, ganz grundsätzlich das Vertrauen in andere zu verlieren, wenn sie in den Akten Menschen wiederfinden, die ihnen nahestanden oder noch immer nahestehen. Um Konflikte in der Familie oder am Arbeitsplatz zu vermeiden und negative Emotionen wie Bedauern oder Enttäuschung zu vermeiden, erscheint vielen ehemaligen DDR-Bürgerinnen und Bürgern bewusstes Nichtwissen als die bessere Wahl.

Stasi-Akten für DDR-Nostalgiker uninteressant

Laut Hertwig berührt die "Stasi-Akte auch die Frage, wie ich mich als Bürger oder Bürgerin in der ehemaligen DDR gesehen habe. Und dieses Selbstkonzept – zum Beispiel ein überzeugter Bürger oder Bürgerin der DDR gewesen zu sein – steht dann im Konflikt mit dem Lesen der eigenen Akte. Liest man sie nicht, löst sich der Konflikt auf." Tatsächlich halten es 38 Prozent der Befragten für falsch, die DDR nur unter dem Aspekt der Stasi zu betrachten. 22 Prozent haben ihre Akte nicht gelesen, weil sie sich als überzeugte DDR-Bürgerinnen und Bürger identifizieren. Für sie ist das Nichtlesen der eigenen Akte ein politischer und symbolischer Akt.

Verzerren Stasi-Akten die Biografie?

Viele Befragte haben laut Hertwig außerdem Angst, dass die Stasi-Akte ihre Geschichte und Biografie verzerrt oder einseitig abbildet. Aus diesem Grund habe sich auch der Schriftsteller Günter Grass lange geweigert, seine Akte zu lesen. Die Unterlagen gäben keine Informationen über die Umstände, unter denen Menschen Inoffizielle Mitarbeiter wurden. Insofern könne man das Verhalten auch nicht fair beurteilen.

Viele Befragte haben darauf hingewiesen, dass man der Stasi im Nachhinein eine Interpretationsmacht über die eigene Geschichte und Biografie zuweist, wenn man die Akte liest und die Inhalte für bare Münze nähme.

Prof. Dr. Ralph Hertwig

Tatsächlich bezweifelt fast ein Drittel der Befragten, dass die Informationen in den Akten richtig seien und hat sich deshalb gegen die Einsicht entschieden. Weiterhin glauben 39 Prozent, sie wüssten bereits, was in ihrer Akte steht und rund 22 Prozent kennen bereits die Personen, die sie bespitzelt haben. Rund 15 Prozent gaben als Grund an, dass die meisten Menschen in ihrem Umfeld ihre Akte auch nicht gelesen hätten. Zuletzt wurde der bürokratische Aufwand von 40 Prozent der Befragten als Motiv genannt.

"Die Motive können sich verändern"

Die Gründe, warum ehemalige DDR-Bürgerinnen und Bürger ihre Akte nicht lesen, sind vielfältig – aber nicht in Stein gemeißelt. Eine der wichtigen Erkenntnise der Studie ist für Hertwig: "Die Motive können sich im Lauf der Zeit verändern. Das hängt zum Beispiel davon ab, welche Erfahrungen Freunde oder Verwandte bei der Lektüre ihrer Stasi-Akte gemacht haben. Es kann aber auch von der eigenen Biografie abhängen. Manche sagen beispielsweise: Ich lese die Akte nicht, solange ich noch mit den Leuten arbeite, die damals in der DDR meine Kolleginnen und Kollegen waren. Aber wenn ich in Rente gehe, würde ich sie lesen."

Autoren der Studie zu ungelesenen Stasi-Akten Prof. Dr. Ralph Hertwig beschäftigt sich vor allem mit der Psychologie menschlichen Entscheidens. Seit 2012 ist er Direktor des Forschungsbereichs "Adaptive Rationalität" am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung in Berlin. Gemeinsam mit Dagmar Ellerbrock, Professorin für Neuere und Neueste Geschichte an der Technischen Universität Dresden, leitete er das Forschungsprojekt "Nicht-Einsichtnahme in Stasiakten: Gewolltes Nicht-Wissen und Transformation".

Dieses Thema im Programm: MDR SACHSEN | MDR Sachsenspiegel | 15. Februar 2022 | 19:00 Uhr