4. Dezember 1989 Besetzung der Erfurter Stasi-Zentrale: Ehemalige Mitarbeiter packen aus
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06. Dezember 2021, 13:14 Uhr
Am 4. Dezember 1989 besetzten mutige Erfurter Bürger die Stasizentrale der Stadt. Auch in den folgenden Wochen wurden Stasi-Objekte besetzt und übernommen. Die vom einstigen Stasi-Minister Erich Mielke Anfang November befohlene Aktenvernichtung wurde so erfolgreich gestoppt. Für die TV-Sendung "MDR Zeitreise" wurden Stasi-Mitarbeiter und einstige IM-Spitzel angefragt. Keiner stimmte einem Interview mit Kamera zu. Auf Gespräche ließen sich aber viele ein. So wie Andreas Schuster*.
Nein, er gehe vor keine Kamera, erklärt Andreas Schuster* gleich zu Anfang. Ihn würde doch jeder erkennen, da habe er böse Erfahrungen gemacht. Und außerdem habe er Sorge um seine Frau. Dreißig Jahre hätten sie gemeinsam in der neuen Zeit durchstanden. Er möchte nicht, dass sie jetzt durch ein Interview öffentlich gebrandmarkt werde und ins Abseits gerate. Ansonsten habe er keine Probleme, über seine einstige Arbeit bei der Stasi zu reden. Das Gespräch findet in einem kleinen Büroraum eines Klubs statt.
4. Dezember 1989: Unklare Situation vor Ort
Am 4. Dezember hatte Schuster Frühschicht im Erfurter Stasi-Bezirksamt. 6 Uhr ging sein Dienst los. "Wir waren eine operative Einheit im Dreischichtsystem." Schuster hatte sein Büro in der dritten Etage. Als das Telefon klingelte, war der Abteilungsleiter dran und habe sie dringend hinunter befohlen. Unten im Bereitschaftsraum hätten sie dann gesessen: er und die anderen elf Arbeitsgruppenleiter. Mehrere Leute, so hieß es, säßen beim General. Sie wollten die Bezirksverwaltung besetzen. "Scheiße" hätten sie gedacht, "was tun?" Unter den Offizieren sei dann kleine Gruppen gebildet worden, aber die Aufgabe sei eigentlich unklar gewesen. Auf den Fluren, so erinnert sich Schuster, sei ihm ein Staatsanwalt in Uniform begegnet und auch Offiziere der Volkspolizei mit "ziemlich hohem Dienstgrad".
Aktenverbrennung im Keller
"Der Befehl lautete: Keiner der Mitarbeiter soll irgendeinen Blödsinn machen", sagt Schuster. Mit Gewalt solle nur reagiert werden, wenn Personen angegriffen würden. Danach sei er mit ein paar von den Besetzern durchs Haus gelaufen. "Ich kam in Räume, die kannte ich gar nicht." Auch im Keller sei Schuster gewesen, dort wo die Heizanlage stand, dort wo die Besetzer die Reste vernichteter Akten entdeckten. Einer der Besetzer habe sich ziemlich arrogant benommen, habe ständig von Aktenverbrennung geredet. "Die wussten gar nicht, in welche Gefahr sie sich begeben!“ Schuster schüttelt den Kopf. "Nehmen wir den CIA oder irgendeinen anderen Dienst, die hätten sich so etwas nicht bieten lassen."
Die wussten gar nicht, in welche Gefahr sie sich begeben!
Irgendwann, Monate später, als die Stasi schon Geschichte war, habe er sich mit seinem Chef, dem General, ausgesprochen. Dieser habe ihm gesagt, dass er sich an jenem Tag im Stich gelassen fühlte. Im Stich gelassen von oben - von Berlin.
Aufpassen, dass Mitarbeiter keinen Blödsinn machen
"Gott sei Dank ist nichts passiert", sagt Schuster. 22 Uhr ist er an diesem Tag erst nach Hause gekommen. Früh dann wieder hin. Mit Einlasskontrolle. "Da war eine ältere Frau in den Siebzigern, die mir sagte, ich soll die Tasche aufmachen." Er habe ihr klargemacht, dass er sich nicht "filzen" lasse. "Tasche durchsuchen! Das kann doch nicht jeder Hanswurst. Was wollten die denn machen? Ich hatte keine Angst." Andere durchaus. Schusters Aufgabe sei es gewesen, aufzupassen, dass die eigenen Mitarbeiter keinen Blödsinn machen. "Hektik gab es schon, beidseitig, aber friedlich. Aber nicht jeder Arsch sollte in Panzerschränke sehen."
Und die Sache mit den Akten? Ja, sagt Schuster, überall hätten Säcke rumgestanden, die seien nun bewacht worden. Für einen Geheimdienst sei das ein ganz schöner Niederschlag gewesen. "Aber die haben geglaubt, dass man den Geheimdienst abschaffen würde. Da lache ich heute noch drüber. Die Besetzer haben ihr Leben riskiert und es hätte auch anders kommen können", sagt Schuster.
"Mielke hat das ganze Organ lächerlich gemacht."
Zur Stimmung unter den Mitarbeitern in den Wochen davor befragt, wird Schuster stiller: "Ich wusste nichts von Aktenvernichtung." Die Mielke-Rede vor der Volkskammer am 13. November sei der Einschnitt gewesen. Er habe sie im Fernsehen verfolgt und gedacht: "Du Arschloch, auf dich habe ich jahrelang gehört." Mielke habe das ganze Organ lächerlich gemacht. Das soll nun das große Vorbild gewesen sein. Mitte November hätte es dann im Speisesaal eine Einweisung gegeben. Da seien die neuen Strukturen bekannt gegeben worden. Das MfS war zum sogenannten "Amt für Nationale Sicherheit" geworden. Es sollten Leute entlassen, das neue Amt also verkleinert, werden. Wichtige IM waren zu schützen. "Die Stimmung sank und wir hatten keine Lust mehr zu arbeiten."
Du Arschloch, auf dich habe ich jahrelang gehört.
Im Februar ist Schuster entlassen worden. Da habe er sogar noch seine Pistole gehabt und seine "Langwaffe". Die hat er aber abgegeben, sagt Schuster, und fügt hinzu: "Ja, die Stasi wurde im Stich gelassen."
Zwei ehemalige Mitarbeiter, zwei Versionen
Wenige Tage später berichtet ein weiterer ehemaliger Stasi-Offizier über seine Erinnerungen an den Dezember 1989. Das Gespräch mit Holger Fischer* findet im gleichen Büroraum statt. Diesmal gibt es Kaffee. Am 4. Dezember sei er nicht dabei gewesen, sagt Fischer. Gerade zu der Besetzung werde viel erzählt, was nicht stimme. Zum Beispiel die Aktenverbrennung, die halte er für Unsinn. Damals habe man versucht, das alte MfS in das neue "Amt für Nationale Sicherheit" umzuformen. Da habe man viele Akten nicht mehr gebraucht. Aber für eine Verbrennung habe es keine ausreichenden Öfen gegeben. Fischer ruft einen Bekannten zum Gespräch, der draußen im Saal sitzt. Auch er, Tobias Rudert*, war früher beim MfS. Dieser bestätigt, dass nur die Pappkartons der Munition unten im Keller verbrannt wurden. Ansonsten hätte man doch einfach den Sperrriegel des Abwasserkanals öffnen können. Dann wäre der Keller geflutet worden. Habe man aber nicht gemacht. "Wir hatten nichts zu verbergen", da ist sich Fischer sicher.
"Du, damals am 4.? Wurde da was verbrannt?"
Und die Asche im Ofen? Die Mülltonnen voller verbrannter Schnipsel? Fischer überlegt, dann greift er zum Telefon und wählt eine eingespeicherte Nummer. "Der war Hausmeister, der muss es wissen!", sagt er. Es meldet sich eine Stimme. "Du", ruft Fischer in das Telefon, kaum dass er gegrüßt hat, "damals bei der Firma, im Keller, am 4., wurde da verbrannt?" "Ja", bestätigt der Angerufene. Das seien die Akten gewesen. "Also doch", sagt Fischer und legt auf. "Naja", sagt Rudert. Zumindest eines sei jedoch Quatsch. Es werde immer behauptet, die Besetzung sei eine Erstürmung gewesen. Das hieße, die Stasi hätte sich gewehrt. Aber das habe sie nicht gemacht. Wozu auch? "Wir lebten in dem System mit beiden Füßen auf dem Boden. Wir waren auch Menschen dieses Staates und wir hatten Eltern, die diesen Staat aufgebaut hatten. Wir wollten '89 auch, dass sich was tut." Aber dann habe die Partei sie fallen gelassen wie eine heiße Kartoffel.
Und all das Unrecht? Fischer wedelt mit den Armen. Ja klar, es habe auch Unrecht gegeben. Aber: "Das gibt es beim Geheimdienst immer".
*Anmerkung: Alle Namen wurden auf Wunsch der Gesprächspartner geändert.
Dieses Thema im Programm: MDR FERNSEHEN | MDR Zeitreise - Schild und Schwert der Partei - Aufstieg und Fall der Staatssicherheit | 12. Januar 2020 | 22:00 Uhr