Kritikerin über die Deutsche Einheit Daniela Dahn: "Es hätte eine Alternative zur überstürzten Einheit gegeben"
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15. November 2021, 12:35 Uhr
Daniela Dahn, eine der argumentationsstärksten Kritikerinnen der deutschen Einheit, war im Herbst 1989 Mitglied im Demokratischen Aufbruch. Jener oppositionellen Gruppierung die zunächst noch eine andere DDR wollte, sich dann aber der Allianz für Deutschland von Helmut Kohl angeschlossen hat. In neun Büchern hat sich Daniela Dahn intensiv mit den herrschenden Verhältnissen auseinandergesetzt, die sie als Folge einer überstürzten Wiedervereinigung betrachet. Im MDR-Zeitreise-Interview erklärt sie, welche Alternativen es gegeben hätte.
MDR Zeitreise: Was haben Sie im Herbst '89 gemacht?
Daniela Dahn: Das war auf alle Fälle die intensivste Zeit meines politischen Lebens. Gemeinsam mit Kolleginnen hatte ich die erste Resolution von Künstlern in diesem Herbst eingebracht – wir verlangten über den Schriftstellerverband eine sofortige öffentliche Debatte über die angestauten Probleme im Land. Von daher und durch meine Bücher hatte ich Kontakte zu Oppositionsgruppen. So bin ich zur Gründungsveranstaltung des Demokratischen Aufbruch gekommen. "Wir wollen neu lernen, was Sozialismus für uns heißen kann", hieß es in unserem Gründungsaufruf. Es ging darum, die untragbaren Zustände zu überwinden, ohne eine Kopie des Westens zu werden. Ich wollte immer in einer Demokratie leben, aber nie im Kapitalismus.
Als von Einheit die Rede war, sind sie wieder ausgetreten
Ja, wie andere Gründungsmitglieder auch. Ich habe dann in verschiedenen Gremien mitgearbeitet, wo es darum ging, dennoch etwas Neues zu entwickeln. Wir haben an einem Pressegesetz und an einem Polizeigesetz gearbeitet.
Das muss ja ein großartiger Job sein, ein Land neu denken zu können?
Ja, und das hat auch im Westen Hoffnung geweckt. Auch dort gab es den Wunsch, zusammen etwas Neues zu machen. Im Dezember 1989 veröffentlichte die Frankfurter Rundschau die "Erklärung der Hundert: Wider Vereinigung". Wichtige Intellektuelle wie Karl Bonhoeffer, Helmut Gollwitzer oder Margarethe Mitscherlich verwiesen darauf, dass Ost und West in einer schweren Krise stecken und reformbedürftig sind. Der österreichische Zukunftsforscher Robert Jungk hat uns, den Bürgerbewegungen, geschrieben: "Was ihr macht, könnte ein Modell für die Welt werden." Da lag viel Pathos in der Luft.
Im Dezember 1989 gab es eine repräsentative Meinungsumfrage in der DDR. Der Spiegel und das ZDF haben sie in Auftrag gegeben. Lediglich 27 Prozent der Ostdeutschen waren zu dem Zeitpunkt für die Wiedervereinigung. Was hat aus ihrer Sicht den Meinungsumschwung bis zur Wahl im März 1990 bewirkt?
Das ist meiner Meinung nach noch nicht wirklich wissenschaftlich erforscht: die Rolle der Medien oder die fünf Millionen DM Wahlkampfhilfen, die hunderttausenden Aufkleber und Plakate aus der Bundesgeschäftsstelle der CDU. Im Februar 1990 verbreitete Kohl-Berater Teltschik das Gerücht, dass die DDR in wenigen Tagen völlig zahlungsunfähig sei. Das war sie nie. Aber so etwas verursacht schon Panik. Niemand hat verstanden, was das heißt. "Bekomme ich dann mein Gehalt nicht mehr?" Als den DDR-Bürgern die D-Mark versprochen wurde, war das so eine Art Heilsversprechen. Das Paradies, die blühenden Landschaften, niemandem wird es schlechter gehen. Und die Ostdeutschen waren bereit, an Wunder zu glauben. Sie hatten ja gerade auf wundersame Weise ein System gestürzt. Mit dem Sieg der von Kohl geschmiedeten Allianz für Deutschland war das alles Makulatur. Spätestens mit der überstürzten Einführung der D-Mark waren alle revolutionären Ansätze aufgekauft.
Es heißt immer, bei der Volkskammerwahl hätten die DDR-Bürger die D-Mark gewählt.
Ja, aber ohne zu wissen, was das eigentlich heißt. Man wusste einfach nicht, was die D-Mark für Konsequenzen hat. Dass die DDR als Rechtssubjekt verschwinden würde und es stattdessen eine entschädigungslose Enteignung des Volkseigentums geben würde. Die übrigens auch jeder westlichen Eigentumslogik widerspricht. Der Einigungsvertrag hatte noch Anteilsscheine am Volkseigentum in Aussicht gestellt und die Bewahrung der kulturellen Substanz der DDR. Man konnte sich nicht vorstellen, dass Versprechen dieses Vertrages nicht eingehalten werden. Und dass das niemand zu verantworten hat, wenn Zusagen in einem Staatsvertrag gebrochen werden.
Nach dreißig Jahren Einheit gibt es aber auch Dinge auf der Haben-Seite?
Natürlich, für sehr viele hat sich der individuelle Freiheitsraum erweitert. Da gibt es gar keine Frage. Wir wollten ja auch, dass sich etwas ändert. Nur so überstürzt und kompromisslos hätte es nicht sein müssen. Ich denke, dass haben sich viele so nicht gedacht, auch ich nicht.
Ihr Thema sind die uneingelösten Versprechen, die verschenkten Möglichkeiten, die vertanen Chancen aus dem Herbst '89?
Ja, wenn man sich die Forderungen der Bürgerbewegungen ansieht, dann ist eben vieles unerfüllt geblieben. Die Forderung nach einer demokratischen Kontrolle der Wirtschaft. Der Wunsch nach solidarischer Gemeinschaft. Stattdessen haben Gewalt, Kälte und Entsolidarisierungen über die Jahre immer mehr zugenommen. Aber darüber wird jetzt wieder nachgedacht und geredet. Die Dinge sind nicht für immer verschüttet. Es ist nur Zeit vertan worden.
Waren Sie jemals in Versuchung in die Politik zu gehen?
Nein. Als Politiker muss man Kompromisse machen. Und permanent rhetorisch sein. Mit ist es lieber, in Ruhe an meinen Gedanken und Sätzen arbeiten zu können.
War die deutsche Einheit, so wie sie gelaufen ist, alternativlos?
Nein, bestimmt nicht. Es gab ja zum Beispiel den Entwurf einer neuen Verfassung. Das wäre schon ein Unterschied gewesen, wenn die Einheit mit einer Sache begonnen hätte, die Ost und West zusammen gemacht hätten. Aber das wurde ja dann nach der Wahl von den Parlamenten überhaupt nicht mehr diskutiert. Wenn keine Alternativen bedacht werden, dann kann man natürlich sagen, dass es alternativlos war. Ich denke, Politik ist eigentlich dafür da, Alternativen anzubieten.
Über dieses Thema berichtet der MDR auch im TV: MDR Zeitreise | 15.03.2020 | 22:25 Uhr