Helmut Kohls Strippenzieher Horst Teltschik und der Countdown zur deutschen Einheit

28. November 2022, 05:00 Uhr

Horst Teltschik zählte zu den engsten politischen Beratern von Bundeskanzler Helmut Kohl. Als 1989 die deutsche Einheit auf die weltgeschichtliche Tagesordnung rückte, überzeugte Teltschik ihn in die Offensive zu gehen. Kanzler Kohl präsentierte darauf am 28. November 1989 im Bundestag ein Zehn-Punkte-Programm zur schrittweisen Überwindung der Teilung Deutschlands.

Das Faszinierende an der Zusammenarbeit mit Helmut Kohl sei "das Ausmaß an Vertrauen, dass sich darin ausdrückt, dass er mir einen erfreulich großen Spielraum für eigene Entscheidungen und eigene Überlegungen immer eingeräumt hat". Im Sommer 1989, als Horst Teltschik, Vize-Chef des Bundeskanzleramts, diese Worte einem Reporter des WDR auf Band spricht, ahnt er noch nicht, wie sehr sich dieser Spielraum schon bald gewaltig erweitern wird. Denn ab Frühjahr 1990 ist Horst Teltschik der vielleicht wichtigste Unterhändler Bonns in Sachen deutsche Einheit.

Geheimnisvolles Treffen

Dass er es wird, hat freilich mit seinem ungeheuren politischen Instinkt zu tun, der ihn Chancen erspüren lässt, die selbst Politprofis an seiner Seite verkennen. Eines der prägnantesten Beispiele dafür: Der Weg zum aufsehenerregenden Zehn-Punkte-Plan Helmut Kohls. Am 21. November 1989, keine zwei Wochen nach dem Mauerfall, empfängt Horst Teltschik in seinem Büro im Kanzleramt einen Gast aus Moskau: Nikolai Portugalow, Mitglied des ZK der KPdSU und Offizier des KGB, was man aber erst Jahre später erfährt. Portugalow gilt bis dahin als "Germanist" – als Deutschland-Experte des Kreml. Informelle Gespräche zwischen Teltschik und Portugalow gab es viele in der Vergangenheit. Doch diesmal ist etwas anders. Horst Teltschik erinnert sich: "Er tat sehr geheimnisvoll und sagte mir, sie hätten in Moskau auf höchster Ebene viele Gespräche gehabt. Und er hätte sich da eine Reihe von Fragen handschriftlich notiert und ich sollte sie dem Bundeskanzler vorlegen."

Horst Teltschik
Der Mann im Hintergrund: Horst Teltschik im Mai 1990. Bildrechte: imago/teutopress

Moskaus neue Deutschlandpolitik

Horst Teltschik ist "elektrisiert", beendet das Gespräch aber, ohne eine Regung zu zeigen. Der Grund: Was da vor ihm liegt, scheint der Beweis dafür zu sein, dass die Kremlspitze bereits weit in die Zukunft plant und eine neue Deutschlandpolitik im Auge hat. So heißt es etwa in Portugalows Fragenkatalog: "Rein theoretisch gefragt: Wenn die Bundesregierung beabsichtigen würde, die Frage der Wiedervereinigung bzw. Neuvereinigung in die praktische Politik einzuführen, wäre es dann nicht vernünftig, öffentlich über die zukünftige Allianz-Zugehörigkeit beider deutscher Staaten nachzudenken?"

"Olympische Ruhe"

Was Horst Teltschik zu diesem Zeitpunkt nicht weiß: Der diskrete Vorstoß ist der Kreml-Spitze gar nicht bekannt. Denn die Finte mit dem Fragenkatalog stammt von Valentin Falin, dem einstigen Botschafter der UdSSR in der Bundesrepublik und nunmehrigen Leiter der Internationalen Abteilung im Moskauer ZK. Falin ahnt: Wenn Moskau jetzt, nach dem Mauerfall, nicht aufwacht und aktiv wird, werden andere vorangehen und die Art und Weise des Zusammengehens beider deutscher Staaten bestimmen. Dass sie zusammengehen werden, davon geht der Mann im Kreml aus. Entsprechende Überlegungen hat er bereits seit Mitte der 1980er-Jahre angestellt. Sein Chef, Michail Gorbatschow, wird Falin Jahre später berichten, habe auf die Situation allerdings mit einer "olympischen Ruhe" geblickt, obwohl sich abzeichnete, dass mit der DDR die "dünnste Kesselwand" des Ostblocks explodiert. "Falin wollte natürlich, das zeigte sich auch später, viel mehr 'rausholen' aus diesem Einigungsprozess", sagt Horst Teltschik. "Er ging nicht davon aus, dass wir dieses Gespräch zum Anlass nehmen werden, um uns an die Spitze zu stellen und sofort tätig zu werden."

Helmut Kohls Zehn-Punkte-Programm

Zunächst muss Horst Teltschik jedoch erst einmal die eigenen Kolleginnen und Kollegen im Deutschlandstab des Kanzleramts überzeugen. Denn auch hier scheut man den Schritt aus der Deckung, würde sich gern absichern, bevor man ein eigenes Programm zur Konföderation oder gar zu einer deutschen Einheit präsentiert. Doch Teltschik überzeugt letztlich das Amt und den Kanzler, jetzt in die Offensive zu gehen. Unter strikter Geheimhaltung wird so in wenigen Tagen ein Zehn-Punkte-Programm zur schrittweisen Überwindung der Teilung Deutschlands und Europas ausgearbeitet, das Helmut Kohl am 28. November 1989 im Bundestag präsentiert. Konkret geht es darin um Wirtschaftshilfen, den Ausbau der Zusammenarbeit und am Ende die Deutsche Einheit. Erst weniger Stunden vor der Vorstellung benachrichtigte Horst Teltschik die Bündnispartner in Washington, London und Paris.

Einheit wird kommen, wenn die Menschen sie wollen

Die Rede, so Teltschik, war taktisch "nach allen Seiten abgefedert". Bewusst werden Aussagen zur künftigen Ostgrenze oder zur Bündniszugehörigkeit eines vereinten Deutschlands vermieden. Das Programm konzentriert sich in erster Linie auf die innerdeutschen Aspekte. "Wie ein wiedervereintes Deutschland aussehen wird, das weiß heute niemand. Dass aber die Einheit kommen wird, wenn die Menschen in Deutschland sie wollen, dessen bin ich mir sicher", sagt Kohl in seiner Rede. Intern geht man da noch von einem Stufenprozess aus. Fünf bis zehn Jahre könnte es wohl dauern bis zu einer echten deutsch-deutschen Konföderation: "Da haben wir sogar einen Vorschlag von Modrow aufgenommen: die Vertragsgemeinschaft", erinnert sich Teltschik. "Wir wussten zwar nicht, was das eigentlich heißt, aber ich hab gesagt: Da fällt uns dann schon was ein, wenn wir diese Stufe erreichen."

Bundeskanzler Helmut Kohl traf in Dresden mit Ministerpräsident Hans Modrow zusammen.
Bundeskanzler Helmut Kohl und DDR-Ministerpräsident Hans Modrow im Dezember 1989 in Dresden. Bildrechte: imago/photothek

Gespräche auf höchster Ebene

Der Bundestag war über Kohls Rede vorab nicht informiert und ist nun ziemlich perplex. Aber es gibt Beifall von fast allen Seiten. Nur die Grünen applaudieren nicht, sie sehen die Souveränität der DDR angegriffen. Die SPD bietet der Regierung Kohl sogar spontan ihre Unterstützung an. Der Clou ist fast perfekt – wenn Moskau nicht noch dazwischenfährt. In Bonn wartet man gespannt: "Mit der Präsentation war eigentlich klar für Gorbatschow: Sein Partner ist nun nicht mehr ein Herr Krenz oder ein Herr Modrow, sondern es sind George Bush, François Mitterrand und Margaret Thatcher", erklärt Teltschik. "Die haben ja danach auch sofort das Gespräch mit Gorbatschow gesucht. Das macht deutlich, dass sich die Gesprächsebene sofort auf die höchste verlagert hat - die vier Siegermächte plus Bundesrepublik Deutschland und DDR."

Michael Gorbatschow im Juli 1990 auf dem 28. KPdSU-Kongress
Michael Gorbatschow im Juli 1990 auf dem 28. KPdSU-Kongress in Moskau. Bildrechte: IMAGO

Bald wird die Einheit auf der Tagesordnung stehen

Nur wenige Tage später, am 5. Dezember 1989, gehen Michail Gorbatschow und sein Außenminister Eduard Schewardnadse Bundesaußenminister Genscher für Kohls Vorstoß scharf an und verurteilen ihn als "äußerst dreiste Einmischung in die inneren Angelegenheiten eines souveränen Staates". Doch der Donner trügt. Der Geist ist - ohne ihr Zutun - aus der Flasche. Bald schon gilt es nur noch, die besten Konditionen auszuhandeln, zu denen beide deutsche Staaten in eine vereinigte Zukunft gehen.

Dieser Artikel wurde erstmals im Juni 2020 veröffentlicht.

Über dieses Thema berichtet der MDR in "MDR Zeitreise" 10.11.2019 | 22:20 Uhr

Dieses Thema im Programm: MDR AKTUELL | Das Interview von MDR AKTUELL | 31. August 2022 | 07:45 Uhr

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