Sprachentwicklungsstörungen Sprachstörungen: Immer mehr Kinder sind betroffen
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01. Oktober 2022, 10:00 Uhr
Fast jedes 10. Kind fällt inzwischen durch Sprach- und Sprechstörungen auf. Die Zahl der Diagnosen steigt seit Jahren. Heute sind 59,4 Prozent der Mädchen und 56,7 Prozent der Jugend mehr betroffen, als noch vor 10 Jahren. Das ergab eine Studie der Kaufmännischen Krankenkasse. Dabei scheint das Sprechenlernen etwas Selbstverständliches zu sein, etwas, das ganz automatisch geschieht. Warum bereitet es dann zunehmend Probleme? Und was können wir im Alltag dagegen tun?
Die Ergebnisse der Studie spiegeln sich auch in der klinischen Praxis wieder, bestätigt Prof. Peter Kummer vom Universitätsklinikum Regensburg, Präsident der Deutschen Gesellschaft für Pädaudiologie und Phoniatrie (DGPP). Immer häufiger würden durch Fachärzte bei Kindern Sprachentwicklungsdefizite festgestellt, die nicht auf körperliche Faktoren wie Hörstörungen oder genetischen Veranlagungen zurückzuführen sind.
Wir sprechen zu wenig miteinander
Die Ursachen sieht Prof. Kummer in diesen Fällen unter anderem in der Kommunikationskultur insgesamt und speziell in den Familien. "Gemeinsame Mahlzeiten oder andere Gelegenheiten zum Sprechen sind auf dem Rückzug, gleichzeitig nimmt die Mediennutzung auch bei Kindern einen immer größeren Raum ein. Das ist ein Problem, denn Kinder brauchen sprachliche Anregung, um ihre Fähigkeiten auf diesem Gebiet entwickeln zu können" so der Experte. Smartphone, Tablet und Co. können das nicht leisten, sind aber als "elektronische Nannys" im Einsatz, um Ruhe zu schaffen im turbulenten Familienalltag.
Sprechen lernen heißt: sich Zeit füreinander zu nehmen
Das bestätigt auch die Logopädin Susanne Gundermann, die in ihrer Praxis gemeinsam mit ihren Kolleginnen seit vielen Jahren ähnliche Erfahrungen macht. Dabei sieht sie im Alltag viele Gelegenheiten, die Sprachentwicklung von Kindern anzuregen, sogar bereits vor der Geburt. Schon im Mutterleib hört das Ungeborene die Stimme der Mutter und der Menschen, die es umgeben. Das sei die erste Gelegenheit, miteinander zu kommunizieren. Ist das Kind auf der Welt, kommt der Blickkontakt als weitere wichtige Voraussetzung für den Spracherwerb hinzu. Denn er lenkt die Aufmerksamkeit, zum Beispiel auf den Mund des Erwachsenen.
"Liegt das Baby auf dem Wickeltisch, schaut man es ganz automatisch an. Das ist ein geeigneter Moment, einfache Laute wie ein "A" zu formen, die das Kind dann irgendwann nachahmen wird", empfiehlt Susanne Gundermann. Auch während eines Spazierganges mit dem Kinderwagen bietet sich das an. Voraussetzung dafür ist, dass der Wagenaufsatz so montiert ist, dass man einander mit dem Gesicht zugewandt ist. Später kann man gemeinsam Bücher anschauen und darüber sprechen, was auf den Bildern zu sehen ist, um die Kommunikation aktiv anzuregen.
Auch ganz alltägliche, sich wiederholende Handlungen kann man sprachlich begleiten, sagen, was man gerade tut oder sieht, so die Logopädin: "Jetzt ziehe ich dir den Pullover an und dann kämmen wir noch die Haare", zum Beispiel. Immerhin muss ein Kind einen Begriff etwa 46 Mal gehört haben, um ihn in seinen passiven Wortschatz aufnehmen zu können, ihn also erst einmal nur zu verstehen.
Ohne Bewegung keine Sprache
Auf den ersten Blick erscheinen Bewegung und Sprache wie zwei Paar verschiedene Schuhe. Aber beides hängt eng zusammen, denn Sprechen ist die koordinierte Bewegung von rund 100 Muskeln. Zunge, Kehlkopf, Lippen, Gaumen, Rachen, Kehldeckel, Zähne und Nasenraum sind daran beteiligt. Daher sind motorische Erfahrungen wie Gehen, Klettern und Greifen generelle Voraussetzung für den Spracherwerb und können ihn sogar unterstützen: Zum Beispiel, wenn man "winken" sagt und gemeinsam mit dem Kind die Hände dazu bewegt.
So entwickelt sich der Sprechapparat gesund
Susanne Gundermann beobachtet in ihrer Praxis auch, dass immer mehr Kinder mit Sprachstörungen zu ihr kommen, die anatomische Ursachen haben. Dazu gehören das Lispeln durch den sogenannten lutschoffenen Biss. Diese Fehlbildung des Kiefers entsteht durch zu langes Nuckeln. Auch die mangelhafte Entwicklung der Lippen- und Kaumuskulatur behindert richtiges Sprechen. Hier sieht die Logopädin ebenfalls viele Chancen, dem vorzubeugen: "Zunächst einmal ist das Stillen die beste Voraussetzung für eine gesunde Entwicklung der Mundmuskulatur. Spätestens mit dem Ende des ersten Lebensjahres sollte sich das Kind vom Nuckel verabschieden und auf keinen Fall sollte es ihn dauerhaft im Mund haben." Auch das beobachtet sie oft.
Sobald ausreichend Zähne da sind, empfiehlt sie das Kauen fester Speisen, vor allem mit geschlossenem Mund. All das trainiert die Muskeln, die am Sprechen beteiligt sind. Aus Gesprächen mit Eltern weiß Susanne Gundermann, dass sich all das im Alltag nicht immer leicht durchsetzen lässt. "Natürlich entstehen da Konflikte und kein Kind gibt gern den geliebten Nuckel her. Aber wer seinen Nachwuchs in seiner Entwicklung unterstützen will, muss da ganz klar handeln."
Probleme haben sich durch die Pandemie verstärkt
Dass auch die Pandemie dazu geführt hat, dass die Zahl der betroffenen Kinder und Jugendlichen gestiegen ist, darüber sind sich die Experten einig. Vor allem jüngeren Kindern hätten die Maskenpflicht und die Kontaktbeschränkungen den Spracherwerb erschwert, so Prof. Peter Kummer von der DGPP. Blieben die Sprachentwicklungsstörungen unerkannt und unbehandelt, könne sich das ein Leben lang negativ auf das Privatleben und den Beruf auswirken, so der Experte.
Verstehensprobleme durch zentrale auditive Verarbeitungs- und Wahrnehmungsstörungen
Neben den verpassten Chancen, Kinder im Hinblick auf ihre sprachliche Entwicklung anzuregen, gibt es einen weiteren Faktor, der das richtige Sprechen und die Kommunikation erschwert: unentdeckte zentrale Hörstörungen. "Hier gibt es eine wachsende Gruppe von Betroffenen, die mit dem peripheren Hörorgan, also dem Außen,- dem Mittel- und Innenohr zwar perfekt hören und im Hörtest mit Tönen keine Auffälligkeiten zeigen. Dafür haben sie aber Probleme, sich Gehörtes zu merken, Sprache im Störschall zu verstehen und die Richtung zu erkennen, aus der der Schall kommt – sowohl bei Gesprächspartnern als auch z.B. im Straßenverkehr", erläutert Prof. Michael Fuchs, Leiter der Sektion Phoniatrie und Audiologie am Universitätsklinikum Leipzig.
Auditive Verarbeitungs- und Wahrnehmungsstörung (AVWS) heißt dieses Krankheitsbild, das erst seit etwa 15 bis 20 Jahren näher untersucht wird und bei dem Experten von einer hohen Dunkelziffer Betroffener bis ins Erwachsenenalter hinein ausgehen. In Leipzig gibt es dafür einen deutschlandweit einzigartigen Forschungsschwerpunkt, an dem das Universitätsklinikum, die Förderschule für Hörgeschädigte, das Berufsbildungswerk Leipzig Hören-Sprache-Kommunikation und das Institut für Biologie (Allgemeine Zoologie und Neurobiologie) der Universität Leipzig beteiligt sind. Ziel der Zusammenarbeit sei es, Betroffenen einen möglichst selbstbestimmten Alltag zu ermöglichen. Entsprechende Ergebnisse präsentiert Fuchs gemeinsam mit seinen Kollegen zur diesjährigen Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Pädaudiologie und Phoniatrie (DGPP), die vom 29. September bis zum 2. Oktober in Leipzig stattfindet.
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