Insektenatlas 2020 Insekten – warum wir sie lieben sollten
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11. April 2024, 16:17 Uhr
Von wegen Mistkäfer, Mistbiene, verflixte Mücke: Ohne Insekten sähen wir ganz schön alt aus, sagt der Insektenatlas 2020 und verrät, was sich aus Pferdeapfel und Kuhfladen alles herauslesen lässt.
So richtig warm sind wir Menschen ja noch nie mit ihnen geworden: Insekten. Das fängt schon in der Bibel mit den Heuschreckenplagen in Ägypten an. Später geht das ganz real weiter mit Beginn der Landwirtschaft, dem Auftakt zum Kampf Mensch gegen Insekt: Käfer, die Getreide oder Kartoffelernten wegfressen. Raupen, wie der Eichenprozessionsspinner, die ganze Wälder kahl fressen, Borkenkäfer, die Nadelwälder zerstören, Mücken, die Malaria übertragen, Tsetse-Fliegen mit Erregern der Schlafkrankheit.
Die Liste lästiger Insekten ist lang. Imageschädigend jede Mücke, die uns den Schlaf raubt, jede Wespe, die erst an Kuchen oder Bratwurst knabbert, bevor sie sich in die Apfelschorle stürzt. Und jetzt? Wir müssen nicht gleich Frieden schließen. Aber der Insektenatlas 2020 gibt uns die Chance, den Blick auf die kleinen Tiere zu ändern. Manchmal auch um 180 Grad. Und dann werden die vermeintlichen Schädlinge zum Mittagessen.
Insekten – für Frauen Fleisch-Ersatz
Aber von Fleisch auf Insekten umsteigen, ist bei uns immer noch Kopfsache: In westlichen Industrienationen wird dieses Ernährungs-Szenario mehr mit wohligem Schaudern, denn mit Ernsthaftigkeit betrachtet. Dabei waren Käfer, Larven, Heuschrecken und Maden die ursprünglichen Proteinquellen der Menschheit.
Bis heute gehören sie in über 130 Ländern zur Ernährung, heißt es im Insektenatlas. In mangelernährten Gesellschaften stellt die Insektenzucht demnach besonders für Frauen nicht nur eine Nahrungs-, sondern auch eine Geldquelle dar, nämlich durch den Verkauf der Insekten. In traditionell männlich geprägten Kulturen bekommen dem Atlas zufolge noch heute zuerst die Männer das teure Fleisch, selbst dann wenn Frauen einen höheren Eisen- und Proteinbedarf haben wie in der Schwangerschaft oder Stillzeit. Diesen Ansatz kennt der eine oder andere vielleicht noch aus der eigenen Familie, der Vati kriegt das dickste Schnitzel.
Insektenvielfalt schwindet durch Fleischhunger
Wobei der Fleischhunger der Welt auch einer der Sargnägel für die Insektenvielfalt ist, wenn beispielsweise in Südamerika in gigantischen Monokulturen Soja als Futterpflanze für Rinder angebaut wird. Egal, wo - Monokultur geht Hand in Hand mit dem Verlust des ökologischen Gleichgewichts und der Artenvielfalt. Und für alle, die sich gruseln beim Gedanken an Knusperheuschrecke in Sojasauce - das Geschäft mit dem Insekten-Protein lohnt sich frühestens in zehn Jahren, sagt eine Studie des britischen Finanzunternehmens Barcly. Der andere Sargnagel sind chemische Pflanzenschutzmittel, die den Wuchs von Beikräutern verhindern und Schädlinge beseitigen. Weltweit werden 600 Wirkstoffe eingesetzt,
Auf jedes Schadinsekt zehn bis 15 Fressfeinde
Vielleicht sollten wir uns diese Fakten vor Augen führen: Nicht nur Bienen sind Bestäuber und sorgen für Getreide, Obst und Gemüse, sondern auch viele andere Insekten. Eine Hummel zum Beispiel bestäubt pro Tag 3.800 Blüten. Außer Apis Mellifera, der Biene, hat kein anderes Insekt so eine positive Identifikationsfigur wie die unverwüstliche TV-Biene Maja. Zum Beispiel die Marienkäferlarven. Kaum ein anderes Bild wird in Gartenforen so oft gepostet mit den Fragen : "Was ist das und sind die gefährlich?" Marienkäferlarven fressen bis zu 50 Blattläuse pro Tag, bis Ende dieses Stadiums bis zu 40.000. Außerdem mögen sie Kartoffelkäfer, Getreidehähnchen, Rapsglanzkläfer.
Insektenbefruchtung wirkt sich auf Geschmack und Haltbarkeit aus
Oder Florfliegenlarven: Die vertilgen immerhin 500 Blattläuse in drei Wochen. Schlupfwespen parasitieren Eier, Larven und ausgewachsene Insekten. Theoretisch hat jedes Schadinsekt zehn bis 15 natürliche Feinde, heißt es im Insektenatlas. Insgesamt gibt es demnach 90 Arten, die im biologischen Pflanzenschutz eingesetzt werden. Es geht teilweise auch schon ohne Insekten - Bestäubung von Hand erfolgt laut Atlas bereits in 20 Ländern, darunter China, Pakistan, Chile Neuseeland oder Italien. Der Preis dafür: Äpfel ohne Kerne enthalten weniger Calzium und faulen schneller, auch Erdbeeren brauchen Insektenbefruchtung, um besser zu schmecken und länger zu halten.
Was Kuhfladen verraten
Statt "Iih, ein Pferdeapfel", oder "Bah, ein Kuhfladen" sollten wir lieber mal richtig hinschauen: Was kreucht und fleucht da auf den tierischem Dung? Je mehr Käfer und Fliegen, um so intakter das Agrarsystem. Denn die Fladen haben es in sich, wie eine niederländische Vergleichsstudie von dreierlei landwirtschaftlichen Systemen laut Insektenatlas zeigt: Verglichen wurden jeweils zwölf Kuhfladen, zehn Tage alt, von Kühen aus acht konventionellen, sechs ökologischen Höfen und sechs aus Naturschutzgebieten.
Konventionelle Landwirtschaft | Ökologische Landwirtschaft | Landwirtschaft in Naturschutzgebiet |
---|---|---|
102 | 156 | 168 |
Koexistenz statt Kampf bis aufs Messer
Trotzdem sollten wir dringend lernen Insekten zu mögen. Oder uns wenigstens mit ihnen zu arrangieren. "Erst sprühen wir jahrzehntelang Gift auf die Äcker, und jetzt jammern wir, dass die Insekten weg sind", ätzt Kabarettist Hagen Rether auf der Bühne. Unrecht hat er nicht, wie diese Grafik des Insektenatlas 2020 deutlich aufzeigt: Ohne Insekten, also Bestäuber, weniger Obst, Getreide, Gemüse.
Fazit: Insekten brauchen keine Menschen, wir aber die Insekten
Das Fazit des über 50-seitigen Insektenreports ist kurz und eindeutig: Insekten würden ohne uns Menschen auf der Erde sehr wohl überleben, Menschen ohne Insekten dagegen nicht. Nicht wirklich überraschend, wenn man in die Evolutionsgeschichte schaut: Vor etwa 370 Millionen Jahren hatten sich erste fliegende Insekten entwickelt. Die Menschen entwickelten den aufrechten Gang dagegen erst vor drei bis vier Millionen Jahren.
Dieses Thema im Programm: MDR SACHSEN | Sachsenspiegel | 08. Januar 2020 | 19:00 Uhr
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