Konsum, Kapitalismus & Klimawandel Wie der Mensch neue Pandemien produziert
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10. Juli 2020, 10:08 Uhr
SARS, Schweinegrippe, MERS, Ebola und Covid-19 sind Epidemien des 21. Jahrhunderts. Ihre Gemeinsamkeit: Die Erreger haben sich von Tieren auf den Menschen übertragen. Laut eines neuen Berichts von Forschenden ist das vermehrte Aufkommen sogenannter Zoonosen kein Zufall – der gegenwärtige Lebensstil der Menschheit sei dafür verantwortlich. Doch wie befeuert unser Konsum das Risiko für Pandemien?
Inhalt des Artikels:
- Forschende warnen: Zoonosen auf dem Vormarsch
- Wildtierhandel erleichtert die Übertragung
- Wachsender Fleischkonsum fördert Infektionsgefahr
- Massentierhaltung riskiert Entstehung resistenter Keime
- Zoonosen verbreiten sich durch Umweltzerstörung und Klimawandel
- Wieso der Kapitalismus die Weltgesundheit gefährdet
- Win-win: Investitionen in Gesundheit und Nachhaltigkeit
Keine vier Monate nachdem die WHO den Ausbruch von Covid-19 zur Pandemie erklärt hat, veröffentlichen chinesische Forschende Ende Juni eine Studie über eine neue Art der Schweinegrippe – ein Virus mit dem Potential zur nächsten Pandemie. In ihrer im Fachmagazin PNAS erschienenen Studie beschreiben die Forschenden das neue Virus G4.
G4 ist ebenso wie das Corona-Virus SARS-CoV-2 ein Virus, das wahrscheinlich zuerst Tiere infizierte und später auf Menschen übergesprungen ist. Diese Infektionskrankheiten, welche die Grenze zwischen einzelnen Arten übertreten und von Tier zu Mensch oder Mensch zu Tier übertragen werden können, werden als Zoonosen bezeichnet. Die Erreger sind neben Viren auch Bakterien, Parasiten oder Pilze.
Als die Forschenden 388 Arbeiterinnen und Arbeiter aus 15 chinesischen Schweinezucht- und Schweineschlachtbetrieben auf Antikörper gegen das G4-Virus testeten, zeigte sich, dass bereits zehn Prozent von ihnen mit dem hochinfektiösen Virus in Kontakt gekommen waren. Laut dem Virologen Prof. Alexander Kekulé sei das zwar "beunruhigend", jedoch bestünde derzeit noch keine "Alarmstufe Rot", wie er bei MDR aktuell betonte. Denn die Daten der Studie wurden zwischen 2011 und 2018 erhoben und zeigen somit keinen akuten Ausbruch. Zudem sei noch nicht belegt, ob sich das Virus auch von Mensch zu Mensch verbreite. Die Ergebnisse seien vielmehr als "vorsichtiger Blick in die Zukunft" zu verstehen, so Kekulé.
Forschende warnen: Zoonosen auf dem Vormarsch
Während die eine Pandemie den ganzen Planeten in Atem hält, bahnt sich schon die nächste an? Vielleicht wird es nicht die neue Schweinegrippe sein, die sich wie Covid-19 um die ganze Welt verbreitet. Doch Forschende des Umweltprogramms der Vereinten Nationen (UNEP) und des International Livestock Research Institute (ILRI) in der kenianischen Hauptstadt Nairobi warnen, dass weitere Pandemien folgen werden.
Dies war eine höchst vorhersehbare Pandemie.
"Während viele auf der Welt von Covid-19 überrascht waren, waren wir es nicht", sagt Delia Randolph, Veterinär-Epidemiologin beim ILRI. "Dies war eine höchst vorhersehbare Pandemie." Seit den 1930er-Jahren zeichne sich eine deutliche Tendenz ab: Die Zahl menschlicher Krankheiten steigt. Laut dem am Montag veröffentlichten Bericht von UNEP und ILRI stammen ungefähr 60 Prozent der menschlichen Krankheiten ursprünglich von Tieren. Oft wurden diese Krankheiten auf Nutztiere übertragen, welche die Erreger wiederum an Menschen weitergeben.
Bereits vor Covid-19 starben jährlich zwei Millionen Menschen an einer Infektionskrankheit tierischen Ursprungs. Auch die wirtschaftlichen Folgen sind enorm, so der Bericht: 100 Milliarden Dollar haben neu auftretende Krankheiten zoonotischen Ursprungs allein in den letzten zwei Jahrzehnten gekostet – ohne die Corona-Pandemie mitzurechnen.
Für diese Entwicklung machen die Forschenden eine bestimmte Tierart verantwortlich: Den Homo Sapiens. Zoonosen begleiten die Menschheit zwar seit ihrer Entstehung, doch durch die unersättliche Nachfrage nach Fleisch, damit einhergehende Waldrodungen und wachsende Städte ist der Kontakt zwischen Menschen und Tieren über die Jahrtausende immer enger geworden. Auch die Veränderungen im Zuge des Klimawandels tragen laut den Forschenden entscheidend zum Anstieg der Krankheiten bei.
Wildtierhandel erleichtert die Übertragung
In vielen Regionen der Erde werden Wildtiere gejagt, verkauft und verzehrt. Über diesen Handel mit Wildtieren können sich Zoonosen leicht vom Tier auf den Menschen übertragen – Jägerinnen und Jäger kommen in direkten Kontakt mit den Tieren, aber auch Menschen, die auf Frischemärkten arbeiten, wo die lebenden Tiere vor Ort geschlachtet werden. So sind SARS und SARS-Cov-2 wahrscheinlich durch engen Kontakt mit Fledermäusen und anderen Wildtieren direkt auf Menschen übergesprungen.
Durch den großen internationalen Markt für Wildtiere werden manche Arten immer stärker bejagt, ihr Bestand kann sich nicht erholen und das Überleben der Art ist gefährdet. Mit dem allmählichen Verschwinden solcher Tiere dringen Jägerinnen und Jäger immer tiefer in Ökosysteme vor, mit denen Menschen vorher kaum Kontakt hatten. Auch so erhöht sich das Risiko der Infektion mit Zoonosen.
Wachsender Fleischkonsum fördert Infektionsgefahr
Das Problem liegt jedoch auch vor unserer eigenen Tür: Zoonosen wie BSE, Schweinegrippe und Vogelgrippe stammen aus der Nutztierhaltung. In den vergangenen Jahrzehnten hat sich die globale Fleischindustrie an den wachsenden Hunger nach Fleisch angepasst: Während im Jahr 1970 weltweit Tiere mit einem Gesamtgewicht von über 100 Millionen Tonnen geschlachtet wurden, hat sich die Zahl fünfzig Jahre später mehr als verdreifacht – für 2019 haben die UN knapp 340 Millionen Tonnen Schlachtgewicht ermittelt. Zum Vergleich: Die Bevölkerungszahl hat sich in dieser Zeit etwas mehr als verdoppelt.
Auch die deutsche Fleischindustrie produziert immer mehr Fleisch. Das veranschaulichen die Dimensionen des Exports: 2019 wurden 2,4 Millionen Tonnen Schweinefleisch von Deutschland ins Ausland exportiert, im Jahr 2000 waren es gerade mal 600.000 Tonnen. Das Fleisch aus deutschen Schlachtereien ist dabei teilweise so günstig, dass es die Preise in anderen Ländern drückt.
Die industrielle Intensivtierhaltung arbeitet nach dem Prinzip der höchstmöglichen Rentabilität. In der Regel heißt das: möglichst viele Tiere auf möglichst engem Raum, um möglichst viel Profit zu erwirtschaften. Wenn Tiere Körper an Körper in riesigen Mastanlagen zusammengepfercht werden, ist das nicht nur aus ethischen Gründen bedenklich. Die Massentierhaltung bietet Viren und anderen Erregern gute Bedingungen, um in kurzer Zeit den kompletten Stall zu infizieren.
Massentierhaltung riskiert Entstehung resistenter Keime
Auch wenn die jeweilige Krankheit nicht für Menschen gefährlich sein muss, bringt das hohe Infektionsrisiko in der Massentierhaltung ein weiteres Problem mit sich: Oft werden die Tiere mit Antibiotika behandelt. Durch den Einsatz dieser Medikamente können die Erreger Anpassungen an Antibiotika entwickeln, die daraufhin ihre Wirksamkeit für Mensch und Tier verlieren.
Das Problem ist lange bekannt. Das Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft will mit einer Änderung des Arzneimittelgesetzes die tierische Medikation mit Antibiotika in Zukunft erheblich reduzieren. Schon von 2014 bis 2017 sei die Menge um ein Drittel verringert worden, so das Ministerium. In Zahlen heißt das jedoch, dass immer noch über 200 Tonnen Antibiotika (Stand 2017) in der Tierzucht eingesetzt werden. Darunter auch sogenannte Reserveantibviotika, die nur dann genutzt werden, wenn herkömmliche Antibiotika versagen.
Um einen natürlichen Schutz vor Infektionskrankheiten zu erreichen, ist genetische Vielfalt unerlässlich – doch laut dem Bericht von UNEP und ILRI gibt es durch die Massentierhaltung immer mehr genetisch ähnliche Tiere. Diese sind wegen des kleinen Genpools innerhalb der Zuchten anfälliger für Infektionen. Virologe Alexander Kekulé verdeutlicht das mit der Spanischen Grippe: Als die Krankheit 1918 grassierte, infizierten sich auch Schweine mit dem Virus. Durch die industrielle Zucht der Tiere blieb das Virus in Generationen von Schweinen erhalten und kombinierte sich schließlich mit einem anderen Virus zu einem neuen Erreger, der die Schweinegrippen-Epidemie von 2009 auslöste.
Zoonosen verbreiten sich durch Umweltzerstörung und Klimawandel
Durch Verschmutzung von Luft- und Wasser, massive Zerstörung der Urwälder und intensive Landwirtschaft wird der Lebensraum für viele Wildtiere immer kleiner. Das bringt Tier und Mensch in einigen Regionen enger zusammen und "reißt die natürlichen Puffer, die den Mensch einst vor diesen Erregern geschützt haben, nieder", sagt Doreen Robinson, die Leiterin der Abteilung für Wildtiere bei UNEP. Zur Abholzung der Urwälder trägt auch Europa bei. Denn während der südamerikanische Regenwald zugunsten von Soja-Plantagen immer weiter abgeholzt wird, importiert die EU Millionen Tonnen Soja für die Futtertröge der Massentierhaltung.
Die Forschenden von UNEP und ILRI benennen auch den Klimawandel als Faktor für das zunehmende Risiko für Zoonosen. Steigt die globale Temperatur weiter an, können sich Tierarten wie Fledermäuse und Moskitos, die für Menschen gefährliche Erreger übertragen können, neue Lebensräume erschließen und weiter ausbreiten. Wärmere Temperaturen könnten ideale Bedingungen für Erreger und Überträger schaffen, so der Bericht.
Die Konsumgesellschaften schaffen jedoch nicht nur gute Bedingungen für die Entstehung neuer Zoonosen, sondern auch für deren Verbreitung: Das Bevölkerungswachstum und die damit einhergehende Urbanisierung fördern das Risiko für Epidemien. Je mehr Menschen in einer Gegend leben, desto leichter können sich Krankheiten ausbreiten. Und durch die Mobilität unserer heutigen Welt kann eine lokale Epidemie sehr viel einfacher und schneller zur globalen Pandemie werden, als noch vor wenigen Jahrzehnten.
Wieso der Kapitalismus die Weltgesundheit gefährdet
Gegenwärtig ist die ganze Menschheit mit der Eindämmung der gesundheitlichen und wirtschaftlichen Auswirkungen der Covid-19-Pandemie beschäftigt. Doch Veterinär-Epidemiologin Delia Randolph mahnt, dass es nicht nachhaltig sei, lediglich die Epidemien zu bekämpfen. Das wäre, als würde man bei einem kranken Menschen "nur die Symptome behandeln, und nicht die zugrundeliegenden Ursachen". Die Forschenden betonen, dass diese Probleme angegangen werden müssen:
Wenn wir weiterhin die Tierwelt ausbeuten und unsere Ökosysteme zerstören, können wir in den kommenden Jahren einen stetigen Strom dieser Krankheiten erwarten.
Der Zusammenhang dieser menschengemachten Probleme zeigt, dass sie tief in unserem System verwurzelt sind. Die globale Weltwirtschaft handelt meist ungebremst nach den kapitalistischen Prinzipien von Rentabilität und Profit. "Dieser Wachstumszwang zwingt unser Wirtschaften mit Geld zu einem Zugriff auf die Böden, auf die Meere, auf die Luft“, kritisiert Eske Bockelmann, Philologe, Germanist und Geld-Philosoph aus Chemnitz. Die Ausbeutung von Mensch und Tier, Umweltzerstörungen und Massentierhaltung werden nicht aufhören, solange sie finanziellen Gewinn abwerfen. Sie sorgen einerseits für die vermehrte Entstehung von Zoonosen und treiben gleichzeitig die globale CO2-Bilanz weiter nach oben. Davon wird die über allem schwebende Klimakatastrophe – und mit ihr die Verbreitung von gefährlichen Erregern – noch weiter angeheizt.
Laut Bockelmann helfe nur eine radikale Lösung aus dieser festgefahrenen Situation:
Nur ohne Geld werden diese Zwänge aus der Welt geschafft, die uns unsere Klimaerwärmung einbrocken. Es ist nur die erste Bedingung dafür, dass es insgesamt mit diesem zerstörerischen Umgang mit der Welt anders wird.
Win-win: Investitionen in Gesundheit und Nachhaltigkeit
Wo Bockelmann den Systemwechsel fordert, sieht die Studie praktische Lösungen – zum Beispiel Investitionen in ein öffentliches Gesundheitssystem und in nachhaltige Landwirtschaft. ILRI-Direktor Jimmy Smith verweist auf eine Schätzung, die ein paar Jahre zurückliegt: Ein globales Investment von rund 25 Milliarden Dollar über zehn Jahre würde einen Nutzen in Höhe von 125 Milliarden Dollar bringen.
Diese Investitionen würden sich also nicht nur für Gesundheit und Wohlbefinden von Mensch und Tier auszahlen, sondern auch der Wirtschaft nutzen. In Verbindung mit einem nachhaltigen Umdenken der profit- und wachstumsorientierten Wirtschaft und der konsumorientierten Gesellschaft ergäbe sich so eine Chance, die zukünftigen Krisen des 21. Jahrhunderts zu verhindern. Die aktuelle Coronakrise, so die Forschenden, sei ein Weckruf.
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