Zu viel Druck, zu wenig Auszeit Warum Psyche das neue "Rücken" ist und wie wir uns schützen können
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10. Februar 2020, 17:15 Uhr
Psychische Erkrankungen sind mit zwanzig Prozent derzeit in Deutschland die häufigsten Gründe für eine Krankschreibung. Das ergab unter anderem der aktuelle Gesundheitsreport der Techniker Krankenkasse. Statistiken anderer Kassen bestätigen diesen Trend, der sich seit Jahren abzeichnet. Bereits 2018 hatten psychische Erkrankungen Rückenprobleme, also Erkrankungen des Muskel-Skelettsystems, als Nummer 1 abgelöst. Wo liegen die Ursachen und wie können wir uns schützen?
Seit 1997 hat sich die Anzahl der Krankschreibungen aufgrund psychischer Erkrankungen verdreifacht. Zum einen, weil Betroffene inzwischen offener mit dem Verdacht umgehen und Ärzte in dieser Hinsicht sensibler geworden sind. Doch auch die Zahl der Erkrankungen an sich ist gestiegen. Die häufigsten Diagnosen sind Depression und emotionale Erschöpfung, auch bekannt als Burnout. Eine Ursache für diese Tendenz sieht Prof. Dr. Hannes Zacher, Arbeits- und Organisationspsychologe an der Universität Leipzig, vor allem darin, wie wir heute arbeiten.
Noch bis in die 1980er-Jahre hinein waren die Hierarchien in den Unternehmen steil. Damit hatten Vorgesetzte zwar mehr Entscheidungsgewalt, nahmen ihren Mitarbeitern aber auch mehr Verantwortung ab und entlasteten sie damit.
Mehr Mitsprache - mehr Verantwortung - mehr Druck
Was in privaten Unternehmen schon lange gang und gäbe ist, hat in den vergangenen Jahren auch in der öffentlichen Verwaltung und im Gesundheitswesen Einzug gehalten. Unternehmerischer Druck überfordert die Mitarbeiter dauerhaft. Gerade in diesen beiden Bereichen fallen überproportional viele Fehltage aufgrund psychischer Erkrankungen an.
Spagat zwischen Beruf und Familie
Die Erwartungen im Beruf zu erfüllen und gleichzeitig für die Familie da zu sein, stellt viele vor eine große Herausforderung. Zwar kommen einige Unternehmen ihrem Personal entgegen, bieten Teilzeitmodelle an oder sogenannte Homecare-Eldercare-Services, durch die sie bei der Vermittlung und Finanzierung von Pflege- und Betreuungslösungen helfen. Aber das ist immer noch die Ausnahme. In Anbetracht der demografischen Entwicklung ein permanentes Problem.
Durch Yoga und Achtsamkeit aus der Misere?
Einige Unternehmen beginnen umzudenken, was die Gesundheit ihrer Mitarbeiter betrifft. Der Tatsache geschuldet, dass Personal immer häufiger aufgrund psychischer Erkrankungen ausfällt, reagieren Arbeitgeber teilweise mit Angeboten wie Ernährungskursen, Rückenschule, Yoga und Achtsamkeitsseminaren. Für Professor Dr. Hannes Zacher ist das jedoch nur ein Tropfen auf den heißen Stein und keinesfalls die Lösung des Problems: Die Verantwortung für die Gesundheit werde damit an die Mitarbeiter abgegeben. Stattdessen seien tiefergreifende Veränderungen notwendig.
Anforderungen, die zu bewältigen sind. Ziele, die erreichbar sind. Viel Feedback und Freiräume, sich die Arbeit selbst zu gestalten, vielfältige Aufgaben - darauf kommt es an.
Wer ständig mehr Kraft investieren muss, als er zur Verfügung hat, erreicht irgendwann ein Defizit. Emotionale Erschöpfung heißt dann die Diagnose. Betroffene fühlen sich ausgelaugt, antriebslos, mutlos, ausgebrannt - und suchen bestenfalls einen Arzt auf. Damit es nicht so weit kommt, ist es wichtig, eben immer auch wieder Kraft zu tanken.
Pausen einlegen und bewusst abschalten
Wer einen Beruf hat, der ihn fordert, und dazu noch private Verpflichtungen, zum Beispiel einen Angehörigen zu pflegen, muss besonders darauf achten, dass er auch Gelegenheiten hat, um wieder ausreichend Kraft zu schöpfen.
Pausen sind ganz entscheidend. Kleine Pausen zwischendurch, genauso wie größere Pausen. Mindestens elf Stunden zwischen zwei Arbeitstagen, ein vollständiges Wochenende, regelmäßig Urlaub. In diesen Zeiten sollte das Diensthandy wirklich ausbleiben und man sollte sich ganz anderen Themen widmen.
Vor allem im Schichtbetrieb und in der Gastronomie werde immer wieder versucht, diese auch gesetzlich geregelten Auszeiten zu umgehen, kritisiert Hannes Zacher. Besonders in der Vermischung von Arbeitszeit und Freizeit sieht er ein Risiko für starke Erschöpfung bis hin zur psychischen Erkrankung. Wer Arbeit mit nach Hause nehme und auch am Feierabend, am Wochenende oder im Urlaub erreichbar sei, könne nicht ausreichend abschalten und begebe sich damit in einen Teufelskreis:
Wer sich die entsprechenden Auszeiten nicht nimmt und weiter arbeitet, weil er nicht alles geschafft hat, erscheint am nächsten Tag unausgeruht im Büro. Demzufolge ist er nicht so leistungsfähig und wird möglicherweise wieder nicht alles schaffen.
Gemeinsam mit Kollegen hat Prof. Dr. Hannes Zacher im Rahmen einer Studie auch nachgewiesen, dass zu viel Eigeninitiative im Beruf schneller zur Erschöpfung führen kann. Eigeninitiative eröffnet zwar mehr Handlungsspielräume und kann zu höherer Leistung führen. Aber sie ist auch kraftraubend und kann die Stimmung trüben, vor allem wenn die Unterstützung durch das Unternehmen gering ist.
Trendwende nicht in Sicht
Auch wenn sich einige Unternehmen bemühen, die Arbeitsbedingungen zu verbessern, wird das noch lange nicht ausreichen, die Zahl der Krankschreibungen aufgrund psychischer Erkrankungen deutlich zu reduzieren. Noch ist zu viel Arbeit, Verantwortung und Druck auf zu wenige Schultern verteilt. Hinzu kommt, dass sich künftig immer mehr Arbeitnehmer um ihre pflegebedürftigen Eltern kümmern werden müssen.
Kinder großzuziehen, das kann man planen. Und es wird irgendwann auch einfacher. Wann die eigenen Eltern einmal Hilfe brauchen, weiß man vorher nicht genau. Und deren Pflege wird auch nicht einfacher, sondern anspruchsvoller.
Zu wenige Therapieangebote
Auf einen Termin bei einem Psychotherapeuten müssen Betroffene bis zu fünf Monate warten. Sie können über diesen Zeitraum nicht behandelt werden, ihre Probleme werden größer und die Arbeitsunfähigkeit dauert länger an. Das gilt übrigens für alle psychischen Erkrankungen, die zu einer Krankschreibung führen. Nicht nur für die, die auf die permanente Überforderung auf Arbeit zurückzuführen sind, sondern auch für alle anderen. Für Erkrankungen, die biologische Ursachen haben, wie zum Beispiel Depressionen, oder die durch traumatische Erlebnisse ausgelöst werden.
Ärzte fordern Früherkennung und Vorbeugung
Wird eine psychische Erkrankung diagnostiziert, steht meist ein lang andauernder Therapie- und Genesungsprozess an. Er dauert oft Wochen, sogar Monate. Danach kehren Betroffen nur langsam in den Beruf zurück - stundenweise. Damit es möglichst erst gar nicht so weit kommt, fordert zum Beispiel die Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde mehr Einsatz für Früherkennung und Prävention, denn die meisten psychischen Erkrankungen manifestierten sich bereits in den ersten Lebensjahrzehnten.
Jugendzeit ist Hochzeit für Ersterkrankungen
Maria Koschig, Psychologin am Institut für Sozialmedizin, Arbeitsmedizin und Public Health der Uni Leipzig, hat drei Projekte des Vereins "Irrsinnig Menschlich e.V." wissenschaftlich begleitet, die bereits Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen helfen sollen, sich dem Thema psychische Erkrankungen zu öffnen.
Ziel dieser Projekte war es, das Hilfesuchverhalten zu stärken. Mit den Kindern und Jugendlichen eine gemeinsame Sprache zu finden, damit sie wissen, wie sie sich mitteilen können, wenn sie zum Beispiel dauerhaft traurig sind. Ihnen mit auf den Weg zu geben, an wen sie sich wenden können - und dass es hilft, darüber zu sprechen.
Das Programm "Verrückt? Na und!" für Schüler ab der 8. Klasse ist inzwischen deutschlandweit unterwegs. Experten und Menschen, die selbst eine psychische Erkrankung haben oder hatten, nähern sich dem Thema gemeinsam mit den Schülern auf spielerische Art und Weise.
Wir öffnen Herzen, geben Hoffnung und machen Krisen besprechbar.
Konkrekte Hilfe zum richtigen Zeitpunkt: Gerade in diesem Alter beginnen psychische Erkrankungen wie Depressionen oder Ängste, Süchte und selbstschädigendes Verhalten so häufig wie in keinem anderen Lebensabschnitt. Das trifft auch auf die Zeit zu, in der Jugendliche das Elternhaus verlassen und zum Beispiel ein Studium beginnen. Raus aus dem warmen Nest und dem strukturierten Schulalltag - hinein in die Selbstständigkeit, die man sich selbst organisieren muss. Deshalb kommt "Irren ist Menschlich e.V." auch an Universitäten.
Projekte beginnen bereits in der Grundschule
Relativ jung sind die Bemühungen des Vereins, auch mit Grundschulkindern der Klassen 3 und 4 ins Gespräch zu kommen. Dazu gab es ein Pilotprojekt, das inzwischen abgeschlossen ist. Auch das wurde von Maria Koschig und ihren Kollegen untersucht - im Hinblick auf die Machbarkeit. Schließlich braucht man immer die Unterstützung der Lehrer und der Eltern. Maria Koschigs Fazit zu allen drei Projekten:
Diese Präventionsprojekte sind vielversprechend. Natürlich können wir heute noch nicht sagen, ob sie tatsächlich dazu beitragen werden, psychische Erkrankungen früher zu erkennen und damit besser behandeln zu können. Dazu bräuchten wir Langzeitbeobachtungen. Aber es ist ein Anfang.
Die Erfolgsaussichten solcher Projekte würden steigen, wenn sie flächendeckend und kontinuierlich angeboten würden, so Maria Koschig - damit Kinder und Jugendliche mit dem Thema wirklich vertraut würden. Doch dafür eine Finanzierung auf die Beine zu stellen, ist problematisch - obwohl so möglicherweise langfristig Mittel an andere Stelle gespart würden. Denn wenn psychische Erkrankungen frühzeitig erkannt und behandelt werden, verkürzt das - auf lange Sicht gesehen - auch die Anzahl und Dauer von Krankschreibungen wegen psychischer Erkrankungen.
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