Covid-19 Corona: Kollektiver Schutz durch Herdenimmunität schwer erreichbar
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24. Januar 2022, 11:20 Uhr
Sind fast alle Menschen immun gegen Sars-CoV-2, wären auch die geschützt, die keinen eigenen Immunschutz aufbauen können. Die Pandemie zeigt aber immer wieder, dass ein kollektiver Schutz nur schwer erreichbar ist.
Wann und wie geht die Pandemie zu Ende? Werden wir wieder ohne Masken einkaufen und reisen können, ohne Bedenken volle Fußballstadien, Konzerte und Diskotheken besuchen können? Über zwei Jahre nach dem Auftauchen des neuen Sars-Coronavirus-2 sehnt sich die Menschheit nach einer Rückkehr der vor-pandemischen Normalität. Nur wie können wir wieder dorthin gelangen?
Herdenimmunität nicht dauerhaft erreichbar
Im Frühjahr 2020 war vielfach die Rede davon, dass wir "Herdenimmunität" erreichen müssen. Mit der Idee gemeint war ein Zustand, in dem so viele Menschen durch Impfung oder durchgemachte Infektionen gegen das Virus immun geworden sind, dass sie sich nicht mehr anstecken können. Dann würden dem Virus die Wirte ausgehen. Wenn es nicht mehr von Mensch zu Mensch springen kann, kann es auch diejenigen nicht mehr erreichen, die keinen Immunschutz aufbauen konnten, die Hochbetagten etwa oder die Menschen, die Medikamente nehmen müssen, die das Immunsystem schwächen.
Rund zwei Jahre später hat sich unter vielen Forschern Ernüchterung breitgemacht. Richard Neher, der an der Universität Basel die Evolution von Viren erforscht, möchte den Begriff Herdenimmunität nicht mehr verwenden. "Herdenimmunität impliziert den Schutz weniger Nicht-immuner dadurch, dass Immunität der Masse die Zirkulation des Erregers unterbindet. Dies ist bei Sars-CoV-2 wohl nicht dauerhaft erreichbar", schreibt er auf Anfrage von MDR WISSEN.
Das Robert Koch-Institut wiederum weist in einem FAQ darauf hin, dass es darauf ankomme, was man unter Herdenschutz verstehe. Gehe es um den Schutz verwundbarer Gruppen, gebe es durchaus Erfolge. "In Israel konnte beobachtet werden, dass sich mit jedem Anstieg der Covid-19-Impfquote um 20 Prozent in der Bevölkerung ab 18 Jahre die Wahrscheinlichkeit einer Covid-19-Diagnostik unter ungeimpften Kindern halbierte." Der Gemeinschaftsschutz sei also teilweise bereits da. "Herdenimmunität wird jedoch häufig auch gleichgesetzt mit einer Impfquoten-Schwelle, ab der die Transmission so weit reduziert wird, dass die Virustransmission nicht nur reduziert, sondern komplett zum Erliegen kommt und der Erreger in einer Bevölkerung eliminiert wird." Von diesem Zustand ist die Menschheit leider nach wie vor weit entfernt.
Neue Varianten: Infektionen in Teil-immunen Bevölkerungen
Das Problem hat viele Ursachen: Einerseits sind die Impfkampagnen in einigen Ländern Europas und Regionen der USA ins Stocken geraten, weil sich viele zunächst nicht impfen lassen wollten. So aber fanden die Viren stets neue Wirte, die es weiter vermehrt haben. Vor allem aber weil die Impfstoffe immer noch nicht gleichmäßig auf der Welt verteilt werden, gibt es viele Gegenden, in denen nur ein Teil der Menschen Immunität aufgebaut hat. Solche Regionen können Brutstätten für neue Virusmutationen werden.
Im ungeschützten Teil der Bevölkerung vermehrt sich das Virus und mutiert dabei laufend. Der immune Teil wiederum wirkt wie ein Sieb, das nur solche Virusvarianten passieren lässt, die dem Immunschutz teilweise entgehen können. Unter solchen Bedingungen könnten Varianten wie Delta oder Omikron entstanden sein, die nun weltweit die bereits aufgebaute Immunität wieder umgehen können.
Situation stabil, wenn Krankenhäuser und Energieversorger nicht mehr bedroht
Für viele Forscher lautet das realistische Ziel in der Pandemie gerade das Erreichen eines stabilen Zustands. Oft wird dieser auch mit dem Begriff "Endemie" umschrieben, wobei das nicht ganz korrekt ist. Endemie bezeichnet eine lokal begrenzte Zirkulation eines Erregers. Sars-CoV-2 wird aber wahrscheinlich weiter entlang der menschlichen Transportwege um den Globus reisen.
Mirko Trilling, Virologe am Universitätsklinikum Essen, ist allerdings optimistisch, dass die Menschheit sich an das Sars-Coronavirus-2 anpassen und das Virus irgendwann immunologisch kontrollieren wird, so wie es bereits bei Viren in der Vergangenheit passiert ist, die von Tieren auf Menschen übersprangen. "Diese Entwicklung wird sicher auch dieses Mal ablaufen, insbesondere da wir heutzutage über Werkzeuge verfügen, die uns früher fehlten, beispielsweise neue Therapeutika, verlässliche Diagnostik und neue Impfstofftypen. Die Frage ist nur, wann diese Kontrolle etabliert sein wird", sagt er.
Eine tolerierbare Situation wäre aus Trillings Sicht erreicht, wenn die Dynamik neuer Ansteckungen soweit abgenommen hat, dass Krankenhäuser nicht mehr von Überlastung durch zu viele neue Patienten bedroht sind und dass Infrastrukturen wie Rettungsdienste, Feuerwehr, Polizei oder Energieversorger nicht befürchten müssen, durch einen plötzlich unkontrolliert in die Höhe schnellenden Krankenstand ihrer Mitarbeiter arbeitsunfähig zu werden. Erst viel später folge dann eine Situation, in der das Virus im Alltag kaum noch wahrnehmbar wäre, weil seine Zirkulation weit genug abgesunken sei.
Wie gefährlich werden künftige Infektionswellen sein?
Richard Neher glaubt, dass das Virus künftig auch wie die Grippe in jährlichen Wellen zurückkehrt. "Wie heftig diese Wellen werden und wie viele Menschen schwer erkranken werden, lässt sich nicht vorhersagen", sagt er im Januar 2022. Immerhin sei es durch Impfung bereits gelungen, vielen Menschen eine Grundimmunisierung zu verschaffen, die sie vor schwerer Erkrankung schütze.
Für Mirko Trilling wiederum hängt die Schwere kommender Infektionswellen davon ab, "wie gut wir es schaffen, das Virus an der Anpassung an unser Immunsystem und unsere Wirk- und Impfstoffe zu hindern. Und das hängt wiederum davon ab, inwiefern wir es durch Maßnahmen und Impfungen schaffen, weltweit die Zahl der akuten Infektionen einzuschränken."
Omikrons Evolutionssprung: Bei RNA-Viren bisher kaum beobachtet
Und das Virus? Wie viel Spielraum hat es noch, sich in weitere Varianten zu mutieren, die einer bereits aufgebauten Immunantwort entgehen können? Mirko Trilling ist vorsichtig. "Ich würde nicht sagen, dass Omikron bereits soweit mutiert ist, dass das Virus keinen Spielraum mehr hat, sich weiter zu verändern, ohne seine Funktion zu verlieren. Es gibt ja sehr viele Möglichkeiten, wie Viren das Immunsystem austricksen können." Das Virus könne andere Rezeptoren und damit andere Wege finden, in Zellen zu gelangen oder es könnte seine Strukturen mit Zuckermolekülen vor Antikörpern tarnen.
Ob Sars-CoV-2 nochmal solch ein Sprung gelingt wie mit Omikron halten Forscher aber für fraglich. Eine solch sprunghafte Evolution sei bei anderen RNA-Viren (zu denen Sars-CoV-2 zählt) nur sehr selten beobachtet worden. Wahrscheinlich sei laut Trilling vor allem eine schrittweise Anpassung der Viren, "wie wir es von Grippe oder den anderen Coronaviren kennen". Zukünftige Infektionswellen sollten dann aber flacher ausfallen.
In Fußballstadien wird es noch viele Jahre ein Ansteckungsrisiko geben
Was bedeutet das für die sogenannten vulnerablen Gruppen, die Hochbetagten und Immunsupprimierten, für die eine Coronainfektion trotz Impfung lebensbedrohlich werden kann? Müssen sie noch auf Jahre vor dem Virus Angst haben? Es kommt darauf an, wie groß die Gruppen seien, in denen man sich bewege, glaubt der Virologe Trilling. Beschränke man sich auf wenige Kontakte zu Geboosterten oder genesenen Personen, könne man bereits heute das Risiko minimieren.
Sei man dagegen auf Straßenfesten oder in Fußballstadien unterwegs, werde es auch in Zukunft nicht ausbleiben, dass man auf Menschen treffe, "die keinen ausreichenden Immunschutz gegen Sars-CoV-2 haben und gerade Virus abgeben. Das Virus hat leider auch zusätzliche Reservoire in Tieren. Junge Kinder werden wegen der fehlenden Immunität auch grundsätzlich infizierbar bleiben, genau wie Menschen, deren Immunsystem durch Krankheiten oder Medikamente eingeschränkt ist. Dort wird sich das Virus leider lange verstecken können."
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