Deutschland-Barometer Depression Corona-Maßnahmen: Auch Psychologen und Hausärzte müssen gehört werden
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11. November 2020, 12:00 Uhr
Millionen Menschen leben mit Depressionen. Eine aktuelle Umfrage zeigt, dass es noch viel Aufklärung braucht, bis sie nicht mehr als Reaktion auf Schicksalsschläge gilt. Die Umfrage belegt auch, welche Probleme der Shutdown im Frühjahr Menschen mit Depressionen brachte. Professor Ulrich Hegerl von der Stiftung Deutsche Depressionshilfe fordert deshalb, die Expertise um die Corona-Maßnahmen auf breitere Füße zu stellen, etwa mit Psychologen oder Hausärzte.
Jeder zweite Mensch, der mit Depressionen lebt, hat in diesem Jahr massive Einschränkungen in der Behandlung seiner Erkrankung erlebt. Das ist eines der Ergebnisse einer Umfrage zu Einstellungen und Aussagen zu Depressionen, die die Stiftung Deutsche Depressionshilfe jetzt veröffentlicht hat.
Die Ergebnisse zeigen aber auch, dass noch viel Aufklärung über die Krankheit gebraucht wird. Auch wenn sich knapp die Hälfte aller Befragten über Depression "gut informiert fühlt" - und zwar über alle befragten Altersgruppen hinweg. Mehr als 90 Prozent der Befragten halten nämlich Depression immer noch für eine Reaktion auf schwierige Lebensumstände, Ärger mit Arbeitskollegen, Einsamkeit oder Schicksalsschläge. Depression im Alter wird so bei Senioren übersehen, als Verbitterung des Alters abgetan. Dazu passt auch, dass 83 Prozent der Befragten Depression für ein Phänomen des mittleren Lebensalters halten. Dem widerspricht Professor Hegerl, Vorstandsvorsitzender der Stiftung Deutsche Depressionshilfe: "Depression kann jeden treffen."
Auch die besondere Situation in diesem Jahr mit den Einschränkungen zur Eindämmung der Corona-Infektionen spiegeln die Umfrageergebnisse wider. Die Angst vor einer Ansteckung war bei depressiv Erkrankten mit 43 Prozent fast gleich hoch wie in der Allgemeinbevölkerung (42 Prozent). Allerdings erlebten 74 Prozent der Menschen mit Depression den Lockdown als deutlich belastender als die Allgemeinheit, in der 59 Prozent diese Zeit als belastend empfand.
Schlaf als Hilfsmittel stark verkannt
Diese Belastung wirkte sich auch auf den Alltag von Menschen mit Depression aus - 48 Prozent blieben auch tagsüber im Bett - in der Bevölkerung ohne diese Krankheit waren es nur 21 Prozent. Und das ist fatal, jedenfalls aus medizinischer Sicht, wie Professor Ulrich Hegerl ausführt: "Lange Schlaf- und lange Bettzeiten wirken depressionsverstärkend." Ein Fakt, der weniger bekannt scheint. Jedenfalls, wenn man sich die Antworten im Deutschland-Barometer auf die Frage anschaut, welche Mittel gegen Depression helfen: 64 Prozent der Befragten gaben an, "ausruhen und viel schlafen" helfe bei Depressionen.
Dabei sei das Gegenteil hilfreich, sagt Experte Hegerl: "Schlafentzug ist in Kliniken ein angewandtes Behandlungsverfahren", verdeutlicht der Spezialist im Gespräch mit MDR Wissen den Kreislauf, in den Menschen mit Depression durch den coronabedingten Verlust der Tagesstruktur leicht rutschen. Zum einen seien Tagesschwankungen typisch für Depressionen:
Dazu kommt noch dieser Effekt: Wenn sich Menschen wegen der Corona-Maßnahmen weniger bewegen, keinen Sport machen, treibt das den Negativkreislauf depressiv Erkrankter weiter an. "Körperliche Betätigung ist auch etwas, was wahrscheinlich zumindest unterstützend antidepressiv wirkt", sagt Hegerl.
Fokus auf Infektionsgeschehen verursacht an anderer Stelle Leid
Daher sieht er die Corona-Maßnahmen an dieser Stelle kritisch, auch wenn die Auswirkungen auf Menschen mit Depressionen zum Beispiel nicht eins zu eins sichtbar sind. Schwer in Zahlen zu fassen sei, wie es sich auswirkt, wenn Behandlungstermine oder stationäre Behandlungen verschoben werden. Immerhin 40 Prozent der Erkrankten waren Hegerl zufolge davon betroffen. Den Psychologen ärgert das. "Mediziner dürfen nicht nur das Infektionsgeschehen im Blick haben, sondern auch, was man an Leid und Tod verursacht", sagt er und zählt Begleiterscheinungen der Corona-Maßnahmen auf wie häusliche Gewalt, mehr Arbeitslosigkeit und:
Wir haben sicherlich eine vermehrte Dynamik in der Suchtentwicklung. Die Menschen nehmen mehr Schlafmittel, konsumieren mehr Alkohol. Vielleicht gibt es auch mehr Drogenabstürze. Alles Folgen, die man im Blick haben muss. Eine schwierige Diskussion. Aber die zu vermeiden, ist komplett unverantwortlich.
Es braucht mehr als Wissen - nicht nur aus Virologie
Für den Psychologen gehören bei den Beratungen über Vor- und Nachteile von Einschränkungsmaßnahmen mehr Stimmen aus der Medizin an den Beratungstisch als nur die Virologie. Personal aus Psychologie, Public Health, Hausarztpraxen. "Durch die Maßnahmen müssen Millionen Menschen mit einer zum Teil lebensbedrohlichen Erkrankung eine Reduktion der Versorgungsqualität in Kauf nehmen", sagt Hegerl:
Das müsste uns größte Sorgen machen, denn Depressionen gehen mit dem Verlust von zehn Lebensjahren einher.
Im Alter ist Depression die häufigste Ursache für Suizide. Die Raten bei Menschen über 80 Jahren sind dem Statistischen Bundesamt zufolge schon jetzt mehr als fünf mal so hoch wie bei Menschen zwischen 20 und 30 Jahren. Das Amt geht von stark steigenden Zahlen aus und schätzt die Suizidrate bei über 65-Jährigen von derzeit 21 Prozent auf 30 Prozent im Jahr 2060.
Ohne offene Arztpraxis kann Depression nicht diagnostiziert werden
Das sind die Stellen, an denen Medizinpersonal direkt mit den Millionen Depressionskranken zu tun hat. Ärztinnen und Ärzte, die unterscheiden können, handelt es sich um eine Missstimmung, ist jemand "nur gestresst" von Corona, schwierigen Lebensumständen oder liegt eine Krankheit vor, eine Depression. "Menschen mit Depressionen geben immer sich selbst Schuld, leben mit permanenten Schuldgefühlen", beschreibt Hegerl deren Verhalten. Da höre man Sätze wie "Ich mache alles falsch", "Ich bin eine Belastung für die Familie." Wer depressiv sei, fühle sich permanent erschöpft:
Die sind nicht müde im Sinne von schläfrig. Die schlafen nicht leicht ein, sondern sind erschöpft von ihrer inneren Daueranspannung. Die haben permanent das Gefühl, wie vor einer Prüfung zu sein. Wenn man sie fragt, berichten sie davon, dass sie keine Gefühle mehr wahrnehmen können, auch keine Trauer. Sie fühlen sich wie innerlich versteinert.
Das sind tiefgreifende Veränderungen der Persönlichkeit, sagt Hegerl. Wenn man sowas in sich verspürt, sollte man auch in dieser Krisenzeit zum Arzt gehen. Die Anlaufstellen sind da. Allerdings sei dann auch Offenheit wichtig, dass man nicht nur über Ohrgeräusche oder Rückenschmerzen spreche, mahnt Hegerl.
Man muss auch über seine psychischen Krankheitszeichen sprechen, Verzweiflung, Hoffnungslosigkeit, Suizidgedanken. Dann kann der Arzt das erkennen.
Rückblick: Krisenmanagement im Frühjahr
Rückblickend auf das Frühjahr 2020 sagt Hegerl, das Gesundheitssystem, die Menschen, auch die Politik hätten in vielen Bereichen gut auf die Krisensituation reagiert und erstaunlich rasch, meint der Psychologe. Im Bereich Depression habe sich das gezeigt. So wurden digitale Behandlungsprogramme von 14 Prozent der Depressionskranken angenommen und von ihnen zu 82 Prozent als hilfreich empfunden. Beim ersten Deutschland-Barometer Depression 2017 sahen 40 Prozent der depressiv Erkrankten Online-Programme als hilfreiche Unterstützung an, jetzt sind es 55 Prozent.
Online-Therapie kann funktionieren, wenn sich Behandelnde und Patienten schon vorher kennen und eine Vertrauensbasis aufgebaut hätten, sagt Hegerl. Bezogen auf den neuen Teillockdown und wie er sich auf Menschen mit Depression auswirkt, hofft Hegerl, dass die Menschen dieses Mal tatsächlich in die Ambulanzen gehen. Im Frühsommer hatten zeitweise 13 Prozent der Patienten von sich aus Termine abgesagt - aus Angst vor Ansteckung.
Was ist das Deutschland-Barometer Depression?
Inzwischen zum 4. Mal wurden Erfahrungen und Einstellungen zu Depression in der Bevölkerung in einer repräsentativen Studie erfragt. Eingeflossen sind die Aussagen von 5.000 Personen zwischen 18 und 69 Jahren, sowie 350 zwischen 70 und 79 Jahren. Befragungszeitraum war Juni /Juli 2020. Erfragt wurden Wissen und Meinungen über die Krankheit.
Sie haben Selbsttötungsgedanken oder eine persönliche Krise? Die Telefonseelsorge hilft Ihnen rund um die Uhr: 0800 1110111 und 0800 1110222. Der Anruf ist anonym und taucht nicht im Einzelverbindungsnachweis auf. Auf der Webseite finden Sie weitere Hilfsangebote. Das Info-Telefon Depression erreichen Sie unter 0800 / 33 44 533, Mo, Di, Do: 13:00 – 17:00 Uhr und Mi, Fr: 08:30 – 12:30 Uhr.
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