Medizin Hoffnung bei tödlichem Krebs: Antidepressiva können Tumore hemmen
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06. Oktober 2021, 12:04 Uhr
Kennen Sie Prozac? Das ist ein Antidepressivum, das vor allem durch US-amerikanische Filme und Fernsehserien weltweit bekannt geworden ist. Auch in Deutschland ist es unter anderem Namen seit Jahren zugelassen. Antidepressiva können künftig auch bei der Behandlung von Krebskranken helfen: Forschende aus Zürich haben jetzt herausgefunden, dass "Prozac" das Wachstum von Bauchspeicheldrüsen- und Darmkrebs hemmen kann.
Im Volksmund nennt man Serotonin oft Glückshormon. Es spielt eine wichtige Rolle in unserem Gehirn, wirkt sich positiv auf unsere Stimmung aus und mindert Angst und Aggressivität. Fehlt der Botenstoff, kann eine Depression die Folge sein. Für unser Gehirn ist ein hoher Serotonin-Spiegel also gut, doch bei Krebs ist genau das Gegenteil der Fall.
95 Prozent des Serotonins außerhalb des Nervensystems
"Denn Serotonin fördert das Tumorwachstum", erklärt Marcel Schneider vom Universitätsspital Zürich. Es stecke nämlich nicht nur in unserem Kopf. "Der Großteil des Moleküls befindet sich nicht im Gehirn, sondern ist außerhalb des zentralen Nervensystems – peripher - in den Blutplättchen gespeichert", erläutert der Mediziner. Dieses Serotonin habe Einfluss auf Wundheilung sowie auf das Wachstum als auch auf die Entstehung von Krebs.
Ohne Serotonin erkennt das Immunsystem die Krebszellen wieder
"Dass Serotonin auch an der Krebsentstehung beteiligt ist, war bereits bekannt", sagt Pierre-Alain Clavien, Direktor der Klinik für Viszeral- und Transplantationschirurgie in Zürich. Krebszellen nutzen das Hormon, um die Produktion eines zentralen Moleküls der Krebsentwicklung anzukurbeln. Das sogenannte PD-L1 binde die Killerzellen des Immunsystems, die normalerweise Tumore erkennen und eliminieren, und setze sie schachmatt. Die Krebszellen entgehen so der Zerstörung durch das Immunsystem.
Weniger Serotonin, mehr Killerzellen?
Die Schweizer wollten wissen, wie Serotonin die Wirkung des Immunsystems auf Tumore genau beeinflusst. Dazu untersuchten die Forschenden im Labor Mäuse mit Bauchspeicheldrüsen- und Dickdarm-Krebs mit einem doppelten Behandlungsansatz. Sie kombinierten Medikamente, die peripheres Serotonin reduzieren, mit einer Immuntherapie, die die Aktivität der Killer-T-Zellen steigert.
Wir haben gesehen, dass bei ihnen der Tumor langsamer wächst und mehr CD18 - also mehr Killerzellen drin hat. Die Resultate waren eindrücklich: Das Krebswachstum wurde in den Tiermodellen langfristig unterbunden, und bei einigen Tieren verschwand der Tumor komplett.
Antidepressivum vermindert Aufnahme von Serotonin durch Blutplättchen
Das Serotonin blockiert die Killerzellen, erläutert Schneider. Daraus schloss das Forschungsteam, dass Antidepressiva mit einem speziellen Wirkmechanismus diese Blockade durchbrechen könnten. Denn sie sorgen dafür, dass der Serotonin-Spiegel im Gehirn zwar ansteigt, aber die Blutplättchen den Botenstoff nicht so gut aufnehmen.
Durch weniger Serotonin ist Weg für Killerzellen frei
"Es ist der gleiche Rezeptor im Hirn. Mit dem Medikament ist mehr Serotonin im Gehirn verfügbar, doch gleichzeitig können die Blutplättchen weniger aufnehmen", erklärte Forscher Schneider. Damit sinke die Serotonin-Konzentration in den Blutplättchen und mache so den Weg frei für die Killerzellen, die sich vermehrt der Bekämpfung des Krebses widmen können. Die Folge: Das Tumorwachstum wird gebremst.
Manche Tumore verschwanden komplett
Das Forschungsteam hat die Antidepressiva in Kombination mit einer Immuntherapie an Mäusen getestet, die die Aktivität der Killerzellen noch weiter fördert. Das Ergebnis klingt vielversprechend: Das Krebswachstum wurde langfristig gestoppt, bei einigen Tieren verschwand der Tumor sogar komplett. Doch Schneider warnt vor zu viel Euphorie:
Serotonin, das von Plättchen ausgeschüttet wird, ist eine von tausenden Substanzen und Einflussfaktoren, die ein Tumorwachstum mit beeinflussen. Und allein durch Serotonin-Erniedrigung und mit der Einnahme dieser Antidepressiva auf eine Heilung von Krebs zu hoffen, das wäre wahrscheinlich illusorisch. Das wären falsche Versprechungen.
Dass einige Antidepressiva die Serotonin-Ausschüttung der Blutplättchen hemmen und bestimmte Tumore dadurch offenbar nicht weiterwachsen, sei laut Schneider nur ein weiteres Puzzlestück in der Behandlung der komplexen Krankheit. Das Schweizer Forschungsteam will die Medikamente nun in einer klinischen Studie am Menschen testen. Das Gute daran: Da die Antidepressiva schon zugelassen und die Wirkungen gut bekannt sind, geht das viel schneller als bei neuen Wirkstoffen. Dennoch rechnet Mediziner Schneider noch mit ein paar Jahren Forschungsarbeit.
Bearbeitung: Katrin Tominski
Originalpublikation
https://www.science.org/doi/10.1126/scitranslmed.abc8188