MDR KLIMA-UPDATE | 6. Oktober 2023 Eine Jahreszeit fliegt raus. Sie ahnen ja nicht welche!
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Ausgabe #109 vom Freitag, 6. Oktober 2023
06. Oktober 2023, 11:00 Uhr
Was bleibt noch von der bunten Jahreszeit, wenn der Sommer länger und länger wird, der September zum Hochsommer und selbst im Oktober noch Badewetter herrscht? Verschwindet der Herbst?
Guten Tag zusammen.
Wissen Sie, ich habe meine stille Freude an mühselig selbst zusammengezimmerten Kastanientierchen. Mit Eichel-Öhrchen. Auf einem rot-gelben Ahornblatt sitzend. Die Wohnstube schmückend. Will sagen: Der Herbst ist nicht nur dank mehr oder weniger talentiert geschnitzter Kürbisgesichter die dekorativste Jahreszeit. Ich bin davon überzeugt, dass im Grunde jeder Mensch Kastanientierchen mag, wenn man es denn nur zulässt. Und wenn es das Klima nur zulässt. Wäre doch zu schade, käme er uns abhanden, der Herbst.
Ein Gefühl, das sich in diesen Wochen breit macht und nicht nur vom wärmsten September seit Beginn der Wetteraufzeichnungen, sondern auch von Badewetter bis in den Oktober getrieben wird. Und ein Gefühl, das sagt: Der Herbst fällt aus, denn nach einem milden Oktober kommt schon bald der kalte Winter. Nur helfen uns Gefühle an dieser Stelle nicht weiter, also gehen wir der Sache auf den Grund: Was bleibt vom Herbst? Und was heißt das für Kastanien- und andere Tierchen? Diese Woche im Klima-Update.
#️⃣ Zahl der Woche:
3
… Grad oder mehr lag die September-Temperatur in allen Bundesländern in diesem Jahr über dem neuen Referenzzeitraum 1991 bis 2020. Das macht ihn zum wärmsten seit Beginn der Wetteraufzeichnungen. Die größte mitteldeutsche Abweichung gab es mit 3,62 Grad in Sachsen. Die Durchschnittstemperatur für Deutschland lag damit bei Hochsommer-üblichen 17,29 Grad, statt der 13,84 Grad, die dem "neuen Normal" entsprechen. Der heiße Spätsommer und Frühherbst passen ins Bild der vergangenen Jahre, wie spannende Grafiken bei MDR WISSEN zeigen.
Der Herbst beginnt jetzt früher. Häh?
Natürlich darf ein September auch mal etwas wärmer ausfallen als es in mitteleuropäischen Breiten der Wetteranstand verlangt – große Teile des Monats fallen schließlich in den kalendarischen Spätsommer. In den vergangenen zwanzig Jahren betrifft das aber den überwiegenden Anteil. Und überhaupt: Die 13,84 Grad Celsius Durchschnittstemperatur, die wir im neunten Monat des Jahres als normal erachten, sind das neue Normal – also gemessen am ohnehin schon erhitzten Weltklima im Referenzrahmen 1991 bis 2020. Klar, nicht jeder September ist ein Rekordmonat – das hat mir Karsten Haustein geflüstert, Klimaforscher und Meteorologe an der Uni Leipzig: "Für Monatsrekorde braucht’s am Ende auch immer etwas Glück. Vier Wochen ungewöhnliche Wärme von Monatsmitte zu Monatsmitte bringen zwei unauffällige Monate." Und vier Wochen in einem einzelnen Monat eben einen neuen Rekord. Kalender sind dem Klima halt herzlich egal.
Aber eigentlich war es weniger mein Ansinnen, mit Karsten Haustein über eine wilde Jagd nach Temperaturrekorden zu sprechen als über die These, dass der Herbst verschwindet. Denn wenn im September über 25 Grad und im Oktober über zwanzig Grad die Regel sind, was bleibt da schon noch von der kunterbunt-modrigen Übergangszeit? Karsten Haustein gibt Entwarnung: "Der Herbst wird kommen, aber er verschiebt sich im Durchschnitt nach hinten." Einen Übergang von warm zu kalt, den wird man in den gemäßigten Breiten nicht los und irgendwann müssen sich auch die Bäume ihres Laubs entledigen, nur dass das perspektivisch auch mal trockenbraun statt Neuengland-bunt ausfallen kann, wie eine aktuelle Studie der ETH Zürich bescheinigt. Dafür dauert das jetzt nicht mehr ganz so schöne Farbenspektakel länger an.
Wenn man eine Analyse des Deutschen Wetterdienst zur Hand nimmt, dann beginnt der Herbst eigentlich auch nicht später, sondern früher. Das mag Sie verständlicherweise überraschen, lässt sich aber mit Mutter Natur erklären und ist auch kein Widerspruch. Unverrückbar bleiben der meteorologisch-statistisch Herbstanfang am 1.9. und der kalendarische am 22. oder 23. September. Und dann gibt’s da noch die Phänologie, also das sichtbare Verhalten von Pflanzen (und Tieren) im Laufe des Jahres. Dabei ist Herbst nicht gleich Herbst. Der Frühherbst beginnt per Definition, wenn die Früchte am Hollerbusch erntefertig sind. Im alten Referenzrahmen 1961 bis 1990 war das durchschnittlich am 5. September. Inzwischen sind sie nach Angaben des Deutschen Wetterdienstes früher reif, am 24. August. Das gilt auch für die Früchte der Stieleiche, die jetzt schon am 19.9. statt 26.9. reif werden. Der Spätherbst, der mit der Blattverfärbung der Stieleiche einhergeht, hat sich allerdings um zwei Tage nach hinten verschoben, auf den 17. Oktober. Und so auch der Winter, der phänologisch dann beginnt, wenn die Stieleiche ihre Blätter verliert: Jetzt am 5. November.
Zwei Tage sind wahrlich kein großer Sprung, sie beschreiben aber auch nur die phänologische Verschiebung zwischen der Mitte des alten Referenzrahmens (1976) und der Mitte des neuen Referenzrahmens (2006). Anders sieht es beim Vergleich der für die Jahreszeiten typischen Erwärmung und Abkühlung aus: "Wenn man den Trend bis 2023 extrapoliert, kommt man auf entsprechend größere Verschiebungen." Ein bis zwei Wochen nach hinten, hat Karsten Haustein ausgerechnet. Ob der Herbst nun später oder früher kommt, hängt letztendlich damit zusammen, ob die Phänologie Holunderbeere und Co. zur Spätsommerfrucht umwidmet. Im Grunde alles reine Definitionssache, wie man auch an der Einschätzung von Guy Pe’er sieht, unter anderem Biologe am in Halle, Jena und Leipzig beheimateten deutschen Biodiversitätsforschungszentrum iDiv: "Wir können auch erwarten, dass sich das Vier-Jahreszeiten-System in ein Zwei- oder Drei-Jahreszeiten-System verwandelt, wie es in den Mittelmeerregionen der Fall ist." Dazu passen auch die Beobachtungen des Deutschen Wetterdienstes, dass die Zahl der Nebeltage zurückgeht, dafür gibt's mehr Sonnenschein, vor allem im September.
Wie sich das alles auf die Arten auswirken wird, sei nicht bekannt, sagt Pe’er. Allerdings hätten viele Spezies in Europa eine relativ weite Verbreitung und würden auch in Südeuropa vorkommen und recht anpassungsfähig seien. Manche Insektenarten könnten damit eine weitere Generation hervorbringen, andere nicht. "Der Klimawandel wird wahrscheinlich etwas erzwingen, was man Öko-Evolution nennt – das heißt, dass veränderte Bedingungen einen starken Selektionsdruck ausüben." In diesem Jahr würden wir viel mehr Kleine Kohlweißlinge und Hauhechel-Bläulinge sehen – in Zukunft vielleicht bis zum Oktober oder sogar November. Einzigartige Arten wie der Ameisenbläuling gingen aber schnell zurück – viele würden einen so langen Sommer nicht überleben, sagt Guy Pe’er.
Kurze Schmetterlingspause – mit einem Tier namens Waldbrettspiel von Ende September, den mir Guy Pe’er zugeschickt hat. Dass der Falter noch aktiv ist, ist weitesgehend gewöhnlich – allerdings scheint dieses Exemplar hier frisch geschlüpft zu sein:
Zurück zur Frage, welche Zukunft der Herbst hat. Irgendwie auch reine Gefühlssache, findet Karsten Haustein. "Ein warmer Winter kann sich beispielsweise wie ein ewiger Herbst anfühlen. Ein warmer und trockener April schon wie Frühsommer." Wobei wir beim eigentlichen Sorgenkandidat wären. Die Frage müsste nämlich lauten, was eigentlich vom Winter bleibt. Nicht viel, sagt Karsten Haustein: "Generell nehmen die Frosttage und Frostperioden ab." Dafür würden Tieflandwinter ohne Schnee häufiger werden. Aber Klimawandel bedeutet nicht nur Erderwärmung, sondern auch eine Zunahme von Extremen. Ein bekannter Umstand, auf den sowohl Guy Pe’er als auch Karsten Haustein nochmal ausdrücklich verweisen. Im Herbst der Zukunft geben sich wahrscheinlich ausgeprägt nasse Phasen mit langen Trockenphasen die Klinke in die Hand.
Und so ein herbstlich-frühlingshafter Winter könnte zwar die Regel werden, aber das bedeutet nicht, dass Mitteleuropa vor einer plötzlichen Kältepeitsche aus Norden gefeit ist. Das sei Hausstein zufolge sehr kritisch, "da die Vegetation eher startet, Kaltlufteinbrüche dennoch sehr stark ausfallen können, was zu erheblichen Ertragsausfällen bei verschiedenen Fruchtarten führen kann." Wenn sich ein Sauerkirschbaum also im November oder Januar ob der milden Temperaturen in der Jahreszeit vertut, ist das kein Grund zur vorfrühlingshaften Freude. Zumindest dann nicht, wenn Sie gern Sauerkirschmarmelade auf Ihrer Semmel essen. Haustein: "Bisher hat sich der Frühlingsbeginn circa drei Wochen nach vorn verschoben, mit jedem Zehntelgrad weiterer globaler Erwärmung werden sich diese Zeiträume entsprechend verschieben."
Mit Blick auf die gesamte Jahreszeitenmaschinerie lässt sich also sagen: Die Winter werden kürzer, die Sommer länger. Und die Übergangszeiten, die wird es immer geben, sie sind irgendwo dazwischen, aber sehen vielleicht anders aus als wir sie gewohnt sind. "Zunahme von Schädlingsbefall durch ausbleibende Kälte im Winter, kombiniert mit Hitze- und Trockenstress im Sommer, ist nicht nur für Fichten-Monokulturen ein Zustand, der nicht dauerhaft durchzustehen ist", warnt Karsten Haustein. "Gut durchmischte Auwälder oder Urwälder wären relativ resistent, die gibt es aber kaum." Die Renaturierungs-Bestrebungen der EU sind da sicherlich ein guter Ansatz, aber schon jetzt ist klar, dass der Weg dorthin lang und holprig ist.
Und der Mensch? Wenn der Klimawandel auch dem Oktober noch wonnige Sommertage beschert und sich das so angenehm an den kurzbehosten Beinen anfühlt … ja darf man denn? Vom Klimaforscher gibt’s einen Freifahrtschein: "Natürlich können wir den Spätsommer genießen, der Herbst und Winter wird noch lang und grau genug." Aber: "Man hat eben immer im Hinterkopf, dass dieselbe Wetterlage im Hochsommer ganz andere Konsequenzen hätte. Und irgendwann wird uns eine Hochdrucklage wie jetzt im Hochsommer ereilen – 2003 war das letzte Mal bisher –, was definitiv nichts mehr mit Genuss zu tun haben wird."
🗓 Klima-Termine
Sonnabend, 7.10. – Dessau-Roßlau
Die dramatisch zunehmende Trockenheit in den Elbauen ist Thema des 5. Elbe-Symposiums. Unter dem Titel #ElbAuenland befassen sich Fachleute aus Wissenschaft, Behörden und Umweltorganisationen wie den Herausforderungen der Klimaänderungen an der Elbe begegnet werden kann. Infos und Anmeldung
Sonnabend, 7.10. – Dresden
Der Fuß- und Radentscheid Dresden lädt ein, die Forderungen des geplanten Bürgerbegehrens tanzend auf die Straße zu bringen. Zusammen mit weiteren Initiativen sowie Dresdener Techno-Kollektiven veranstalten sie den ersten Fuß- und Rad-Rave. Ab 13:30 Uhr ist ein Demonstrationszug angemeldet, beginnend am Alaunplatz. Infos
Dienstag, 10.10. – Online
Kommt nach dem Deutschlandticket die Mobilitätsgarantie? Das fragt Agora Energiewende. Im zweiten Teil der Onlinevortragsreihe geht es konkret um die Frage, wie sich eine Grundversorgung im (ländlichen) ÖPNV realisieren lässt. Infos hier
18. bis 22.10. – Online
Umweltbundesamt und Bundesumweltministerium laden in diesem Zeitraum zum Dialog Klimaanpassung. In einer Onlinebefragung geht es um persönliche Erfahrungen, aber auch Ideen, welche Maßnahmen zum Leben mit dem Klimawandel getroffen werden müssen. Hier entlang
📰 Klimaforschung und Menschheit
1,5-Grad-Ziel noch erreichbar …
Zu diesem Schluss kommt die Internationale Energieagentur und verweist auf das mittlerweile erreichte Ausbautempo von Solarenergie und der Etablierung von Elektroautos. Allerdings würden die Klimaziele der Staaten nach wie vor nicht zum 1,5-Grad-Ziel passen. Industrienationen sollten dringlichst anstreben, schon vor 2050 klimaneutral zu werden. Bis 2030 brauche es eine Verdreifachung der Energieerzeugung aus Erneuerbaren. Gleichzeitig war der globale Energiesektor mit 37 Milliarden Tonnen CO2 im vergangenen Jahr so klimaschädlich wie noch nie. Hintergründe beim Tagesspiegel
… aber Fachkräftemangel könnte Erreichen der Klimaziele gefährden
Das ergab eine Untersuchung der Boston Consulting Group. Konkret würden bis 2030 weltweit rund sieben Millionen Fachkräfte fehlen, um Klimaschutzmaßnahmen umzusetzen – davon 400.000 in Deutschland. Der Fachkräftemangel reiche von der Installation von Solarmodulen, technischem Personal zum Betrieb von Windkraftanlagen bis hin zur Forschung und Entwicklung neuer Technologien. Die Folge der Verzögerung sei ein möglicher Temperaturanstieg um 0,1 Grad, meldet der Deutschlandfunk.
Pläne für einen Windpark nähe Tschernobyl
Nach dem Abgang von Frans Timmermanns im August steht seine Nachfolge fest. Mit Wopke Hoekstra wird als EU-Klimakommissar künftig ein niederländischer Landsmann die Klimageschicke auf internationalem Parkett leiten, zum Beispiel beim Weltklimagipfel Ende November in Dubai. Der Christdemokrat konnte in dieser Woche das EU-Parlament überzeugen und gab etwa die Zusage, die EU-Emissionen bis 2040 um neunzig Prozent im Vergleich zu 1990 zu senken. In der Kritik stand vorab seine einstige Tätigkeit für den Ölkonzern Shell und die Unternehmensgruppe McKinsey. Kommissar für den European Green Deal wird der parteilose Slowake Maroš Šefčovič, der bereits jetzt zu den Vizepräsidenten der EU-Kommission gehört. Hintergründe bei der tagesschau
📻 Klima in MDR und ARD
👋 Zum Schluss
Und damit zum Wetter: Herbst hin, Herbst her. Nach der Jahreszeit kurzzeitig angemessenen Temperaturen kommt schon wieder Warmluft aus Südwest nach Deutschland. Die Wettermodelle sind sich noch nicht ganz eins, aber tendenziell bleibt’s bis Mitte Oktober um die zwanzig Grad warm. Danach eventuell Abkühlung.
Jetzt mal unter vier Augen: Wie ist denn Ihre Verdrängungstaktik so, die leider angenehmen Seiten des Klimawandels ohne Gewissensbisse zu genießen? Erzählen Sie's uns – antworten Sie einfach auf diesen Newsletter. Falls Sie das Mistwetter doch zu sehr vermissen: Hier können Sie bei leichtem Regen durchs Herbstlaub spazieren.
Oder basteln Sie einfach Kastanientierchen.
Und passen Sie auf sich und die Welt auf, herzlich
Florian Zinner
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Schreiben Sie uns an klima@mdr.de.