In dieser Fotoillustration wird der Twitter-Account des Präsidenten der Vereinigten Staaten von Amerika, Donald Trump, auf einem Smartphone angezeigt.
Fake-News? Gibt es für den POTUS Donald Trump (auf Twitter als "real" unterwegs) nur bei den anderen. Bildrechte: imago images / ZUMA Wire

Medienforschung Hass, Hetze, Häme: Ist das Internet an allem Schuld?

10. Oktober 2024, 14:20 Uhr

Wir stacheln an, hetzen auf, provozieren, diskreditieren, grenzen aus und stigmatisieren. Egal, ob im Supermarkt der Lieblingsjoghurt alle ist, im Straßenverkehr die Ampel zu lange auf Rot steht oder auf Twitter jemand eine andere Meinung hat: Der Echauffierungsmoment kommt schnell, ist groß – und geht meistens gegen andere. Woran liegt das?

Es gibt Impfgegner oder -befürworter, es gibt Trumphasser oder Trumpanhänger, es gibt Nazis oder links-grüne Gutmenschen. Grautöne gibt es für uns nicht mehr. Da gibt es nur schwarz und weiß, richtig oder falsch. Wer nicht dafür ist, ist dagegen. Und wissen Sie, woran das liegt?

Am Internet! 

Das sagen zumindest Wissenschaftler, die sich mit diesem Thema beschäftigen.
So ein Quatsch, werden sich jetzt einige denken, das ist totaler Unsinn. Und damit sind wir mitten im Thema. Wir beharren auf unsere Meinung. Unser Standpunkt zählt. Menschen mit anderen Ansichten werden - nicht immer, aber immer öfter - beleidigt, ausgelacht, beschimpft.

Digitale Reizüberflutung als Ursache?

Der Leipziger Politikwissenschaftler und Publizist Robert Feustel beobachtet schon länger eine permanente Gereiztheit und Anspannung. Er ist der Meinung, dass soziale, ökonomische, aber vor allem auch mediale Faktoren zu einer Überforderung führen. "Das Internet und die Digitalisierung hat ja Mitte der 1990er-Jahre ein riesiges Versprechen mit sich gebracht: Demokratisierung, andere Verwaltungsstrukturen, viel bessere Kontrollmöglichkeiten. Und wir sehen gerade, dass es so einfach eben nicht ist. Sondern, dass sich ein riesen Abgrund auftut, mit dem wir erst einmal umgehen lernen müssen."

Später beleidigte man sich mit Hilfe von Flugblättern

Dieser Aspekt - mit einem Medium "umgehen lernen müssen" - ist im Grunde so alt wie die Menschheitsgeschichte. Sobald ein Medium neu aufkam - Pergament und Feder, Flugblätter, Buchdruck, Zeitungen, Kino, Radio, TV - wurde das automatisch mit einem Umbruch, mit einem neuen Zeitalter gleichgesetzt. Die Kommunikationsformen zwischen den Menschen änderten sich: Auch damals schon wurde gestritten und gepöbelt. In der Antike wetterte Cicero gegen Mark Anton, im 13. Jahrhundert etablierte sich die Schmäh- oder Streitschrift. Mitte 1500 hat Martin Luther eine gänzliche neue öffentliche Form der Streitkultur entwickelt. Später beleidigte man sich mit Hilfe von Flugblättern. Heute nutzt man Twitter und andere soziale Medien.

Feustel meint: "Der große Unterschied zu anderen Medien ist die Rückkanalfähigkeit. Während Flugblätter einseitig kommunizieren - ich gebe ein Flugblatt raus und der andere kann nur über ein Flugblatt antworten, was aber Vorlauf, also Zeit braucht - habe ich heute eine extreme Schnelllebigkeit von Frage und Antwort."

Stress blockiert das Denken

Zeit zum Nachdenken nehme sich keiner mehr. Wissenschaftlich ist das recht einfach erklärt: Wer unter Zeitdruck entscheidet, steht unter Stress. Und bei Stress werden Cortisol und Noradrenalin ausgeschüttet - und die blockieren das Denken. Also antworten wir intuitiv, aus dem Bauch heraus, emotional. "Emotionalisierung entsteht sehr schnell dadurch, dass heutige Positionen nur noch als respektabel erachtet werden, wenn sie auf Werten, auf ganz starken Werten beruhen", meint der Schweizer Historiker Caspar Hirschi. Er beschäftigt sich hauptsächlich mit Populismus, aber auch mit Digitalisierung und seinen Folgen für die Demokratie. Und unsere demokratische Gesellschaft, die sei auf Grundwerte angewiesen, einen Wertekanonen, der den Umgang der Menschen miteinander regelt.

"Werte wie Gleichheit, Gleichberechtigung oder auch Selbstkontrolle, Souveränität. Das Problem ist, dass Werte als nicht teilbar erscheinen. Das heißt, wenn jemand diese Werte nicht teilt, ist man moralisch gleich verloren oder auf der falschen Seite." Und deswegen benehmen wir uns im virtuellen wie realen Raum nicht mehr zivilisiert miteinander? "Ja, da ist schon eine neue Aufmerksamkeitslogik entstanden. Je radikaler die Position, desto mehr Aufmerksamkeit erhält sie", so Hirschi.

Für jedes Argument gibt es Dutzend Gegenargumente

Und hier kommt wirklich wieder das Internet ins Spiel. Wir müssen uns die Zustimmung des Gegenübers nicht mehr durch Argumente oder Debatten erarbeiten. In dem großen, global vernetzten System von Foren oder sozialen Netzwerken findet sich immer eine Gruppe von Menschen, die die gleichen Ansichten vertreten. Zustimmung frei Haus - mit nur einem Klick.

Desinfektionsmittel gegen Corona trinken? Klar. Warum nicht. Klimawandel? Wo denn? Hat doch erst geregnet die Tage.

Für jedes Argument gibt es Dutzende Gegenargumente. Aber im Gegensatz zu früher sind alle mit einer anderen Meinung plötzlich die Spinner. Tempolimit 120? Freiheitsberaubung! Oma ist ne Umweltsau? Unverschämtheit! Corona-Virus? Ablenkung zur Gründung einer Dikatatur. Alle empören sich über alles und jeden, es schlägt um in Hass und Hetze findet auch Caspar Hirschi. "Ich glaube, dass Internet hat dem einfach einen viel größeren Raum gegeben. Solche Empörungswellen können im Internet viel schneller zustande kommen, es überschlägt sich, und die möglichst sachliche Debatte, auch der Versuch zu verstehen, was da eigentlich abgeht, der ist dann viel viel schwieriger."

Wahrnehmung der Wirklichkeit: Ein Schauermärchen?

Schwierig scheint aber noch ein weiterer Umstand: Obwohl oft sehr vehement auf dem eigenen Standpunkt beharrt wird, scheint die Vielfältigkeit anderer Ansichten trotzdem zu verunsichern. Wie viele andere Wirklichkeiten außer unserer eigenen gibt es denn da draußen? "Es ist nicht alles falsch, was im virtuellen Raum auf uns trifft. Andererseits ist es  in Zeiten des Internets noch viel stärker der Fall, dass eine virtuell wahrnehmbare Problemkonstellation für uns als Wirklichkeit rüber kommt. Eine Wahrnehmung von Wirklichkeit wird kognitiv nur noch über den virtuellen Raum abgebildet. Und das ist natürlich ein Schauermärchen", so der Leipziger Feustel.

Wir lernen seit 20 Jahren permanenten Egoismus, der auf allen Kanälen gespielt wird, der zur Maxime auserkoren wurde, das hat natürlich Folgen.

Robert Feustel

Durch die viele Zeit, die wir im Internet zubringen, mit Emails, Chats, Twitter, Facebook, fällt es uns schwer zu unterscheiden: Was ist real? Was ist virtuell? Das, was wir im Internet lesen, empfinden wir als Realität. Und diese virtuellen Schauermärchen befördern ohnehin bestehende, diffuse Ängste. Denn Angst ist quasi zum Symbol unserer Zeit geworden. Angst vor der Klimakatastrophe. Angst vor den Folgen einer Pandemie. Vor Jobverlust, Wohnungsverlust. Und diese Angst führt zu einer ständigen Anspannung. Also suchen wir nach Informationen, die diese Angst bestätigen. Der kurze Moment des "Ha, hab ichs doch gewusst" befriedigt uns, gibt uns einen Augenblick der Ruhe – um danach wieder in Unruhe umzuschlagen. Ein Teufelskreis.

Evolutionär zu Kooperation bereit

Doch ist das Internet wirklich daran schuld, dass wir nur noch absolut in unserem Denken und Handeln sind? Kann das Internet wirklich dafür herhalten, zu erklären, woher der Hass, der fehlende Wille zu Kompromissen oder zum Zuhören kommt?

"Wir lernen seit 20 Jahren permanenten Egoismus, der auf allen Kanälen gespielt wird, der zur Maxime auserkoren wurde, das hat natürlich Folgen. Dass die Idee von Sozialität, Solidarität, von Gemeinschaftlichkeit, kaum noch eine Rolle spielt. Dass eine gewisse Anspannung unter allen möglichen Leuten zu beobachten ist, die schnell dazu führt, dass sich Leute angehen in Situationen, in denen sie eigentlich kooperieren könnten", so Feustel. Dabei liegt uns Kooperation in den Genen. Evolutionär betrachtet, haben wir Menschen es nur durch Kooperation und Anpassung an ein bestehendes System erst so weit gebracht. Und zwar zusammen. Wieso sind wir denn nun plötzlich so gegeneinander?

Überall ist Unruhe und Unordnung

Ein Straßenschild mit der Aufschrift "Neuland" vor einem bergigen Hintergrund
Angela Merkel sprach 2013 vom Internet als "Neuland". Bildrechte: Colourbox.de

Robert Feustel will und kann keine Antwort geben. Er hat auch keinen abschließenden Ratschlag, was man tun könnte. Ähnlich wie der Schweizer Historiker Caspar Hirschi. Sie nähern sich der Problematik durch Fragen: Was können wir tun, um wieder normal miteinander umzugehen? Oder ist das Normalität und wir haben es nur noch nicht verinnerlicht? In einem Punkt sind sich beide einig: Überall ist Unruhe, Unordnung. Erst in den kommenden Jahren wird sich zeigen, wie wir mit dem "Neuland Internet" und seinen Folgen auf Kommunikation und Gesellschaft zurecht kommen werden.

Über dieses Thema berichtet der MDR auch im TV: Ländermagazin | Hass im Netz | 01. April 2020 | 10:59 Uhr

404 Not Found

Not Found

The requested URL /api/v1/talk/includes/html/182f7610-3e2e-4d4d-bb22-cb3ed7fdcbd0 was not found on this server.