Kohleausstieg und Strukturwandel Klima-Revier oder Astro-Lausitz? Zwei neue Großforschungszentren in Mitteldeutschland bald real

27. Februar 2022, 12:00 Uhr

Endspurt zum Anfang des Strukturwandels in Sachsen und Sachsen-Anhalt: Im Mitteldeutschen Revier und in der Lausitz soll je ein neues Großforschungszentrum von internationalem Rang entstehen. Sechs Finalisten sind gerade in der Konzeptionsphase. Die Entscheidung wird im Sommer fallen und direkt danach kann es losgehen. Doch es gibt auch Kritik.

Der mitteldeutsche Kohleausstieg ist längst besiegelt, die Fördermilliönchen liegen auf dem Tisch. Und wollen sinnbringend investiert werden. In neue S-Bahn-Linien, in Bildung im Großen und Kleinen, in den Tourismus. Eben das, was den Strukturwandel gelingen lässt und nach Zukunft schreit. Warum also nicht auch jenes fördern, was naturgemäß schon Zukünftiges in der Mache hat – die Wissenschaft. Gleich zwei neue Großforschungszentren sind angedacht und sollen die Forschungslandschaft hi – in der Lausitz – und da – im Mitteldeutschen Revier – beglücken. Und vielleicht sogar umkrempeln.

Wir erinnern uns: Das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF), der Freistaat Sachsen und das Land Sachsen-Anhalt hat unter dem etwas generisch-sperrigen Schlachtruf "Wissen schafft Perspektiven für die Region!" einen Ideenwettbewerb um zwei Großforschungszentren in den Braunkohlerevieren in Sachsen und Sachsen-Anhalt gestartet. Ein potenzieller Kandidat – das Deutsche Zentrum für Astrophysik (DZA) – rührt in diesen Tagen schon mal kräftig die Werbetrommel.

Einstein-Teleskop unter Lausitzer Granit

Zumindest für einen Teil des Projektes: Ein Gravitations-Teleskop, das auf den Namen Einstein hört. "Die Idee ist, dass man von allen Geräuschen der Oberfläche total abgeschottet ist und dass dieser Granit eben total leise ist", sagt der Astrophysiker Günther Hasinger, Wissenschaftsdirektor bei der Europäischen Weltraumbehörde Esa in Madrid, im MDR-Sachsenspiegel. Das DZA ist seine Idee, mit Probebohrungen im Lausitzer Granitgestein soll jetzt schon mal die Lage gecheckt werden, ob es im Berg wirklich so ruhig ist, wie vermutet. Denn das ist die Grundvoraussetzungen, um weit entfernte Explosionsschwingungen aus dem Weltall registrieren zu können.

Es ist merklich Endspurt im Ideenwettbewerb. Vorschläge von Forschenden und Forschungsteams gab's reichlich, die bis Ende April 2021 eingericht wurden – knapp hundert Stück. Sechs davon haben es in die Endauswahl geschafft. Die Skizzeneinreicher stammen vor allem aus Dresden und Leipzig, aber auch Ideen aus Freiberg, Potsdam und – wie bereits erwähnt – Madrid sind dabei. Ach ja: Hinter allen Ideen stehen Männer.

Diversität unter den Konzeptköpfen scheint angesichts Sven Grundmanns Liste an Kritik am Auswahlverfahren allerdings eher ein Randproblem zu sein. Der Politik- und Sozialwissenschaftler von der Uni Erlangen-Nürnberg findet im Debatten- und Meinungsmagazin The European viele Gründe, warum der noch unter Ex-Bildungsministerin Karliczek (CDU) initiierte Wettbewerb um die Großforschungszentren in seiner Umsetzung mangelhaft sei. So sei die für die Auswahl verantwortliche Perspektivkommission eine "illustre Runde honoriger Persönlichkeiten", die zwar große Leistungen vollbracht hätten, jedoch kaum qualifiziert wären, technologiepolitische, wissenschaftspolitische und ökonomische Weichen zu stellen. Der Auswahlprozess werde wissenschaftlichen Standards nicht gerecht.

Kritik: Kaum Mehrwert, keine regionale Vertretung in Auswahlkommission

Noch viel fragwürdiger sei die tatsächlich getroffene Auswahl an potenziellen Forschungseinrichtungen. Einige der Forschungsvorhaben finden entweder in Deutschland bereits auf ähnliche Art und Weise statt oder würden sich eher dazu eignen, in bereits bestehende Einrichtungen eingegliedert zu werden. So könnte der Ansatz von CLAIRE (s.u.) an das mitteldeutsche Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung angeschlossen werden. Auch der Mehrwert des DZA wäre seiner Auffassung nach gering, da Deutschland mit Blick auf die Publikationstätigkeit bereits hervorragend aufgestellt sei. Ein Anknüpfen an die wirtschaftliche Tradition des Silicon Saxony und Vertreterinnen und Vertreter in der Auswahlkommission aus den betroffenen Regionen selbst vermisst Grundmann.

Stand jetzt läuft allerdings die Konzeptförderphase der sechs ausgewählten Finalisten, noch bis April ist Zeit, die Gesamtkonzepte einzureichen. Noch mal zum Überblick:

Umwelt

CTC (Mitteldeutsches Revier) Das Centre for Transformation Chemistry (CTC) möchte eine nachhaltige Kreislaufwirtschaft chemischer Erzeugnisse etablieren. Resilienz bezeichnet Widerstandsfähigkeit nach dem Stehaufmännchen-Prinzip. Um eine Zukunft für die chemische Industrie sicherzustellen, soll eine nachhaltige Kreislaufökonomie etabliert werden. Dazu zählen nachwachsende Rohstoffe, kurze Transportwege und lokale Produktionsprozesse. ChemResilienz befindet sich nach eigenen Angaben seit November 2021 in der Konzeptionsphase.

CLAIRE (Mitteldeutsches Revier) Der Name klingt schon mal nach einer längst etablierten Forschungsanstalt: Centre for Climate Action and Innovation – Research and Engineering. Das Zentrum möchte unser Wissen und Daten über das Klima bündeln, woraus dann eine Art digitaler Zwilling von Ökosystemen geschaffen werden soll. Von Datenräumen in ganz neuen Dimensionen ist die Rede, mit denen Handlungsoptionen für den Klimaschutz entwickeln werden sollen. Der Fokus liegt dabei auf Landwirtschaft, Wasser, urbaner Planung, Energie, Gesundheit und Mobilität.

Weltraumforschung

DZA (Lausitz) Auch das Deutsche Zentrum für Astrophysik klingt so, als bestünde es längst. Und auch hier möchte man sich dem Datensammeln und -verarbeiten im neuen großen Stil widmen: Es geht um die riesigen Datenströme künftiger Großteleskope, mit denen wir versuchen, uns einen Überblick über das Rest-Weltall zu verschaffen. Außerdem sollen Regelungstechniken für Observatorien entwickelt werden, zudem besteht die Option, in den Lausitzer Granitformationen ein Gravitationsteleskop zu errichten.

ERIS (Lausitz) ERIS steht für European Research Institut for Space Resources und möchte etwas tun, dass nun so richtig nach Zukunft klingt: Die Grundlagenforschung zur Errichtung von Weltraumstationen auf Mond und Mars. Dabei sollen auch Lösungsansätze für gesellschaftlich relevante Herausforderungen auf der Erde entwickelt werden. ERIS soll einen Beitrag leisten, Ressourcen im Weltraum und auf der Erde sicherer, effektiver und umweltschonender zu nutzen. Im vergangenen September kamen Forschende aus Deutschland und Österreich bei der federführenden TU Bergakademie Freiberg zusammen, um einen Fahrplan für die Konzeptentwicklung zu erarbeiten.

Medizin

CMI (Mitteldeutsches Revier) Digitale und individuelle Medizin – das ist der Fokus beim Center for Medicine Innovation. Die Vision ist ein Zentrum der biomedizinischen Forschung und personalisierten Medizin, in dem Versorgungs- und Wertschöpfungsketten zu einem Ökosystem vereint werden, wodurch die Integration neuer Produkte in Versorgungsstrukturen erleichtert und beschleunigt wird.

Architektur

LAB (Lausitz) Keine Fast-Food-Architektur zur Symptombekämpfung der Wohnungsnot, sondern ein echter Paradigmenwechsel, das ist das Ziel vom Lausitz Art of Building. Dem enormen Ressourcenverbrauch im Bauwesen soll durch effiziente und klimaneutrale Werkstoffe sowie modulare, flexible Bauwerke entgegnet werden. Das LAB soll Materialforschung, Produktionstechnologien und Digitaltechnologien voranbringen. Am 9. März wird zu einem digitalen Get-Together eingeladen.

Und wie geht's weiter?

Im zweiten Quartal 2022 erfolgt eine externe Begutachtung der Gesamtkonzepte. Ein Konzept pro Region wird das Rennen machen. Wer das ist, erfahren wir Mitte des Jahres. Mit der Gründung und dem Aufbau der Forschungseinrichtungen kann dann bereits im dritten Quartal 2022 begonnen werden. Zumindest dann, wenn es sich die neue Bildungs- und Forschungsministerin Bettina Stark-Watzinger (FDP) nicht noch mal anders überlegt.

flo

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