Interview zur Fußball-WM Was bringen Boykotte?
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12. November 2022, 10:00 Uhr
Nur noch wenige Tage bis zur Fußball-Weltmeisterschaft in Katar – und die kritischen Stimmen werden nicht leiser, im Gegenteil. Mehr als die Hälfte der Deutschen wollen die Spiele nicht anschauen, sagt der neueste Deutschland-Trend. Viele Sportkneipen werden die Spiele nicht zeigen, Fußballfans haben zum Boykott aufgerufen, ebenso wie Vertreter von Lesben- und Schwulenverbänden. Doch was würde das eigentlich was bringen? Im Interview blickt der Sportsoziologe Prof. Dr. Henk Erik Meier auf vergangene Boykotte und ordnet die Wirksamkeit der Protestform ein.
Welche Beispiele gibt es in der Geschichte für den Boykott von Sportveranstaltungen?
Es gab in der Geschichte des internationalen Sports eine ganze Reihe von Boykotten von Großsportereignissen, von denen die allermeisten inzwischen der Vergessenheit anheimgefallen sind. Die Tatsache, dass diese Boykotte kaum Eingang in das kollektive Gedächtnis gefunden haben, deutet bereits ihre begrenzte Wirksamkeit an. Kaum jemand erinnert sich an den Boykott der Olympischen Spiele in Melbourne von 1956 durch sechs Nationen. Drei westeuropäische Länder missbilligten mit diesem Schritt die sowjetische Unterdrückung des ungarischen Volksaufstandes, während drei arabische Länder gegen die Besetzung des Suez-Kanals durch Großbritannien, Frankreich und Israel protestierten. Die Entscheidung von 22 afrikanischen Staaten, die Spiele von Montreal im Jahr 1976 zu boykottieren, zielte darauf ab, das IOC zum Ausschluss von Neuseeland zu zwingen, das seine sportlichen Beziehungen zum Apartheid-Regime in Südafrika aufrechterhalten hatte. Tatsächlich scheinen nur die "großen Boykotte" in Erinnerung geblieben zu sein, d.h. der Boykott der Olympischen Sommerspiele in Moskau 1980 durch die Vereinigten Staaten und einige ihrer Alliierten, der sich gegen die sowjetische Intervention in Afghanistan richtete, sowie der "Vergeltungsboykott" der Spiele von Los Angeles im Jahr 1984 durch die Sowjetunion und ihre Verbündeten.
Welche Wirkung konnte bisherige Boykotte im Zusammenhang mit Sportveranstaltungen entfalten?
Generell gilt, dass sportliche Boykotte im politischen Werkzeugkasten nur eine schwache symbolische Option darstellen, die genutzt wird, wenn härtere Instrumente wie ökonomische Sanktionen oder gar militärisches Eingreifen nicht eingesetzt werden können oder sollen. Boykottunterstützer überschätzen zumeist die politische Bedeutung des Sports und unterschätzen die Fähigkeit der Ausrichterstaaten zur Gegenpropaganda. Im Hinblick auf die primär verfolgten Ziele der Boykotte können daher keine Wirkungen festgestellt werden, bestenfalls erreichen Boykotte symbolische Triumphe. Dies gilt für alle erwähnten Boykotte.
Auch nach dem Boykott der Spiele von 1956 verblieb Ungarn unter sowjetischer Herrschaft, die Suezkrise wurde nicht durch den Boykott, sondern durch die klare Missbilligung der Vereinigten Staaten beendet. Das IOC reagierte auf die Boykottdrohung der afrikanischen Staaten 1976 nicht mit einer Sanktion gegen Neuseeland. Das IOC hatte Südafrika bereits 1964 von der Teilnahme an den Olympischen Spielen ausgeschlossen und zog sich auf Standpunkt zurück, dass sich der fragliche Vorfall im nicht-olympischen Cricket ereignet hatte. Der Boykott hatte insoweit hohe symbolische Bedeutung, als die boykottierenden afrikanischen Nationen geschlossen ihrer Forderung nach einer sportpolitischen Isolierung Südafrikas Nachdruck verliehen. Das Apartheid-Regime versuchte in der Folge, durch begrenzte Aufweichung der Rassentrennung im sportlichen Bereich diese Isolation aufzubrechen, scheiterte damit allerdings weitgehend. Für das Ende des Apartheid-Regimes dürften wirtschaftliche Gründe ausschlaggebend gewesen sein.
Der Boykott der Moskauer Spiele 1980 hielt die Sowjetunion nicht davon ab, ihr afghanisches Abenteuer bis zum bitteren Ende fortzusetzen. Ebenso konnte der unpopuläre US-Präsident Jimmy Carter seine Wahlniederlage nicht verhindern. Der Vergeltungsboykott 1984 dürfte – nicht zuletzt auf Grund der Unpopularität der kommunistischen Sportler im Westen – schließlich eher die Wiederwahl des erklärten kalten Kriegers Ronald Reagan befördert haben.
Zudem können Boykotte auch nicht-intendierte Folgen haben. Die beiden großen Olympischen Boykotte führten auch zu Rissen in den jeweiligen politischen Blöcken: Nicht alle westlichen Staaten folgten 1980 den USA, 1984 entschloss sich Rumänien, eine Delegation nach Los Angeles zu senden, was dort zu frenetischen Begrüßungen führte. Der 1980er Boykott dürfte auch ein wesentlicher Anstoß für die Kommerzialisierung der Olympischen Spiele gewesen sein. Ein westlicher Boykott der WM in Katar könnte auch zu einer weiteren Schwächung der europäischen Position im internationalen Fußball führen.
Was unterscheidet den politischen, den sportlichen und den Zuschauerboykott? Welche Form ist am effektivsten?
Ein politischer Boykott bezeichnet zumeist die Nichtteilnahme an diplomatischen Empfängen im Kontext von Großsportereignissen. Ein solcher Boykott ermöglicht der politischen Klasse, ihr Gesicht zu wahren, und wird sicherlich als diplomatischer Affront wahrgenommen, entfaltet aber wenig Sichtbarkeit.
Der sportliche Boykott wird wohl gemeinhin als der eigentliche Boykott wahrgenommen und bezieht sich auf die Weigerung, überhaupt anzutreten, d.h. Mannschaften, Athletinnen und Athleten zu entsenden.
Ein Zuschauer- oder Konsumentenboykott liegt dann vor, wenn Zuschauerinnen und Zuschauer sich entschließen, ein Ereignis nicht zu verfolgen. Es ist durchaus denkbar, dass ein solcher Boykott der Fifa noch einmal signalisieren würde, dass sie ihre Vergabepolitik und die effektive Durchsetzung von Menschenrechtsstandards überdenken sollte. Die bisherigen Zuschauerboykotte etwa im hochpolitisieren U.S.-Sport haben aber bisher nur begrenzte Wirkungen entfaltet.
Was spricht für einen Boykott der WM in Katar?
Der Umstand, dass beim Bau der Stadien eine erhebliche Anzahl von Gastarbeitern tödlich verunglückt ist, lastet schwer auf dem Ereignis. Weder die inhumanen Arbeitsbedingungen noch die fehlende Absicherung von Verunglückten sind mit westlichen Vorstellungen von Menschenrechten vereinbar. Insoweit sind die Boykottforderungen absolut verständlich.
Was spricht dagegen?
Für die Teilnahme sprechen neben sportlichen und sportpolitischen Erwägungen auch geopolitische Argumente. Katar ist von erheblicher strategischer Bedeutung und hat sich in der Region als weitgehend verlässlicher Partner des Westens erwiesen und u.a. seine Unterstützung radikal-islamistischer Gruppen deutlich reduziert. Darüber hinaus gilt, dass gesellschaftlicher Wandel ein lang andauernder Prozess ist, der von außen nur in begrenztem Umfang angestoßen werden kann. Im Hinblick auf die Gastarbeiterfrage sei die deutsche Öffentlichkeit daran erinnert, dass die erste Generation von Gastarbeitern in der Bundesrepublik nicht immer sehr human behandelt worden ist. Günter Wallraffs Klassiker "Ganz unten" gibt davon beredtes Zeugnis.
Wie wahrscheinlich ist es, dass ein Boykott des Turniers etwas an der Lage in Katar oder der Situation innerhalb der Fifa ändert?
Für mich ist relativ unwahrscheinlich, dass ein Boykott zur Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse in Katar, insbesondere der Beschäftigungsbedingen für Gastarbeiter, beitragen würde. Zunächst ist festzuhalten, dass das öffentliche Interesse an lokalen Missständen im Westen typischerweise sehr schnell abebbt. Wer spricht heute schon noch über den Darfur-Konflikt, die Marginalisierung der armen Bevölkerung und die Korruption in Brasilien oder die Diskriminierung der Uiguren in China? Die öffentliche Aufmerksamkeit im Westen ist wenig nachhaltig und wandert bereitwillig zum nächsten Thema. Aus westlicher Sicht sollte auch notiert werden, dass sich der Asiatische Fußballverband dafür entschieden hat, den AFC Asian Cup 2023 in Katar stattfinden zu lassen. Westliche Debatten scheinen dort kaum auf Resonanz zu treffen.
Innerhalb der Fifa haben die öffentlichen Diskussionen dagegen durchaus Wirkung gezeigt. Der Vergabeprozess ist transparenter gestaltet worden und Menschenrechtsstandards werden in künftigen Vergabeverfahren mit hoher Sicherheit eine größere Rolle spielen, da die Fifa ein weiteres PR-Desaster vermeiden wollen wird. Die Korruption in der Fifa ist darüber hinaus sicherlich am wirksamsten durch das Vorgehen der amerikanischen Ermittlungsbehörden unter Druck geraten.
Untergräbt ein Boykott nicht möglicherweise auch die sportliche Leistung, die eigentlich im Mittelpunkt solcher Veranstaltungen stehen sollte?
Boykotte nehmen immer in Kauf, die Anstrengungen und Opfer von Athletinnen und Athleten zu entwerten. Leistungssportlerinnen und Leistungssportler haben nur ein enges biographisches Fenster zur Verfügung, um Höchstleistungen zu erbringen, und müssen sich in der Regel Jahre dafür vorbereiten. Auch für die boykottierenden Nationen sind Boykotte mit erheblichen Verlusten verbunden. Ein Boykott bedeutet den Verzicht, sich auf der internationalen Bühne zu präsentieren, und den Verlust erheblicher sportpolitischer Investitionen in Kauf zu nehmen. Darüber hinaus wird der sportliche Wettbewerb verzerrt, weil ggf. die Besten nicht gegeneinander antreten können. Die Erfahrung hat gezeigt, dass Boykotte dazu führen, dass die letztlich teilnehmenden Nationen die Großsportereignisse dank unerwarteter sportlicher Erfolge in guter Erinnerung behalten. Schließlich wird der Sport in politischer und wirtschaftlicher Hinsicht in Mitleidenschaft gezogen. Bei aller berechtigten Kritik an der Kommerzialisierung von Großsportereignissen darf nicht vergessen werden, dass die Fifa die Einnahmen wesentlich dazu nutzt, Sportentwicklungshilfe zu leisten.
Gibt es Protestformen, die wirksamer sind als ein Boykott?
Aus sportpolitischer Perspektive bestehen die größten Aussichten, die Politik eines Ausrichtergeberlandes zu beeinflussen, vor den Großsportereignissen. Die Sportverbände haben während des Bewerbungsprozesses und nach der Vergabe, d.h. bei der Umsetzung des Vorhabens, durchaus effektive Möglichkeiten, Einfluss auf die nationale Politik zu nehmen. Die Sportverbände müssen daher darauf verpflichtet werden, die Vergabe von Großsportereignissen an die strikte Einhaltung von Menschenrechtsstandards zu knüpfen und die Durchsetzung dieser Standards auch effektiv zu überwachen.
Zur Person Henk Erik Meier ist seit 2012 Professor für "Sozialwissenschaften des Sports" an der Wilhelms-Universität in Münster. In seiner Arbeit beschäftigt er sich neben den soziologischen Aspekten des Sports, unter anderem auch mit Sportpolitik.
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Das Interview führte Max Beuthner
Dieses Thema im Programm: MDR FERNSEHEN | MDR AKTUELL | 14. November 2022 | 21:45 Uhr