Infantile Amnesie Früher als gedacht: Mit zweieinhalb Jahren beginnen unsere Erinnerungen
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19. Juni 2021, 12:54 Uhr
Was ist Ihre früheste Kindheitserinnerung? Und wie alt waren Sie da genau? Bisher dachte man, dass die Grenze für früheste Erinnerungen zwischen drei und vier Jahren liege – an alles, was davor passiert ist, können wir uns nicht erinnern. Infantile Amnesie nennen Fachleute das. Studienergebnisse aus Kanada zeigen jetzt allerdings: Die Grenze muss neu gezogen werden. Wir können uns offenbar bis zu einem Alter von etwa zweieinhalb Jahren zurückerinnern.
Das ist wohl weit früher als die meisten Menschen spontan vermuten würden: Wir können uns tatsächlich an die Zeit erinnern, in der wir gerade einmal zweieinhalb Jahre alt waren – zumindest im Durchschnitt.
Daten aus über 20 Jahren Forschung
Das ist das Ergebnis jahrelanger Forschung: Die kanadische Psychologie-Professorin Carole Peterson forscht seit mehr als 20 Jahren am Phänomen der sogenannten Infantilen Amnesie. Für ihre aktuelle Publikation hat sie die Daten ihrer Untersuchungen in einer Überblicksarbeit analysiert. Dafür hat sie Daten von rund 1.000 Menschen und rund 3.000 Erinnerungen einbezogen. Die Studie ist im Fachmagazin Memory publiziert worden.
Bisher nahm die Forschung an, dass die früheste Kindheitserinnerung etwa bei dreieinhalb Jahren liegt, doch diese Grenze muss offenbar um ein Jahr nach vorn verschoben werden. Allerdings, so erläutert Peterson, ist unsere früheste Erinnerung meist kein statisches Ereignis. "Sie ist eher ein bewegliches Ziel als eine einzelne Erinnerung", erklärt die Expertin von der Memorial University of Newfoundland.
Das, was viele Menschen angeben, wenn sie nach ihrer frühesten Erinnerung gefragt werden, ist also keine Grenze oder ein Wendepunkt, vor dem es keine Erinnerungen gibt. Vielmehr scheint es einen Pool potenzieller Erinnerungen zu geben, aus dem sowohl Erwachsene als auch Kinder Ausschnitte entnehmen können.
Und sie glaubt, ergänzt Peterson, dass sich die Menschen zwar an vieles ab dem zweiten Lebensjahr erinnern, aber gar nicht wissen, dass sie das tun.
Begleitetes Erinnern
Zu dieser Überzeugung sei sie aus zwei Gründen gelangt. Zum einen zeige ihre jahrelange Erfahrung, dass es sehr einfach sei, Menschen dazu zu bringen, sich an frühere Erinnerungen zu erinnern. Dazu müsse man sie einfach nur nach ihrer frühesten Erinnerung fragen – und dann noch ein paar mal nachhaken, ob es da nicht doch noch etwas gibt. "Dann rufen sie noch frühere Erinnerungen auf – manchmal bis zu einem ganzen Jahr früher", sagt Peterson. Es sei wie das Ansaugen bei einer Pumpe: Sobald die Befragten einmal anfangen, geht es wie von selbst weiter.
Es ist wie ein Hinweis: Eine Erinnerung, die früher war, weist auf eine andere hin, die wieder früher war.
Mit der Hilfe der Forschenden können sich also viele Menschen wirklich weiter zurück erinnern. Etwas, das besonders gut funktioniere, sei eine sogenannte Gedächtnisübungsaufgabe. Dabei bitten sie die Probandinnen und Probanden in einer bestimmten Zeit so viele Erinnerungen wie möglich abzurufen. Mithilfe solcher Methoden können Menschen also auf weitere Erinnerungen in ihrem abgespeicherten "Erinnerungspool" zugreifen, erläutert Psychologin Peterson.
Und danach, wenn sie Probanden fragten, was deren früheste Erinnerung ist, stellen diese fest, dass ihre früheste Erinnerung normalerweise ein ganzes Jahr früher liegt als das, was sie ursprünglich angegeben hatten. "Und wenn man sie danach nach ihrer frühesten Erinnerung fragt, dann liegt die meist etwa ein Jahr früher als das, was sie als allererstes genannt hatten", so Peterson.
Systematische Verzerrungen
Der zweite Grund, den die Psychologin anführt, ist, dass unser Gehirn unsere frühen Erinnerungen offenbar systematisch falsch datiert. "Immer wieder stellen wir fest, dass die Leute denken, sie seien älter, als sie in ihren frühen Erinnerungen tatsächlich waren." Peterson konnte diesen Effekt in ihren Arbeiten dokumentieren: In zehn Studien hat sie zunächst Menschen nach ihren frühesten Erinnerungen befragt und anschließend mithilfe ihrer Eltern überprüft, wann das Ereignis tatsächlich stattgefunden hat.
In einer anderen Studie, die sie für die aktuelle Untersuchung analysiert hat, sind Kinder nach ihrer frühesten Erinnerung befragt worden – und zwar zwei Mal. Bei der ersten Befragung waren sie im Vorschulalter und die Erinnerung lag im Schnitt zwei Jahre zurück. Acht Jahre später wurden die Kinder dann erneut befragt. Sie konnten sich zwar noch immer korrekt erinnern, aber: "Acht Jahre später glaubten viele, ein ganzes Jahr älter gewesen zu sein", so Peterson. Sie führt das auf einen Effekt zurück, der in der Forschung "Teleskopieren" genannt wird.
Wenn man sich Dinge ansieht, die vor langer Zeit passiert sind, ist es, als würde man durch eine Linse schauen. Je weiter eine Erinnerung entfernt ist, desto näher sieht man sie durch den Teleskopeffekt.
Deshalb verschieben die Menschen ihre früheste Erinnerung um ein Jahr auf das Alter von etwa dreieinhalb Jahren, erläutert die Psychologin. "Aber wir haben festgestellt, dass das nicht passiert, wenn sich das Kind oder der Erwachsene an Ereignisse ab dem Alter von vier Jahren erinnert."
Individuelle Unteschiede
Peterson betont, dass die Studie valide darlege, dass die Grenze der Infantilen Amnesie bei zweieinhalb Jahren liege. "Wenn man sich eine Studie ansieht, werden die Dinge manchmal nicht klar, aber wenn man anfängt, eine Studie nach der anderen zusammenzustellen und alle zu den gleichen Schlussfolgerungen kommen, wird es ziemlich überzeugend", sagt die Forscherin.
Allerdings seien die zweieinhalb Jahre ein Durchschnitt. Das heißt, wir können uns tatsächlich nicht alle an Ereignisse in diesem Alter erinnern. Andere Menschen wiederum erinnern Dinge, die noch früher passiert sind, so Peterson.
Es gibt individuelle Unterschiede, wobei sich manche Menschen weiter zurück erinnern können als andere.
(kie)
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